Thema
Klang und Krach

Text
Hannah El-Hitami

Illustration
Carsten Güth

Die Beweisaufnahme

Die Organisation Earshot nutzt akustische Beweise, um Verbrechen aufzuklären: den Schuss einer Pistole, das Sirren von Drohnen. Sie wollen Fälle lösen, in denen Menschenrechte verletzt werden – und in denen der Staat selbst der Täter ist.

Nahel Merzouk wird an einem sonnigen Morgen im Juni 2023 erschossen. Mitten im Berufsverkehr im Pariser Vorort Nanterre richtet ein Polizeibeamter seine Waffe auf den 17-Jährigen, der mit zwei Freunden in einem gelben Mercedes unterwegs ist, und tötet ihn aus nächster Nähe. Passant:innen haben den Vorfall gefilmt. Ein Video zeigt, wie zwei Polizisten sich durch das Fenster zum Fahrer hineinlehnen. Als Merzouk plötzlich Gas gibt, ertönt ein Schuss. Der Wagen fährt noch ein Stück weiter, dann prallt er gegen ein Hindernis und kommt zum Stehen. Um viertel nach neun ist Merzouk tot.

In dem animierten Titelbild dieser Geschichte, hörst du den Schuss, den ein Polizist im Juni 2023 auf den französischen Jugendlichen Nahel Merzouk abfeuerte. Die Organisation Earshot versucht nun, mithilfe von Handyaufnahmen wie dieser zu klären: Schoss der Beamte, um sich zu verteidigen? Oder war es Mord?

Der tödliche Schuss auf den französischen Jugendlichen marokkanisch-algerischer Abstammung löste in Frankreich heftige Proteste aus. Vielen galt er als Symptom eines rassistischen Systems, das mit übermäßiger Härte gegen Jugendliche mit Migrationshintergrund vorgeht. Die Vereinten Nationen warfen der französischen Polizei strukturellen Rassismus vor.

Dass ein Polizeibeamter einen unbewaffneten Minderjährigen getötet hat, steht außer Frage. Doch warum der Polizist schoss, zeigen die Bilder nicht. War es Selbstverteidigung, wie der Beamte im Nachhinein behauptete? Oder war es Mord, Ausdruck rassistischer Polizeigewalt? Die Antwort könnte in einer fünf Sekunden langen Tonaufnahme liegen, die den Wortwechsel zwischen Polizist und Opfer unmittelbar vor der Tat enthält.

»Die ganze Debatte drehte sich um diesen Abschnitt hier, der unverständlich bleibt«, sagt Lawrence Abu Hamdan und deutet auf ein paar verschwommene orangene Flecken auf dem Bildschirm seines Laptops. Sie erinnern an die Scheinwerfer von Autos in der Dunkelheit. Die Flecken sind Teil eines Spektrogramms, einer bildlichen Darstellung von Tonfrequenzen. Dort, wo die Flecken dichter werden, sagt jemand etwas. Doch wer? Und was? Das sei aufgrund der schlechten Audioqualität der Handyvideos zunächst nicht nachvollziehbar gewesen, sagt Abu Hamdan.

Lawrence Abu Hamdan, 39, bezeichnet sich selbst als »private ear«, eine abgewandelte Version des englischen Begriffs »private eye« für Privatdetektiv. Denn: In seinen Ermittlungen geht er akustischen Beweisen nach. Vor etwa einem Jahr hat er die Organisation Earshot gegründet. Die Tötung von Nahel Merzouk war der erste Fall des dreiköpfigen Teams. Abu Hamdan und seine Kolleg:innen nutzten spezielle Software, um die entscheidenden Sekunden der Aufnahme digital aufzubessern und zu analysieren. Was sie dabei entdeckten, könnte zur Aufklärung der Tat beitragen.

Das Team von Earshot (von links): Lawrence Abu Hamdan, der Earshot gegründet hat, mit seinen Kolleg:innen Caline Matar und Fabio Claudio Cervi.

Anfang April trifft sich das Team von Earshot in London. Abu Hamdan trägt ein braun-blaues Holzfällerhemd und eine Brille mit dickem Rahmen. Von dem Jugendlichen, der in einer Punk-Band spielte, mag optisch wenig übriggeblieben sein, doch die Leidenschaft für Klang und das politische Bewusstsein aus dieser Zeit begleiten ihn bis heute.

Die Arbeit von Earshot baut auf den Methoden der forensischen Linguistik auf, einer Disziplin, die sich mit Sprache im Kontext kriminalistischer Ermittlungsverfahren beschäftigt. Doch während forensische Linguist:innen klassischerweise im Auftrag staatlicher Strafverfolgungsbehörden arbeiten, hat sich Earshot der Ermittlung von Menschenrechtsverletzungen verschrieben, bei denen der Staat selbst zum Täter wird.

»In der Menschenrechtsarbeit werden akustische Beweise gegenüber visuellen noch als minderwertig wahrgenommen«, sagt Abu Hamdan. Es gebe einfach keinerlei Expertise dafür, das akustische Material einzuordnen. Ohne Earshot würde diese Lücke weiterhin bestehen. »Es gibt sonst niemanden, der diese Arbeit macht.« Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt sich der britisch-libanesische Forscher und Künstler mit akustischen Recherchen. Er hat dazu promoviert, mit Organisationen wie Amnesty International zusammengearbeitet und Recherchen in internationalen Medien veröffentlicht. Auch in Kunstausstellungen hat er seine Ergebnisse präsentiert und dafür 2019 den Turner Prize erhalten.

Normalerweise arbeiten Abu Hamdan und sein Team in einem Büro im Südosten von London. Weil dort gerade die Stromleitungen repariert werden, sitzt Abu Hamdan heute in der Wohnung seiner Schwester am nördlichen Rand des Hyde Park. Zusammen mit seinem Kollegen Fabio Claudio Cervi hat er sich an einem großen Holztisch im Wohnzimmer eingerichtet. Sie haben ihren sogenannten »Super-Computer« und ein Mikrofon aufgebaut, auf dem Tisch liegen Soundkarten, die an den PC angeschlossen werden können, ein rosa Skizzenbuch, Kopfhörer und Speicherkarten, dazwischen das letzte Quadrat einer Tafel Schokolade. Cervi arbeitet gerade an einem Langzeitprojekt von Earshot:  einem Computerspiel, in dem es um Lärmbelästigung geht. Während er programmiert, beantworten er und Abu Hamdan die Fragen eines Journalisten der Washington Post, in deren Auftrag sie eine akustische Recherche gemacht haben.

»French hörte sich teilweise drei Tage lang eine einzige Silbe an« Abu Hamdan

Die Welt der Audio-Ermittlungen betrat Abu Hamdan 2009 nach einem Treffen mit dem forensischen Linguisten Peter French, der an Tausenden polizeilichen Ermittlungen beteiligt war. 1984 mussten im Vereinigten Königreich Polizeiverhöre erstmals aufgenommen werden. Plötzlich wurde in Gerichtssälen darüber diskutiert, was genau ein Angeklagter gemeint hatte, anstatt einfach dem schriftlichen Polizeiprotokoll zu glauben. »French hörte sich teilweise drei Tage lang eine einzige Silbe an,« erzählt Abu Hamdan. »Seine Aufmerksamkeit für linguistische Details war bahnbrechend.«

French untersuchte beispielsweise, ob ein Angeklagter vor Gericht etwas anderes behauptete als im Polizeiverhör oder ob sein starker Dialekt für Missverständnisse sorgte. Später wurden er und seine Kolleg:innen beauftragt, jenseits von wörtlichen Aussagen zu ermitteln. Sie hörten sich etwa die Geräuschkulissen im Hintergrund von Notrufen an, um Informationen über den Tatort zu sammeln. »So erweiterten die Linguist:innen ihre Hörhorizonte, um nicht nur menschliche Stimmen zu analysieren, sondern auch die Stimmen von Körpern, Architektur, Munition und Infrastruktur«, schrieb Abu Hamdan in seiner Doktorarbeit.

Auch die Arbeit von Earshot geht über die Analyse von Sprache hinaus. Unter anderem hat Fabio Claudio Cervi ein Tool zur Untersuchung von Schüssen entwickelt, die zum Beispiel durch Handykameras aufgenommen wurden. Der »Supersonische Kompass« analysiert zwei Dinge: die Druckwelle eines Geschosses, das durch die Luft fliegt, und die Explosion an der Mündung des Gewehrs, wenn der Abzug gedrückt wird. »Unser Tool simuliert die Bewegung des Geschosses und verrät mithilfe der Position der aufnehmenden Kamera den Standpunkt der schießenden Person«, erklärt Cervi. Damit lassen sich die Aussagen von Augen- und Ohrenzeug:innen untermauern. Außerdem prüfen Abu Hamdan, Cervi und ihre Kollegin Caline Matar regelmäßig, ob Tonaufnahmen gefälscht sind. Dafür lauschen sie zum Beispiel elektromagnetischen Störgeräuschen, die im Hintergrund von Aufnahmen zu hören sind. »Wir arbeiten mit dem Überschuss: Die Geräusche, die das Gehirn normalerweise ausblendet, hören wir uns an.« In einem Korruptionsfall konnte Earshot feststellen, dass geleakte Aufnahmen von Regierungsbeamten authentisch waren. »Die Störgeräusche waren durch die ganze Aufnahme hindurch gleichbleibend«, erklärt Abu Hamdan. Kein Abschnitt sei im Nachhinein entfernt oder hinzugefügt worden.

Es klingelt auf Cervis Bildschirm: Die italienische Organisation Liminal ruft an, weil sie herausfinden will, welchen Drohnen und anderen Flugkörpern Migrant:innen bei der Überquerung des Mittelmeers begegnet sind. Abu Hamdan erklärt ihnen, wie man Ohrenzeug:innen richtig befragt: nicht zu viel vorgeben, sondern selbst erinnern lassen. Verschiedene Geräusche zum Vergleich anbieten.

Die Analyse von Drohnen-Geräuschen gehört zum Alltag von Earshot. In Kriegsgebieten wie der Ukraine oder Gaza ist das hohe Summen der Motoren omnipräsent. Ende des Jahres 2023 analysierte Earshot gemeinsam mit Amnesty International die Geräusche einer israelischen Drohne. Sie war in einer Videoaufnahme von Journalist:innen zu hören, die im Süden des Libanons von einem israelischen Panzergeschoss getroffen wurden. Der Reuters-Reporter Issam Abdallah wurde getötet, sechs weitere Journalist:innen verletzt.

Earshot arbeitet mit Sounds, die sonst kaum wahrgenommen werden: Störgeräusche oder Drohnensirren beispielsweise. Aber auch die Richtung, aus der Geräusche kommen, kann Hinweise liefern – zum Beispiel auf die Herkunft von Artilleriegeschossen. In diesem Video erklärt das Team von Earshot, wie es mithilfe von Soundaufnahmen laufender Kameras herausfinden konnte, dass ein Angriff auf Journalist:innen im Südlibanon 2023 von Israel ausging..

Die Kameras der angegriffenen Journalist:innen zeichneten außerdem minutenlanges Drohnensirren vor der Explosion auf. Durch das An- und Abschwellen des Geräuschs kann Earshot die Bewegung dieser Drohne rekonstruieren. So stellte das Team fest, dass die israelische Drohne in den 23 Minuten vor dem Angriff elfmal  die Position der Journalist:innen aus der Luft umkreiste. Israel muss demnach gewusst haben, dass es sich bei den Menschen am Boden um Pressevertreter:innen handelt.

Abu Hamdan schaltet das Drohnengeräusch auf seinem PC an: ein penetrantes Sirren, Vorbote des Todes und akustischer Inbegriff automatisierter Kriegsführung. »Die Wellenbewegung der Frequenz sagt uns etwas über die Bewegung dieser Drohne«, erklärt Abu Hamdan. Der Ton wird tiefer, wenn die Drohne sich entfernt. Er wird höher und lauter, wenn sie sich nähert. Weil ihr Motor an der Hinterseite sitzt, ist die Drohne am lautesten in dem Moment, in dem sie sich abwendet und wegfliegt. »Anhand von Lautstärke und Frequenz haben wir verstanden, dass die Drohne vor dem Angriff 43 Minuten lang über den Journalist:innen kreiste.« In dieser Zeit konnten die Angreifer:innen genügend Informationen sammeln, um zu wissen, dass sie nicht auf militärische Ziele, sondern auf die Presse schießen.

Die Fälle, denen Earshot nachgeht, könnten von den zuständigen Staaten einfacher ermittelt werden. Die Strafverfolgungsbehörden hätten die Möglichkeit, zuzugreifen: zum Beispiel auf das Video, das die Drohnen-Kamera aufgezeichnet hat oder auf die Bodycams von Polizist:innen, die getötet oder verletzt haben. Die Arbeit von Earshot aber fängt dort an, wo der Staat die Ermittlungen einstellt, manipuliert oder verschleppt – oder wo die Sorge besteht, dass das passieren könnte.

Abu Hamdan schaltet das Drohnengeräusch auf seinem PC an: ein penetrantes Sirren, Vorbote des Todes und akustischer Inbegriff automatisierter Kriegsführung.

Wie im Fall von Nahel Merzouk, den der Polizist in Paris mit einer Kugel in die Brust tötete. Die Ermittlungen gegen den Beamten laufen zwar noch, doch seit November 2023 ist er auf freiem Fuß. Statistiken zeigen, dass Verfahren gegen Polizist:innen viel öfter eingestellt werden als gegen andere Tatverdächtige. Es sind Fälle wie diese, bei denen Abu Hamdan und seine Kolleg:innen genau hinhören. »Wenn unsere Beweismittel es auch nicht in den Gerichtssaal schaffen, so können wir zumindest Druck ausüben, indem wir für die Ergebnisse unserer Ermittlungen eintreten und sie der Öffentlichkeit bewusst machen.«

Nachdem das Earshot-Team die Audiospur der Videos vom Tatort bearbeitet hatte, wurde deutlich, was vor dem Schuss gesagt wurde: »Coupe«, die französische Aufforderung, den Motor abzustellen. Und »Pousse-toi«, umgangssprachlich für: »Aus dem Weg«. Kontext und Jargon könnten nahelegen, dass der Jugendliche Merzouk »Aus dem Weg!« rief, um dann aufs Gas zu treten, zu flüchten – und aus der Sicht des Polizisten eine Gefahr darzustellen. Das behaupteten zunächst auch französische Medien.

Earshot aber fand heraus: Die beiden Aussagen müssen von derselben Stimme stammen. Dass es der Polizist war, der »Coupe« sagte, zeigt ein zweites Handyvideo vom Tatort. Dass er auch »Pousse-toi« sagte, wird dadurch klar, dass die Frequenzen beider Aussagen übereinstimmen. »Wenn die Stimme aus dem Inneren des Autos käme, von der Wand reflektiert würde und dann auf das Handymikrofon träfe, müsste sie auf dem Spektrum ganz anders aussehen als die Stimme außerhalb des Autos.«

Earshot hat die Audiospur eines der Handyvideos bearbeitet, das den Polizisten im Kontakt mit Nahel Merzouk zeigt. So kann das Team analysieren, was genau gesagt wurde – und von wem. Es wird deutlich, dass es der Polizist war, der »Pousse-toi!« rief, umgangssprachlich für »Aus dem Weg!«. So kam Earshot zu einer Theorie: Was, wenn der Polizist damit seinen Kollegen anwies, zur Seite zu treten – weil er vorhatte, zu schießen?

Earshot erhebt mit seinen Analysen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder absolute Wahrheit. »Wir sprechen immer nur über Wahrscheinlichkeiten«, so Abu Hamdan. »Und wir machen transparent, wie wir zu unseren Ergebnissen kommen.« Eine Ermittlung wie die zu Merzouk kann keinen Fall lösen, aber sie kann entscheidende Fragen aufwerfen.

Zum Beispiel diese: Warum sagte der Polizist »Aus dem Weg« zu einem Jugendlichen, dem er gerade befohlen hatte, den Motor abzustellen, während er eine Pistole auf ihn richtete? Abu Hamdan hat eine Theorie: »Wenn der Polizist die Aufforderung nicht an Merzouk, sondern an seinen Kollegen richtete – ›Aus dem Weg, weil ich gleich schieße‹ – dann hat Nahel in dem Moment verstanden, was passieren wird, und ist losgefahren, um sein Leben zu retten.«

Zu seinem Beifahrer soll Merzouk noch gesagt haben: »Er ist verrückt, er hat auf mich geschossen.« Dann starb er.

Erschienen am 5. September 2024

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