Egoismus, der gesund macht
Eine neue Studie zeigt: Ein Infekt kann unser Mitgefühl dämpfen. Dass wir erschöpft und mit Kopfschmerzen nicht die besten Seelsorger:innen sind, scheint offensichtlich. Doch Forschende vermuten dahinter etwas anderes: eine gezielte Strategie.
Wenn wir erkältet sind, dröhnt der Kopf und die Nase läuft. Aber auch unser Verhalten ändert sich: Wir sind mürrisch, essen wenig und haben keine Lust auf nichts – das kennen wir wohl alle, es ist ätzend. Wenn dann auch noch die Nachbarin im Hausflur anfängt, über ihren stressigen Alltag zu jammern, reagieren wir vielleicht nicht ganz so verständnisvoll, wie wir es unter normalen Umständen tun würden.
Unter dem Stichwort Sickness Behaviour erforschen Wissenschaftler:innen seit Ende der 1980er-Jahre unser Verhalten, wenn unser Körper gegen eine Infektion kämpft – Appetitverlust etwa, Müdigkeit, schlechte Laune. Forschende der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Duisburg-Essen haben sich nun gefragt: Beeinflusst eine Infektion auch unsere Empathie – also unsere Fähigkeit, die Gefühle eines Gegenübers zu verstehen und mitzufühlen? Ihre Ergebnisse haben sie im Juli 2024 im Fachjournal Brain, Behaviour, and Immunity publiziert.
»Unsere Tests haben gezeigt, dass Frauen, die eine Infektion haben, weniger Empathie für seelischen Schmerz Fremder zeigen als diejenigen, die keine Infektion haben«, sagt Vera Flasbeck, Neurobiologin und Erstautorin der Studie. Da Empathie bei Männern möglicherweise anders funktioniert, haben sich die Forschenden für ihr Experiment darauf festgelegt, nur Frauen zu untersuchen: An der Studie nahmen 52 Probandinnen im Alter von 18 bis 40 Jahren teil.
Die Forschenden rekrutierten daher gesunde Personen und gaukelten ihrem Immunsystem eine Infektion vor – indem sie den Probandinnen Lipopolysaccharide verabreichten.
Wie aber erforscht man das Verhalten von kränkelnden Menschen? Eine Infektion veranlasst die meisten Personen wohl eher dazu, sich im Schlafzimmer zu verkriechen und Serien zu gucken, anstatt an Studien teilzunehmen. Die Forschenden rekrutierten daher gesunde Personen und gaukelten ihrem Immunsystem eine Infektion vor – indem sie den Probandinnen Lipopolysaccharide verabreichten.
Lipopolysaccharide (LPS) sind chemische Verbindungen, die unter anderem in den Zellwänden bestimmter Bakterien vorkommen. Injiziert man einem Menschen LPS solcher gramnegativer Bakterien, reagiert das Immunsystem, weil es eine bakterielle Infektion vermutet: Das Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet, die Entzündungswerte steigen an, man fühlt sich krank. Nach zirka drei Stunden erkennt das Immunsystem, dass es sich bei den LPS nicht wirklich um eine bakterielle Infektion handelt – und beendet den Kampf allmählich. Auch wenn das Krankheitsgefühl vielleicht unangenehm sein mag: Für gesunde Proband:innen ist die Gabe von LPS ungefährlich.
»Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Testpersonen auf LPS reagierten«, sagt Vera Flasbeck. Zwar konnte man bei allen Probandinnen, die LPS bekamen, erhöhte Entzündungs- und Cortisolwerte messen. Doch nur etwa die Hälfte von ihnen bemerkte Krankheitssymptome in Zusammenhang mit der Injektion. »Das ist wie bei einer Impfung, wenn das Immunsystem einmal angeschnipst wird: Manche reagieren heftig, andere merken gar nichts«, erklärt die Neurobiologin. Neben den Probandinnen, die LPS erhielten, gab es noch eine Kontrollgruppe. Die Frauen in dieser Gruppe bekamen eine Kochsalzlösung verabreicht, also ein Placebo, und hatten deshalb ebenfalls keine Krankheitssymptome.
»Wir wollten schauen, wie die Probandinnen mit LPS gegenüber denen mit Placebo im Empathietest reagieren«, sagt Flasbeck. »Dazu haben wir ihnen Bilder einer fremden Frau in verschiedenen Situationen gezeigt. Einmal erlebte die Frau auf dem Foto körperlichen Schmerz, einmal psychischen Schmerz, einmal befand sie sich in einer neutralen Situation.«
»Ein Grund könnte sein, dass man nicht die Kapazität hat, sich um die seelischen Probleme anderer zu kümmern, wenn der Körper gerade einen Infekt bekämpft«
Beim Betrachten der Bilder sollten die Probandinnen auf einer Skala von 1 bis 9 angeben, wie stark sie den Schmerz der auf den Bildern gezeigten Frau einschätzten. Diesen Test, den Social Interaction Empathy Task, hatte Flasbeck im Rahmen ihrer Promotion entwickelt, um Empathie bei Menschen mit psychiatrischen Störungen zu untersuchen. Die statistische Auswertung der Angaben zeigte: Die neutralen Situationen beurteilten alle Probandinnen gleich; auch den körperlichen Schmerz schätzten die Frauen mit und ohne künstlichen Infekt ähnlich ein. Beim psychischen Schmerz aber klaffte eine Lücke zwischen den Personen mit Placebo und denen mit LPS: Die LPS-Probandinnen zeigten signifikant weniger Empathie.
»Ein Grund könnte sein, dass man nicht die Kapazität hat, sich um die seelischen Probleme anderer zu kümmern, wenn der Körper gerade einen Infekt bekämpft«, sagt Flasbeck. Wenn wir an das Beispiel mit der Nachbarin denken, die uns im Hausflur volljammert, während uns die Glieder schmerzen und der Kopf pocht, dann klingt das logisch. Doch in der Studie waren es gar nicht die Krankheitssymptome, die ausschlaggebend waren für die verringerte Empathie bei seelischen Schmerzen. Auch jene Frauen, die erhöhte Entzündungswerte hatten, ohne sich dabei krank zu fühlen, zeigten weniger Mitgefühl in Situationen von seelischem Schmerz.
Die Forschung zu Sickness Behaviour fragte in den vergangenen Jahren immer wieder: Sind diese Phänomene eine Auswirkung dessen, dass ein infektiöser Körper einfach schwächer und sensibler ist – und bestimmte Abläufe nicht mehr so gut funktionieren? Oder sind sie eine gezielte Strategie des Körpers, um zu priorisieren, was gerade am wichtigsten ist – nämlich den Erreger zu bekämpfen?
»Körperlicher Schmerz könnte für den geschwächten Organismus noch relevant sein, zum Beispiel im Rahmen einer weiteren Infektion. Um sich davor zu schützen, ist er dafür sensibler.«
Die Ergebnisse des Teams um Vera Flasbeck lassen auf Letzteres schließen. »Empathisch auf die psychischen Schmerzen anderer zu reagieren, würde zu viele eigene Ressourcen verbrauchen«, sagt Flasbeck. Der Körper priorisiert und die seelischen Schmerzen Fremder stehen dabei an letzter Stelle. Dass Probandinnen mit Infekt weiterhin empathisch auf die körperlichen Schmerzen anderer Frauen reagierten, ist für das Team um Flasbeck Teil dieser Strategie: »Körperlicher Schmerz könnte für den geschwächten Organismus noch relevant sein, zum Beispiel im Rahmen einer weiteren Infektion. Um sich davor zu schützen, ist er dafür sensibler.«
Vielleicht sind die ätzenden Begleiterscheinungen eines Infekts also gar nicht so ätzend, wie wir immer dachten. Damit sorgt der Körper möglicherweise dafür, dass er den unerwünschten Eindringling in Ruhe bekämpfen kann: Wir haben keinen Appetit, damit unser Organismus sich nicht mit der Verdauung beschäftigen muss. Wir sind müde – und damit gezwungen, dem Körper die Erholung zu geben, die er braucht. Und wir haben nicht ganz so viel Verständnis für die Probleme der gestressten Nachbarin wie sonst. Da hilft eben doch nur eins: sich im Bett verkriechen und Serien gucken.
Erschienen am 16. August 2024
Newsletter
Jeden Monat ein Thema. Unseren Newsletter kannst du hier kostenfrei abonnieren: