Unsere Autorin ist in den Bergen aufgewachsen. Sie hat nie verstanden, was Menschen ans Meer zieht. Bis sie per Schiff von New York nach Halifax reiste.

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Lissi Pörnbacher ist Redakteurin beim Science Notes Magazin.

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Janik Söllner ist freier Illustrator.
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Unter mir der Atlantik. Das Flugzeug wackelt. Hinter mir weint ein Kind. Der Mensch ist nicht geschaffen dafür, durch die Luft zu fliegen, denke ich an diesem Freitag, 13. April 2018. Ich beobachte die Flugbegleiterinnen, die angenehm ruhig bleiben. Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken an vier weitere Stunden Flug und an acht Tage auf dem Wasser. An Bord eines Expeditionskreuzfahrtschiffs werde ich von New York nach Halifax reisen. Für die Reiseredaktion einer großen deutschen Tageszeitung soll ich über das Land, über die Annehmlichkeiten auf dem Schiff, über die Erlebnisse schreiben.

Zwei Nächte später liege ich flach auf dem Bett in meiner Kabine und versuche, die Bewegungen des Schiffs unter mir zu ignorieren. Mein Magen zieht sich zusammen. Es fühlt sich an, als würde der Lachs, den ich zu Abend gegessen habe, wieder lebendig und versuchte, gegen den Sturm anzuschwimmen. Der Mensch ist nicht geschaffen dafür, auf Wasser zu fahren, denke ich. Freunde hatten mich zu meiner Schiffsreise beglückwünscht: Wow, das wird bestimmt super, sagten sie. Wow, das wird bestimmt super, dachte ich. Vor allem, weil ich auf einem Expeditionsschiff reise. Das ist kleiner, stabiler und wendiger ist als die großen Luxusliner, damit es auch kleinere Häfen ansteuern kann. Jetzt allerdings ist das kein Vorteil. Ein großes Schiff würde die hohen Wellen schlucken, das kleine bewegt sich mit ihnen mit. Ich wünschte, ich wäre zu Hause in den Bergen. Da, wo ich hingehöre.

50 Prozent der Touristen weltweit reisen in Küstenregionen

Laut einem Bericht der Ozeankonferenz der Vereinten Nationen von 2017 reisen knapp 50 Prozent der Touristen weltweit in Küstenregionen. Martin Lohmann ist wissenschaftlicher Berater der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen, die jedes Jahr das Reiseverhalten der deutschen Bevölkerung untersucht, er sagt: »Im Jahr 2018 haben die Deutschen 70 Millionen Reisen unternommen. Davon gingen 36,8 Prozent in den Mittelmeerraum, 16,4 Prozent ans nördliche Meer. In die Alpen und ins deutsche Mittelgebirge reisten rund 13 Prozent.« Ein Vergleich mit den Zahlen von vor 20 Jahren zeigt, dass immer mehr Menschen ans Meer fahren.

Am Strand von Jesolo liegt fast gleich viel Dreck wie Sand.

Als ich noch ein Kind war und im September die Schule losging, erzählten meine Klassenkameraden immer von ihren Sommerferien in Jesolo. Sie zeigten mir Muscheln, die sie mitgebracht hatten, und freuten sich schon auf die nächste Reise dahin – im nächsten Jahr. Dabei ist Jesolo nur 15 Kilometer Strand, an dem fast gleich viel Dreck wie Sand liegt. Die Gebäude am Ufer der Adria sehen eher nach Plattenbauten als nach Urlaub aus. Und dennoch besuchen jedes Jahr rund 5,6 Millionen Touristen den Ort.

Als Kind war ich genau einmal am Meer. Ich erinnere mich daran, wie heiß der Sand war und dass ich kaum darauf laufen konnte. Und ich weiß noch, dass ich drei Croissants gegessen habe – und wie sehr ich mich nach einem Tag am Meer gefreut habe, wieder zu Hause in den Bergen zu sein. Ich habe mich oft gefragt: Wieso treibt es jährlich Millionen von Menschen an überfüllte Strände? Woher kommt dieses Verlangen, an der Küste zu stehen und aufs Meer zu schauen? Nun suche ich nach Antworten – in Museen, dicken Büchern, bei Philosophen, in Gesprächen mit Psychologen und in einem Interview mit dem »tiefsten Mann der Welt«.

Auf dem Atlantik

Wenn ich an das Meer denke, dann sehe ich Die große Welle vor Kanagawa vor mir, ein Farbholzschnitt des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai. Auf dem Bild sind drei braune Holzboote zu sehen. Menschen liegen darauf, sie halten sich fest. Die Boote wirken wie ein Spielball jenes weiß schäumenden Ungetüms, das den Großteil des Bildes einnimmt: die Welle. Sie macht deutlich, wie klein und ohnmächtig der Mensch gegenüber dem Meer ist, wie viel Gewalt im Wasser steckt.

Schon als ich New York verlasse an Bord des kleinen Expeditionsschiffes, muss ich daran denken. Klar, im Vergleich zu Kanagawas Monster sind die Wellen mickrig. Dennoch hält mich das ständige Vorwärts, Hinauf, Hinab, Vorwärts, Hinauf, Hinab die ganze Nacht wach. Ich sehe die Kabine, in der sich nichts bewegt. Ich fühle das Stampfen des Schiffes und erwarte, dass sich dieses Gefühl in meinem Sichtfeld wiederspiegelt. Erwartung und Sinneseindruck passen nicht zusammen. Mein Körper schüttet Stresshormone aus, unter anderem Histamin. Zu viel Histamin führt zu einer vermehrten Produktion von Magensäure. Mir wird übel.

Auch kleine Wellen haben große Auswirkungen

Ich schaue aus dem Kabinenfenster und versuche, den Horizont zu fixieren, um dem Durcheinander meiner Sinne entgegenzuwirken. Außerdem trage ich Akupressur-Armbänder, zwei Stück für 15,75 Euro, weil die Apothekerin in Deutschland mir dazu geraten hatte. Sie hatte den Text abgespult, der auch auf der Verpackung steht: »Akupressur-Bänder werden an beiden Handgelenken getragen und stimulieren durch leichten Druck einen Akupressur-Punkt auf der Innenseite der Unterarme. Das beruhigt Magen und Darm.« Sie hatte gesagt, Tabletten würden einen umhauen, denn Antihistaminika machen müde. Ich verfluche sie.

Das Schiff stampft und der Magen rebelliert.

Irgendwann weicht das Schwarz der Nacht einem dunklen Grau. Ich versuche aufzustehen, überlege es mir dann nochmal anders. Mein leerer Magen zwingt mich schließlich zur Ärztin auf Deck zwei. Ich schwanke. Die Ärztin sagt, ich solle auf Alkohol und Fisch verzichten, auch auf warme Getränke. Sie gibt mir eine Tablette. Ich schwanke zurück zu meiner Kabine und lege mich hin. Ich brauche zu viel Kraft, meine Augen offen zu halten, also schließe ich sie.

Wegen des Sturms kommt das Schiff nur langsam voran. Der Halt in Newport, Rhode Island, fällt aus. Ich schlafe, als wir an der Strandpromenade der Stadt vorbeifahren. Mehr als 50 Jahre zuvor hielt US-Präsident John F. Kennedy hier eine Lobrede auf das Meer. Vor den Zuschauern und den Regattaseglern des America’s Cup sagte er: »Wir sind mit dem Meer verbunden. Wenn wir zu ihm zurückgehen, sei es zum Segeln oder zum Beobachten, dann gehen wir dorthin, wo wir einst herkamen.«

Die Ursache aller Dinge

Bereits 600 vor Christus suchten griechische Philosophen nach der Ursache aller Dinge. Sie glaubten, es müsse eine Substanz geben, woraus alles andere entsteht. So schreibt es Aristoteles in seiner Metaphysik rund 250 Jahre später. Von den ältesten Philosophen selbst gibt es keine schriftlichen Überlieferungen. Darum lese ich bei Aristoteles weiter. Er schreibt, Thales von Milet bezeichnete das Wasser als das Prinzip aller Dinge, als Ursubstanz. »Den Anlass zu dieser Ansicht bot ihm wohl die Beobachtung, dass die Nahrung aller Wesen feucht ist, dass die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt; woraus aber jegliches wird, das ist das Prinzip von allem«, so steht es bei Aristoteles.

Und bereits vor Thales haben die Griechen Okeanos und Tethys als Urheber der Weltentstehung angesehen: den Gott des großen, die Welt umspannenden Stromes und seine Frau, die Mutter von Flüssen, Wolken und Wassernymphen und Göttin des Meeres.

Ich stecke fest

In der zweiten Nacht auf hoher See haben sich die Götter des Meeres beruhigt. Nur noch kleine Wellen schwappen die Bordwand hoch. Dennoch bin ich erleichtert, als ich am Tag danach endlich wieder auf festem Boden stehe. Eigentlich sind es 50 Stockwerke über dem Boden. Vom Prudential Center aus versuche ich, einen Überblick über Boston zu bekommen. Ich sehe in Rechtecken angeordnete Häuser, Straßen, die in nur eine Richtung zu führen scheinen, das Meer, das seine Bedrohlichkeit verloren hat. Wenn ich unten am Meer stehe, sehe ich nur Weite.

Am Tag danach bietet der Blick aus dem Kabinenfenster das gleiche Bild wie am Tag zuvor. Das kleine Expeditionsschiff trägt den gleichen Namen wie das Schiff des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen: Fram – norwegisch für »vorwärts«. Und wie sein Vorbild steckt es fest, als wolle es das Gegenteil seines Namens beweisen.

In der Panoramalounge der Fram steht Kapitän Ole Johan Andreassen und erklärt, warum. Auf seiner Stirn sind Schweißperlen, er sucht nach den richtigen englischen Worten. Es gebe ein elektronisches Problem mit einem der beiden Steuerbordpropeller, die das Schiff positionieren. Er sagt, man könnte auch mit einem fahren. Seine Stimme wird lauter: Aus Sicherheitsgründen aber bleibt die Fram im Bostoner Hafen.

Zum Entspannen verdammt

Den Passagieren fällt es schwer, ruhig zu bleiben. Obwohl das Schiff eigentlich alles dafür bieten sollte: Die 67 Lächeln starke norwegisch-philippinische Crew veranstaltet einen Tanzabend, es gibt Cocktails, Buffet morgens, Buffet mittags, Buffet abends, einen Musikquiz-Abend, Vorträge über einheimische Vögel und Fridtjof Nansen, einen Fitnessraum, einen kleinen Wellnessbereich.

Im Wasser richtet sich der Blick nach innen.

Wer eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff bezahlt, kauft eigentlich ein Gefühl – ganz egal, ob er an der Reling der Fram steht oder eine Kabine auf dem 362 Meter langen Ozeanriesen Harmony of the Seas bezieht. »Das gewünschte Gefühl beruht auf einer Mischung aus Entspannung und Stimulation, stressfreiem Relaxen in Kombination mit einem touristischen Rahmenprogramm, das es in sich hat, kompromisslosem Service und Bevormundung, die unter dem Begriff ›verwöhnen‹ läuft«, so beschreibt es der Autor David Foster Wallace in seinem Buch Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich. Für ihn ist das Schiff ein Ort, an dem man dazu verdammt ist, nichts zu tun und jegliche Entscheidung an das Bordpersonal abzugeben.

Für mich ist es ein Ort, an dem ich mich nicht bewegen muss und sich trotzdem laufend die Aussicht ändert. Vielleicht werden Kreuzfahrten auch deshalb immer beliebter. Die Zahlen, die die Branchenorganisation Cruise Lines International Association (CLIA) erhoben hat, zeigen: Während im Jahr 1990 rund 3,8 Millionen Passagiere an einer Kreuzfahrt teilnahmen, waren es 25 Jahre später 23,19 Millionen. Kreuzfahrten machen trotzdem nur einen Anteil von rund zwei Prozent aller Reisen aus.

Bis ins 19. Jahrhundert war das Meer selbst kein Ziel von Touristen, schreibt der deutsche Tourismusforscher Albrecht Steinecke in seinem Buch Kreuzfahrttourismus. Ab dem 18. Jahrhundert zog es sie zwar an Strände und Küsten, sie genossen die beruhigende Wirkung des Meeresrauschens, sie badeten im Salzwasser und in England entstanden erste Seebäder, sogenannte Seaside Resorts. Das Meer allerdings war Transportweg für Waren und Personen, kein Ort für eine Vergnügungsreise. Besonders viele Schiffe waren zwischen New York und Europa unterwegs – allerdings vor allem im Sommer. Die Reedereibetreiber überlegten, wie sie die Schiffe auch in der Nebensaison auslasten konnten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden erste Kreuzfahrten angeboten, schon bald nach dem Konzept, das ihnen auch heute zugrunde liegt: als Pauschalreisen. Steinecke schreibt: »Im Jahr 1872 organisierte Thomas Cook eine Weltreise an Bord eines Passagierschiffes, die 220 Tage dauerte. Für dieses Erlebnis mussten die zwölf Teilnehmer einen exorbitant hohen Preis entrichten, der über dem damaligen durchschnittlichen Jahreseinkommen der Briten lag.«

Eine durchschnittliche Kreuzfahrt kostet 1.702,40 Dollar pro Person. Ticket, Verpflegung, Exkursionen und Sorgenfreiheit inklusive.

Laut der Webseite Cruise Market Watch, die Statistiken rund um Kreuzfahrten veröffentlicht, liegt der Durchschnittspreis einer Kreuzfahrt heute bei 212,80 Dollar pro Person und Tag. Bei einer durchschnittlichen Reisedauer von acht Tagen wären das 1.702,40 Dollar pro Person pro Kreuzfahrt. Ticket, Verpflegung, Exkursionen und Sorgenfreiheit inklusive.

Nun ja: Tag drei und das Schiff hat sich immer noch nicht bewegt. Die Gäste werden ungeduldig, ihre Stimmen laut: Wann geht es weiter? Warum ist das Problem noch nicht gelöst? Schaffen wir es rechtzeitig nach Halifax? Der Kapitän sagt: »Ein Spezialist aus Norwegen ist an Bord. Am Abend werden wir Boston verlassen.«

Er wird Recht behalten. Ich verbringe meinen letzten Tag in Boston im Isabella Stewart Gardener Museum. Dort lässt mich ein Bild der indischen Künstlerin Bharti Kher nicht los. Ich sehe einen Ausschnitt aus der Weltkarte: Nordafrika, Kroatien, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, ein Teil des Atlantiks, das Mittelmeer. Die Länder schimmern rötlich, die Grenzen sind dunkelrot eingezeichnet. Oberhalb der Karte steht in Schreibschrift: »When you bleed in deep water your blood looks green.« Wenn du in tiefen Gewässern blutest, sieht dein Blut grün aus. Das Mittelmeer besteht aus lauter grünen Punkten.

800 Fuss unter dem Meeresspiegel

Wasser ist Gefahr. Und dennoch gibt es Menschen, die sich in seine Tiefen begeben, nur in einem Taucheranzug, ohne Sauerstoffflasche. Einer von ihnen ist der Österreicher Herbert Nitsch. Nitsch trägt viele Namen: Er nannte sich »The Flying Fish«, weil er 15 Jahre lang als Flugkapitän bei Austrian Airlines gearbeitet hat. Seine ehemaligen Konkurrenten nannten ihn »Roboter«. Über die Taucherszene hinaus ist er bekannt als »der tiefste Mann der Welt«, weil er sich von einem Schlitten 253,50 Meter weit ins Meer hinunter ziehen ließ. So tief hat es kein anderer Apnoetaucher geschafft. Apnoe ist griechisch und bedeutet »ohne Atem«.

Ein durchschnittlich trainierter Mann hat ein Lungenvolumen von sieben Litern. Herbert Nitsch kann seine Lunge mit 15 Litern Luft vollpacken und mehr als neun Minuten lang die Luft anhalten. Wenn er abtaucht, muss er zweimal pro Sekunde den Druck ausgleichen, denn je tiefer er taucht, umso größer wird der Umgebungsdruck. Damit er dem standhalten kann, atmet Nitsch in 15 Metern Tiefe seine ganze Luft in eine große Plastikflasche. Beim Abtauchen nimmt er die Luft über einen Schlauch zurück in den Mund und presst sie in die Nebenhöhlen.

»Da unten gibt es andere Sinneswahrnehmungen, ich spüre keinen Druck, es ist dunkel, manche sagen, es ist kalt. Aber eigentlich ist es völlig irrelevant, was um einen herum passiert.«

Herbert Nitsch

Der Wasserdruck nimmt alle zehn Meter um ein Bar zu. Der Körper reagiert darauf mit dem sogenannten Tauchreflex: Während der ersten zehn Meter verringert sich die Herzfrequenz um die Hälfte, mit zunehmender Tiefe sinkt sie weiter. Nach etwa 15 Metern reduziert sich das Luftvolumen in der Lunge, sodass der Körper keinen Auftrieb mehr hat. Der Taucher gleitet immer schneller hinab. In 90 Metern Tiefe sind die Lungen auf zehn Prozent ihres ursprünglichen Volumens komprimiert. Die inneren Organe werden nach oben in den Brustkorb gedrückt, die Kapillaren in der Lunge schwellen mit Blut an. So verhindert der Körper, dass Brustkorb und Lunge zerquetscht werden. Der Blutfluss in den Extremitäten ist reduziert, durchblutet werden die lebenswichtigen Organe: Lunge, Herz, Hirn. Die Milz zieht sich zusammen und schickt sauerstoffreiches Blut in die Adern. Der Körper scheidet überschüssiges Wasser aus.

»Da unten gibt es andere Sinneswahrnehmungen, ich spüre keinen Druck, es ist dunkel, manche sagen, es ist kalt. Aber eigentlich ist es völlig irrelevant, was um einen herum passiert. Der Blick richtet sich nach innen, man spürt nur den eigenen Herzschlag und das, was im Körper abgeht«, sagt Nitsch. In der Tiefe ist er völlig entspannt, weil jede Anspannung wertvollen Sauerstoff kostet.

»Unter Wasser kann man sich in einer Dreidimensionalität bewegen. Das möchte ich nicht missen.«

Herbert Nitsch

Bei seinem letzten Weltrekordversuch im Jahr 2012, als er so tief getaucht ist wie kein anderer, hatte er einen Dekompressionsunfall. Dazu kommt es, wenn man zu schnell auftaucht, wenn der Druck zu schnell nachlässt und Gasblasen die Blutgefäße blockieren. Nitsch erlitt mehrere Schlaganfälle. Die Ärzte prognostizierten ihm ein Leben im Rollstuhl, ein Leben ohne Tauchen. Für ihn kam das nicht in Frage, er trainierte hart und kämpfte sich zurück ins Wasser.

Er sagt: »An Land ist man an die Erdoberfläche gebunden. Unter Wasser kann man sich in einer Dreidimensionalität bewegen, die oben nicht möglich ist. Das möchte ich nicht missen.« Ich sage: »Doch es bleibt ein Ort, an den wir nicht hingehören.« Er fragt, »Wer sagt das?«

Am Ende unseres Gesprächs schwärmt Nitsch davon, wie befreiend es ist, wenn man nicht atmen muss: »Wir sind es gewohnt zu atmen und sehen es deshalb nicht als Anstrengung, doch es braucht viel Muskelkraft und Energie. Nicht atmen zu müssen, ist entspannend. Es hinterlässt das schöne Gefühl, ganz im Moment zu sein.«

Projektionen im Wasser

Ich kann meinen Atem sehen, als ich an der Reling stehe, während die Fram weiter Richtung Norden fährt. Meine Finger kribbeln vor Kälte und trotzdem bleibe ich draußen und lasse mich hypnotisieren vom Rhythmus der Wellen. Ich denke da-ran, wie ich mit 18 am Strand von Barcelona lag und mich fühlte wie in einer Schneekugel, so als würde am Horizont die Welt aufhören – es gab ja nichts mehr, worüber man hätte schauen können.

Am Meer sieht es so aus, als würde am Horizont die Welt aufhören.

Im Alltag richten wir unsere Aufmerksamkeit meist auf etwas Bestimmtes, auf einen Satz, den wir gerade schreiben oder auf die zahlreichen Punkte einer To-do-Liste. Das Psychologen-
Paar Rachel und Stephen Kaplan von der Universität Michigan sprechen von gerichteter Aufmerksamkeit. Diese ermüdet auf Dauer, wir lassen uns leicht ablenken, werden ungeduldig, müde. Der Natur aber begegnen wir mit ungerichteter Aufmerksamkeit – sie strengt uns nicht an.

Dass insbesondere die Nähe zum Meer gesund sein soll, darauf deuten allerlei kuriose Studien: Ein Team der Universität Exeter etwa untersuchte 2019 die Gesundheitsdaten von 26.000 Menschen und fand heraus, dass Personen, die in der Nähe des Meeres leben, weniger Symptome von psychischen Krankheiten zeigen. Außerdem lese ich, dass Meereswellen die Frequenz der Hirnwellen ändern und uns in einen meditativen Zustand ver-
setzen sollen. Dass wir kreativer werden am Meer. Ich lese von positiven Ionen aus unseren technischen Geräten, die unsere Gesundheit negativ beeinflussen, weil sie uns Energie rauben, und von negativen Ionen, die in großer Zahl am Meer vorkommen und unsere Erinnerungsfähigkeit, Aufmerksamkeit und Entscheidungsfindung verbessern. Und dass Surftherapien Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung helfen sollen.

»Das Meer hat für uns die Bedeutung, die wir ihm zuordnen.«

Florian Schmid-Höhne

Dabei denke ich an den schottischen Philosophen David Hume und seine Skepsis gegenüber Kausalzusammenhängen, gegenüber augenscheinlichen Ursachen und ihren Wirkungen. Und frage mich: Hängt unser Wohlbefinden wirklich mit dem Meer zusammen? Oder gibt es eine andere Erklärung?

Florian Schmid-Höhne sagt: »Das Meer ist ein Bedeutungsraum, es hat für uns die Bedeutung, die wir ihm zuordnen.« Der Psychologe hat sich schon während seines Studiums mit der Wahrnehmung und der Wirkung des Meeres beschäftigt und danach ein Buch geschrieben, Die Meere in uns. Darin gibt er mehrere Antworten auf die Frage, warum wir uns zum Meer hingezogen fühlen. Am Telefon sagt er, das Meer sei ein guter Ort zum Nachdenken, weil es eine weite Fläche ist ohne Störfaktoren. Er erzählt von Thomas Mann, der ans Meer fuhr, um zu schreiben, und von Surfern am Strand, deren Hirnwellen denen meditierender Mönche ähneln. Und er gibt mir Antworten aus der Psychologie: »Man kann es sich tiefenpsychologisch ansehen: Danach erinnert uns das gleichmäßige Rauschen des Meeres an unsere Existenz im Mutterleib. Das beruhigt uns. Oder evolutionspsychologisch: Für die Menschheit war es überlebenswichtig, Wasserflächen in der Nähe zu haben. In einer Studie hat man Versuchspersonen Bilder mit und ohne Wasserflächen gezeigt. Die Bilder mit Wasserflächen wurden positiver wahrgenommen.« Er hat auch eine biografische Antwort, die mir sofort einleuchtet: »Die Entwicklung als Kind beeinflusst uns. Viele lernen das Meer als Urlaubsort kennen und werden es immer als Sehnsuchts- oder Nostalgieort sehen.«

Das Meer wird den Menschen überdauern, es war vor ihm da und wird nach ihm da sein.

Am Ende sagt er: »Warum wir uns am Meer wohlfühlen, das kann aber auch an ganz anderen Faktoren hängen: an der Natur, an der Küstenlandschaft, an der Person, mit der ich dort bin, am Wetter oder an der Sonneneinstrahlung.«

Vielleicht wollen wir einfach glauben, dass das Meer so etwas wie magische Kräfte auf uns hat. Vielleicht wird dieser Glaube in die Kraft des Meeres zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wir gehen davon aus, dass wir uns am Meer erholen, also erholen wir uns auch. Vielleicht schreiben wir dem Meer diese Macht zu, weil es Platz bietet für unendlich viele Projektionen. Das Meer wurde immer schon durch Worte mit der Vorsilbe »un-« beschrieben, durch eine Negation, die zeigt, wie wenig wir darüber wissen, schreibt der Germanist Dieter Richter in Das Meer – Geschichte der ältesten Landschaft: das Unheimliche, das Unbekannte, das Unendliche.

Nach sechs Tagen auf dem Wasser verblasst Die große Welle vor Kanagawa in meinem Kopf. Mir kommt ein neues Bild vom Meer in den Sinn: Der Mönch am Meer von Caspar David Friedrich. Das Bild besteht zu einem großen Teil aus Himmel, darunter ein Streifen Meer, schwarz mit einem Grünstich, und ein Streifen Strand. Dort steht der Mönch, klein und in sich versunken, fast verschwindet er in der Landschaft. Er wirkt vergänglich, so wie Spuren im Sand. Das Meer im Hintergrund wird ihn überdauern, es war vor ihm da und wird nach ihm da sein.

Wo die Sonne zuerst aufgeht

Ganz wird mich der Sog, der die Menschen ans Meer zieht, wohl nie mitreißen. Ich bleibe ein Kind der Berge. Doch es gibt diesen Moment auf meiner Reise, in meiner Erinnerung, in dem ich sie nachvollziehen kann: die Sehnsucht, nach der ich gesucht hatte.

Die Sonne scheint in Eastport, am östlichsten Punkt der USA. Ich trage einen engen Anzug, eine Rettungsweste. Vorsichtig setze ich meine Füße in ein gelbes Kajak, nehme das Paddel in die Hand und tauche es in das grünliche Wasser. Ich spüre die Sonne im Gesicht, meine Finger sind kalt, doch ich nehme es kaum wahr. Ich gleite an der Küste entlang, den Blick Richtung kanadischer Küste und höre nur das Geräusch von Paddeln, die auf das Wasser treffen. ~

Endlich greifbar – die Sehnsucht nach dem Meer.

Erschienen am 28. Mai 2020 

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Lissi Pörnbacher ist Redakteurin beim Science Notes Magazin.

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