
Die Prinzipien des Lebendigen
Das Meer ist ein guter Lehrmeister. Die Bionikerin Antonia Kesel passt genau auf.
Wenn Antonia Kesel einen Fisch betrachtet, wie er schillernd durchs Wasser gleitet, dann kommen ihr Fragen in den Sinn, erzählt sie: Warum bewegt er sich, wie er sich bewegt? Wie genau funktioniert sein Körper? Wie effizient geht er mit Energie um? »Ich kann nicht mehr anders«, sagt die Professorin. Seit ihrer Kindheit schon beobachtet die 57-Jährige alles Lebendige mit diesem Blick: mit der Neugier einer Ingenieurin.

Seit ihrem Studium der Biologie im Saarland sucht Antonia Kesel – mittelgroß, selbstbewusst, ein goldener Fisch hängt an einer Kette um ihren Hals – Antworten auf die eine Frage: Wie funktioniert die Natur und was können wir von ihr für die menschliche Technik lernen? Sie ist zu einer Grenzgängerin zwischen Naturforschung und Ingenieurwesen geworden. Heute ist sie eine herausragende Expertin für ein Forschungsfeld, das in Deutschland Bionik, im internationalen Sprachgebrauch meist Biomimetics genannt wird.
Bionik, das ist zum Beispiel der Lotoseffekt, der Wasser an Oberflächen abperlen lässt. Er ist der Oberfläche von Pflanzen abgeschaut und kommt heute dort zum Einsatz, wo Dreck nicht anhaften soll, etwa an Autos. Und dann waren da doch noch die Füße des Geckos, die so gut haften, dass die Forschung genau wissen wollte, wie das funktioniert. Aber sonst? Antonia Kesel kennt sie gut: die etwas ratlosen Blicke der
Laien, wenn der Begriff Bionik fällt. Lotos und Gecko, davon haben die meisten immerhin schon gehört. Alle anderen Fortschritte ihrer Disziplin wirken erst spektakulär, wenn man ganz genau hinschaut: »Der Transfer von Prinzipien aus der belebten Natur in die Technik findet oft im Kleinen statt.« Denn im Grenzbereich von Bio- und Ingenieurwissenschaften geht es nur selten darum, eine gänzlich neue Konstruktion zu finden, eine völlig neue Bauweise. Meist geht es um eines: Effizienz.
»Die Natur kann uns helfen, unsere Technik besser zu machen, einfacher, klarer, sparsamer«, erklärt Antonia Kesel. Anders als viele andere Forschende im weiten Feld der Bionik schaut sie dafür auch ins Wasser, meist ins Meer. Denn dort, so ist sie überzeugt, kann die Menschheit noch viel Inspiration finden: »Der Ozean ist eine Schatztruhe für technische Innovation.« Gemeinsam mit ihrem Team erforscht sie an der Hochschule Bremen, welche Lösungen das Leben im Wasser gefunden hat, um sich gegen Strömungen zu behaupten, zu bewegen oder zu regenerieren. Sie leitet den Internationalen Studiengang Bionik, anfangs noch der erste und einzige seiner Art weltweit, und das Bionik-Innovations-Centrum Bremen. Außerdem ist Kesel Vorsitzende von BIOKON, einem Netzwerk von etwa 80 Institutionen in Deutschland, die Biologie und Technologie miteinander verschmelzen lassen.
Nüchtern wirken die Flure und Büroräume, in denen Antonia Kesel arbeitet, aufgeräumt und geruchlos. Die Forscherin würde auch im Vorstand eines Großunternehmens nicht ungewöhnlich wirken. Sie spricht schnell. Mit einem hellblauen Hemd, marineblauem Jackett und der souveränen Haltung der Erfolgreichen zeigt sie das »Design-Labor«, in dem sie, ihr Team und Studierende mit Werkbank und Windkanal, Wellenbad und Laufstrecke nach Prinzipien des Lebendigen fahnden. In Krabben und Schildkröten etwa fanden sie Vorbilder, um kleine Unterwasserroboter schneller und wendiger zu gestalten. Mit ihrer Hilfe können Schiffsrümpfe unter Wasser untersucht werden, wo sonst Taucher unter Lebensgefahr nachsehen müssten. Oder sie untersuchten an Fischen, wie künstliche Flossen funktionieren könnten, um etwa Tauchgeräte durch die Tiefsee zu manövrieren.
Besonders interessieren Kesel allerdings Oberflächen unter Wasser. Denn an sich harmlose Kreaturen wie Bakterien, Algen oder Muscheln werden an Schleusentoren, Fahrwassermarkierungen oder Offshore-Plattformen zu einem Problem. Und vor allem am Rumpf von Schiffen. Die Organismen überwuchern jeden Zentimeter unter der Wasserlinie, sorgen mit ihrem Stoffwechsel für Korrosion und verändern die Eigenschaften des Gefährts. Der Widerstand erhöht sich, mehr Treibstoff wird benötigt. Vor allem Seepocken sind jedem Schiffer ein Gräuel: Die kleinen Krebse haften sich mit enormer Kraft unter Wasser fest, wachsen zu harten, scharfkantigen und unförmigen Kolonien heran. Schnell sind dann die mühsam ausgetüftelten Strömungseigenschaften eines Schiffsrumpfs dahin, ein Gefährt wird schwerfälliger. Bislang versucht die Schifffahrt, dem Problem mit Gift oder Gewalt zu begegnen: Spezialfarben mit Substanzen wie Kupfer sollen die Organismen fernhalten, regelmäßig müssen Schiffe mechanisch gereinigt werden. Ein ewiger, teurer Kampf gegen das Leben im Meer.

Wie aber wappnen sich Lebewesen unter Wasser gegen die Besiedelung? Antonia Kesel und ihre Kollegen fanden eine Antwort in der Haut von Haien, die schnell und mühelos durch die Hochsee gleiten. Ihre Oberfläche ist ein Wunderwerk der Natur: Sie ist gespickt mit winzigen Zähnen, die auf besondere Weise geriffelt sind und überdies beweglich. Sie können sich über- und gegeneinander schieben. So verändert die Haut permanent ihre Gestalt – und verhindert, dass sich Algen, Krebse und Muscheln anhaften.
Die Bremer Bioniker versuchten, den Bauplan der Haihaut nachzuahmen und entwickelten eine künstliche Haut aus Silikon. Das Ergebnis im Experiment: Sie vermindert den unerwünschten Ballast unter Wasser um bis zu 70 Prozent. Aber auf dem Weg zu Schiffen, die weniger Treibstoff aufwenden müssen, ist das nicht genug. Antonia Kesel ist deshalb schon weiter. Und sucht nach Möglichkeiten, die Reibung zwischen Schiff und Wasser zu verringern, selbst wenn die Oberfläche blitzsauber ist. Ein Vorbild in der Natur ist ein Schwimmfarn, eine sattgrüne Pflanze, die auf stillen Gewässern treibt. Mit Hilfe winziger, wie Schneebesen geformter Haare erzeugt das Gewächs um sich herum ein Luftpolster, das verhindert, dass es mit Wasser in Berührung kommt. Was, wenn ein Schiffsrumpf das auch könnte? Jährlich ließen sich auf diese Weise bis zu 15 Prozent Treibstoff einsparen, schätzt Kesel. Aus dem Geheimnis des schwimmenden Farns ist das Forschungsprojekt »Aircoat« geworden. Mit einer Förderung von 5,3 Millionen Euro der Europäischen Kommission versucht eine Vielzahl von Wissenschaftlern, die Luftpolster der Pflanzen auf die Frachter und Kreuzer der Zukunft zu übertragen. Antonia Kesel ist mit dabei, doch noch nicht am Ziel.
»Wir sind auf dem richtigen Weg. Uns gelingt es schon gut, die Luftpolster zu erzeugen«, erzählt die Forscherin und knetet ein Stück Werkstoff mit perforierter Oberfläche. »Aber sobald Strömung dazu kommt, sind sie dahin.« Bionik ist für sie weit mehr, als nur die Eigenschaften der Natur zu kopieren. Vielmehr geht es ihr darum, sich vom Lebendigen inspirieren zu lassen und sich der Natur anzunähern, oft in einem langen, mühsamen Prozess aus Simulationen am Computer und Experimenten im Labor.
Noch setzen sich Lösungen nach dem Vorbild der Natur nur selten in der Breite durch. Die Prinzipien des Lebendigen sind oft zu komplex für eine billige Produktion, eine Schiffshaut nach dem Vorbild der Haie etwa ist teurer als ein toxischer Lack. Doch in Zukunft werden wir nicht mehr umhinkommen, die Problemlösungen der Natur zu beachten, ist Kesel überzeugt: »Das Leben hat Jahrmillionen Zeit gehabt, konnte Generation für Generation Möglichkeiten entwickeln, verwerfen, optimieren.« Und hat dabei ungezählte Lösungen gefunden, die Material und Energie sparen, langlebig sind, kurz: umweltfreundlich. Je weiter der Mensch die Erde verändert und ihre Ressourcen verbraucht, desto mehr könnte er also auf die Effizienz der Natur angewiesen sein, sagt Kesel: »Von der Natur können wir vor allem eines lernen – wie man überlebt.«
Erschienen am 28. Mai 2020
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