Vom Hören und Dazugehören
Fadhel El May forscht an einer neuen Generation von Cochlea-Implantaten – sie könnten das Hören mit Implantat revolutionieren. Doch El May ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch selbst betroffen: Seit seiner Geburt ist er schwersthörig.
Hungrige Menschen wühlen in Besteckkästen, Tabletts klappern auf Tischen und Gespräche wabern durch den Raum, verschmelzen zu einem einzigen lauten Gemurmel. All das kann Fadhel El May nicht hören, trotzdem strengt es ihn enorm an. Für ihn ist es ein Klumpen Lärm, eine Masse an Störgeräuschen. Während seine Kolleg:innen in der Kantine des Universitätsklinikums Göttingen entspannt über ihr Wochenende plaudern, schaltet Fadhel El May sein elektronisches Cochlea-Implantat aus. Er ist seit seiner Geburt schwersthörig, in Situationen wie diesen verlässt er sich vollständig auf Lippenlesen, um sein Gegenüber zu verstehen.
Fadhel El May ist 32 Jahre alt und promoviert am Institute for Auditory Neuroscience der Universität Göttingen. Dort gehört er zu einem interdisziplinären Team, bestehend aus über 80 Wissenschaftler:innen. Sie alle haben ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel: Sie wollen eine neue Generation Cochlea-Implantate entwickeln. Die Idee dahinter: Hören mit Licht. Diese sogenannten optischen Cochlea-Implantate könnten den Spalt zwischen der Welt der Hörenden und der der Gehörlosen deutlich schmälern. Das ist die Hoffnung – nicht nur von Fadhel El May und seinen Kolleg:innen. Schätzungsweise 450 Millionen Menschen weltweit sind schwerhörig, allein in Deutschland sind es 16 Millionen. Die neue Technologie könnte ihnen eine deutlich höhere Klangvielfalt bieten.
Zwischen zwei Welten
In der Kantine des Universitätsklinikums widmet sich Fadhel El May wieder seinem Mittagessen. Dem Tischgespräch zu folgen, fällt ihm schwer. »Vor allem wenn sich Menschen durcheinander in einer lauten Umgebung unterhalten, ist es schwierig für mich«, sagt er. Es ist ein bisschen wie bei einer Gruppenkonversation in einer Fremdsprache. Man sitzt am Tisch mit Muttersprachler:innen. Ein Satz fällt, ein Witz, alle lachen. Bis man den Witz verstanden hat, sind die anderen längst beim nächsten Thema. Fadhel El May wendet dann oft einen Trick an: Er startet ein neues Gesprächsthema, wenn eine Pause entsteht. Dann weiß er, worum es geht, es fällt ihm leichter zu folgen. »Aber manchmal will ich den Flow nicht stören«, sagt er. Wenn er merkt, dass eine bestimmte Dynamik entstanden ist, die Sätze wie Bälle durch die Luft geschossen werden, dann fällt es ihm schwer, die anderen zu unterbrechen und zu sagen, dass er nichts versteht.
»Manchmal fühle ich mich, wie ein Wanderer zwischen den Welten« Fadhel El May
»Dieses Gefühl, nicht richtig dazu zu gehören, das sitzt tief«, sagt er und erinnert sich an einen Moment in der Grundschule: Seine Lehrerin spielte am Klavier, umringt von der Klasse, alle sangen mit. Auch wenn er nicht mehr weiß, wie alt er damals war, an das, was dann folgte, erinnert er sich genau: Die Lehrerin unterbrach das Spiel, ihr Blick schweifte über die Kinderschar, in ihren Augen stand die Frage: Wer singt hier so schief, dass er alles durcheinanderbringt? An Fadhel El May blieb er hängen, sie deutete auf ihn und sagte: »Du. Ich glaube das wird nichts. Willst du in der Zeit, wenn wir singen üben, vielleicht lieber in die Bibliothek gehen?«
Fadhel El May ging in die Bibliothek. Singen ist fast unmöglich, wenn man sich selbst nicht hören kann. Auch wenn er das verstand, macht ihn die Geschichte heute noch traurig. Damals hatte er noch kein Cochlea-Implantat, sondern trug zwei Hörgeräte, die die Klänge seiner Umgebung nur verstärkten. Er kam schwersthörig auf die Welt, genau wie sein eineinhalb Jahre älterer Bruder – ein genetischer Defekt. »Für meine Eltern war das erstmal ein Schock«, sagt El May. Beide hören normal und standen plötzlich vor zwei kleinen Jungs, die sich mit dem Sprechen und Verstehen sehr schwertaten. Und sie standen vor einer großen Entscheidung: »Bringen wir ihnen Gebärdensprache bei und schicken sie auf eine Gehörlosenschule? Oder versuchen wir, sie in die Welt der Hörenden zu integrieren?«, beschreibt Fadhel El May das Dilemma. Sie entschieden sich für Letzteres.
Eine neue Chance: das Cochlea-Implantat
Viele Jahre schlug sich Fadhel El May mit Lippenlesen und den paar Lautfetzen, die ihn erreichten, durch die Welt. Mit sehr viel Unterstützung, wie er sagt, gelang es ihm, eine normale Schule zu besuchen. Von den Lippen einer Dolmetscherin las er, was der Lehrer vorne an der Tafel sagte. Außerdem trainierte er mit einer Logopädin das Sprechen. »S und Sch-Laute, die konnte ich eigentlich gar nicht hören und auch nicht richtig sagen«, erinnert er sich. Doch er sieht auch die positiven Seiten: »Mein schlechtes Gehör hat dazu geführt, dass ich wirklich gute Freunde hatte«, sagt er. Diejenigen, die sich Mühe gaben, mit ihm zu interagieren, waren fürsorgliche Menschen, die sich wenig aus Oberflächlichkeit machten. In dieser Zeit entstanden Freundschaften, die bis heute gehalten haben. »Mit den anderen konnte ich nichts zu tun haben. Und das wollte ich dann auch gar nicht«, sagt er.
Doch mit der Zeit hörte Fadhel El May – wie auch sein Bruder – immer weniger, eine Folge des genetischen Defekts. Seinem Bruder setzten die Ärzt:innen zuerst ein Cochlea-Implantat ein. »Plötzlich verstand er viel mehr und hatte auch mehr soziale Kontakte«, sagt El May. Da war dem damals 16-jährigen El May klar: »Das will ich auch«. An den Moment, als ein Arzt in einer Genfer Klinik sein Implantat aktivierte, erinnert er sich noch heute sehr detailliert.
Die Regentropfen schlugen auf das Dach des Autos und alles, was El May hörte, war: Piep piep piep.
Zu Beginn hörte Fadhel El May nur Piepen. Jedes gesprochene Wort: Piep. Jeder Stuhl der gerückt wurde: Piep. »Meine Mutter fuhr mich danach mit dem Auto von der Klinik nach Hause und es regnete«, erinnert sich Fadhel El May. Die Regentropfen schlugen auf das Dach des Autos und alles, was El May hörte, war: Piep piep piep. Im ersten Moment fand er es verstörend. »Es ist nicht so, wie man es sich vielleicht vorstellt: Man setzt das Implantat ein und hört sofort«, sagt er. Vielmehr wird das Gehirn ge- und der Patient erstmal verstört.
Üben, üben, üben
Während ein herkömmliches Hörgerät wie ein Verstärker für die Schallwellen wirkt, funktioniert ein elektronisches Cochlea-Implantat grundlegend anders. Bei einem intakten Gehör bewegen die Schallwellen die Luft in unserem Gehörgang und bringen unser Trommelfell zum Schwingen. Je schneller sich das Trommelfell bewegt, desto höher der Ton, je langsamer, desto tiefer. Am Trommelfell hängen die winzigen Gehörknöchelchen: Hammer, Amboss und Steigbügel. Schwingt das Trommelfell, schwingen sie mit. Die Kette dieser Knöchelchen bildet eine Brücke zum Eingang des Innenohrs. Dort befindet sich die Cochlea, auch Gehörschnecke genannt. Dieses gewundene Knöchelchen ist das Herzstück des Innenohrs: Bei Schalleinwirkung ist hier alles in Bewegung. Die Flüssigkeiten und Membrane in der Cochlea schwingen mit. Je nach Tonhöhe und Intensität werden dort bestimmte Sinneszellen mechanisch gereizt, die Haarzellen. Diese wandeln den mechanischen Reiz in ein elektrisches Signal um, das wiederum angedockte Nervenzellen aktiviert, den Hörnerv. Dieser leitet seine Impulse über die Gehörbahn in das Gehirn. Wir hören.
Bei einem elektronischen Cochlea-Implantat werden die meisten dieser Schritte im Innenohr übersprungen: Ein Sensor, der außen am Kopf befestigt ist, wandelt die Schallsignale direkt in elektrische um. Diese elektrischen Signale leitet dann ein kleiner, mit Elektroden besetzter Draht in der Hörschnecke direkt an die Zellen der Hörnerven weiter.
Unmittelbar nach dem Einsetzen eines Implantats kann das Gehirn mit diesen elektronischen Informationen erstmal nichts anfangen, so wie bei Fadhel El May. Der einzige Weg, um dem Dauerpiepen entgegenzuwirken: Üben. Das Implantat so häufig wie möglich tragen. Nach Monaten verstand Fadhel El May langsam immer mehr. »Ich werde nie den Moment vergessen, als ich zum ersten Mal verstand, was der Lehrer an der Tafel erzählte, ohne meine Dolmetscherin anzusehen«, sagt El May. »Für mich hat sich damals eine neue Welt geöffnet.«
Meter für Meter
Die Frage, wohin er gehört, blieb trotzdem. Denn: Noch immer versteht er gut ein Drittel von den Klängen seiner Umwelt nicht. Bestimmte Dinge, wie Singen, bleiben unerreichbar. Mit seinem Cochlea-Implantat kann Fadhel El May auch keine Melodien wahrnehmen, nur Rhythmen. »Ich würde so gerne wissen, wie Menschen mit einem intakten Gehör Musik wahrnehmen«, sagt er, und vergleicht es mit einem Klavier. Ein intaktes Gehör kann alle Tasten unterscheiden und es erkennt Harmonien, zum Beispiel die eines Dreiklangs. Bei einem Cochlea-Implantat ist es, als spiele man mit den Fäusten, oder sogar mit den Unterarmen.
»Manchmal fühle ich mich wie ein Wanderer zwischen den Welten«, sagt Fadhel El May. Weder zu den Hörenden noch zu den Gehörlosen fühlt er sich richtig zugehörig. Trotzdem ist er dankbar für das Implantat, das seine Klangwelt auf ein völlig neues Level brachte und ihm vieles ermöglichte: Er zog von zu Hause aus, studierte Bio-Engineering und ging für einen Austausch ein Jahr an die Harvard University in die USA.
»Was Menschen, die hochgradig schwerhörig sind, in ihrem Alltag leisten, das ist unglaublich. Wie viele extra Meter die laufen, um teil zu haben.« Tobias Moser
Dort lernte er auf einer Konferenz Tobias Moser kennen – Neurowissenschaftler, HNO-Arzt und Leiter des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften in Göttingen. Hier schreibt Fadhel El May aktuell seine Doktorarbeit, Moser betreut sie – und ist beeindruckt von seinem Doktoranden. »Er ist ein sozial total talentierter Typ. Man merkt, wie umsichtig er reagiert, wie er mit Leuten interagiert.« Tobias Moser weiß aus jahrelanger Erfahrung mit Patient:innen, dass Menschen mit Hörminderung es in jedem Lebensbereich schwerer haben: »Was Menschen, die hochgradig schwerhörig sind, in ihrem Alltag leisten, das ist unglaublich. Wie viele extra Meter die laufen, um teil zu haben.«
Ein Lichtschalter für die Zelle
Moser ist ein großer schlanker Mann, der etwas Aufmunterndes an sich hat, als wolle er sagen: Dumme Fragen gibt es nicht. Er kann sehr gut komplizierte Dinge einfach erklären, zum Beispiel wie man eine Nervenzelle genetisch so verändert, dass sie lichtempfindlich wird. Er sagt dann einfach: Einen Lichtschalter in die Zelle einbauen.
Denn genau darum geht es bei der sogenannten Optogenetik, also dem Mechanismus hinter einem optischen Cochlea-Implantat, an dem Fadhel El May und seine Kolleg:innen forschen. Statt mittels elektrischer Impulse sollen die Hörnerven durch Lichtsignale stimuliert werden. Dazu zerlegt ein Prozessor zunächst, wie beim elektrischen Cochlea-Implantat, den Schall in Frequenzbänder. Beim optischen Implantat aber in feinere und viel mehr. 64 Lichtleiter, die den Frequenzbändern zugeordnet sind, leiten das Licht dann ins Innenohr. Dort, in der Cochlea, fällt das Licht dann auf die Sinneszellen. Damit die Erklärung nicht zu abstrakt wird, greift Tobias Moser zu einem Modell des optischen Cochlea-Implantats. Es steht auf seinem Schreibtisch und leuchtet immer dann auf, wenn jemand etwas sagt; ein kleines Mikrophon hinter einem übergroßen Plastik-Ohr fängt jedes Wort und jeden Laut auf. Die Hörschnecke ist im Modell transparent und gut zu erkennen. Spiralförmig sind dort blaue LEDs angeordnet, sie funkeln im Rhythmus von Mosers Erklärungen. Es zeigt: Das Umwandeln von Lauten in Licht klappt. Nun werden noch ebendiese »Lichtschalter« in den Zellen des Hörnervs benötigt. Mittels Gentechnik bringen die Göttinger Forscher:innen den genetischen Bauplan bestimmter Proteine in die Zellen ein. Die Nervenzellen bauen den Lichtsensor dadurch in ihre Membran ein. Sobald Licht auf ihn fällt, öffnet er seine Schleusen, Ionen strömen ein, und die Zelle wird elektrisch aktiv. »So werden ihre Impulse über die Hörbahn in das Gehirn geleitet«, sagt Tobias Moser. Das Einbauen der Lichtschalter, so zeigen Tierversuche, klappt scheinbar auch. Nun testen Fadhel El May und einige Kolleg:innen das Zusammenspiel aus beiden Komponenten bei Wüstenrennmäusen.
Gelingt das, wäre ein Meilenstein erreicht. »Durch die Lichtimpulse könnte der Klang von Sprache und Musik sehr viel natürlicher und nuancenreicher werden«, sagt Moser. Denn ein elektronisches Cochlea-Implantat versucht, alle Klänge über zwölf bis 24 Elektroden abzubilden. Ein optisches Cochlea-Implantat hingegen könnte im besten Fall 128 Lichtimpulse geben.
Die Hörschnecke
Die Hörschnecke oder Cochlea ist bei gesunden Menschen tonotop organisiert: Bestimmte Tonfrequenzen werden an bestimmten Orten der Cochlea wahrgenommen und in elektrische Nervenreize übersetzt.
Ich würde so gern wissen, wie Menschen mit einem intakten Gehör Musik wahrnehmen., sagt Fadhel El May, der seit seiner Geburt schwersthörig ist. Sein elektronisches Cochlea-Implantat ermöglicht ihm zwar, Unterhaltungen besser zu folgen, doch Melodien kann er nicht wahrnehmen – und damit auch nicht diesen Ausschnitt aus Johann Sebastian Bachs Air (Suite Nr. 3 in D-Dur).
So funktioniert das elektronische Cochlea-Implantat
Elektronische Cochlea-Implantate: Über einen in die Cochlea eingebrachten Draht breiten sich elektrische Reize in der Hörflüssigkeit aus. Dadurch können die Haarsinneszellen in der Hörschnecke allerdings nicht getrennt angestoßen werden, sondern nur viele auf einmal. Die Träger:innen der Implantate können deshalb Tonhöhen nur schwer auseinanderhalten, was es fast unmöglich macht, Musik zu hören.
So hört sich Johann Sebastian Bachs Air mit einem elektronischen Cochlea-Implantat an:
So funktioniert das optische Cochlea-Implantat
Optische Cochlea-Implantate arbeiten mit Licht: Licht kann man besser bündeln und so einzelne Regionen der Hörschnecke gezielter ansprechen als mit Strom. Damit die Nervenzellen im Ohr lichtempfindlich werden, müssen sie allerdings erst durch Gentherapie verändert werden. Gelingt das, könnte dies das Hören mit Cochlea-Implantaten revolutionieren: Ein elektronisches Implantat versucht, alle Klänge über zwölf bis 24 Elektroden abzubilden. Ein optisches hingegen könnte im besten Fall 128 Lichtimpulse geben. Wie unterschiedlich sich Johann Sebastian Bachs Air mit den beiden verschiedenen Cochlea-Implantaten anhört, erfährst du, wenn du die Grafik einscannst.
So könnte sich Johann Sebastian Bachs Air mit einem optischen Cochlea-Implantate anhören:
Eine besondere Zusammenarbeit
Fadhel El May hofft darauf, dass er eines Tages ein optisches Cochlea-Implantat tragen wird. Bis es so weit ist, ist er stolz darauf, einen Beitrag zu dieser Forschung leisten zu können. Doch nicht nur er selbst strengt sich dafür an. »Auch ein System wie die Universität muss sich darauf einstellen, um ihn dabei zu begleiten«, sagt Tobias Moser.
Bettina Wolf gehört zu den Menschen, die mit Fadhel El May regelmäßig ein paar extra Meter laufen, damit er teilhaben kann. Doch sie betont: »Fadhel und ich haben sehr viel voneinander gelernt.« Gerade sitzt sie in einem etwas kahlen Besprechungsraum, der den typischen Charme von Krankenhaus versprüht. Ihre großen blauen Augen und ihr bunter Schal wirken wie Farbtupfer vor den weißen Wänden. Hier trifft sich nachher noch das ganze Team. Bettina Wolf supervidiert einige von Tobias Mosers Doktorand:innen. Streng genommen steht sie also einen Titel über Fadhel El May, sie hat ihren Doktor bereits abgeschlossen. Wenn Moser und El May eine Besprechung haben, kommt Wolf mit und schreibt für El May Protokoll, denn er kann nicht gut zuhören und gleichzeitig mitschreiben. »Und mittlerweile mache ich das auch bei den anderen Doktorand:innen, die ich betreue«, sagt sie. Es ist eine der Sachen, die sie aus der Zusammenarbeit mit Fadhel El May übernommen hat. Besonders bleibt, dass Wolf mit El May das Protokoll im Anschluss bespricht. Einerseits geht es dann um den Inhalt, andererseits um Feinheiten in der Stimme. Denn Melodien machen nicht nur Musik, sondern oft auch die Stimmung. »Uns ist nicht bewusst, wie viele Informationen wir aus der Stimmlage unseres Gegenübers ziehen«, sagt Bettina Wolf. Tut es der Person leid, ist sie verärgert oder enttäuscht? »Fadhel merkt teilweise nicht so gut, wie die Stimmung im Raum ist«, sagt Bettina Wolf. Dann hilft sie ihm, Situationen einzuschätzen. Sie sagt dann: »Hey, Tobias war eben tatsächlich nicht so happy darüber, wie es gelaufen ist.« Oder: »Du hast schon mitbekommen, dass es Tobias leidgetan hat, wie es gelaufen ist?«
Er sitzt dann im Publikum,
sein Ohr ist vorne.
Nun kommen die anderen Teammitglieder in den Besprechungsraum dazu, die Kleingruppe von Bettina Wolf bespricht sich sehr regelmäßig. Sie versammeln sich um den Besprechungstisch. Fadhel El May legt ein kleines Mikrophon auf den Tisch. Es ist direkt mit seinem Implantat verbunden. Er erklärt: »Es ist so, als würde nun mein Ohr hier auf dem Tisch liegen. Und wenn jemand das Mikrophon in die Hand nimmt und hineinspricht, ist es, als würde er direkt in mein Ohr sprechen.« Auch bei Vorträgen nutzt Fadhel El May das Mikrophon und legt es direkt neben das Rednerpult. Er sitzt dann im Publikum, sein Ohr ist vorne. Gleichzeitig kann er es ausschalten, er ist dann umgeben von absoluter Stille. Im Großraumbüro beneiden ihn seine Kolleg:innen fast dafür: »Noise cancelling next level«, sagt Bettina Wolf dazu. In solchen Momenten genießt Fadhel El May es, sich abkapseln zu können. In anderen ist er auf Hilfe angewiesen.
Gemeinsam zum Ziel
Im Februar 2023 flog er mit einigen Kolleg:innen zu einer Konferenz nach Orlando. Seine Freundin kam auch mit, mit ihr zusammen ging er an einem freien Nachmittag in einen Freizeitpark, die Universal Studios. Die beiden stiegen in eine der schnellsten Achterbahnen im Park: »the Hulk«, mit bis zu 100 km/h. »Wir setzen uns hin, ich ziehe extra meine Brille aus, damit ich sie nicht verliere«, erzählt Fadhel El May. 3…2…1… dröhnte der Countdown durch die Luft. Dann sauste das Gefährt los, El May hielt seine Brille fest in der Hand. Aber das Implantat – »es war noch immer mit meinem Kopf verbunden«, sagt Fadhel El May. Er spürte, wie es sich löste. »Gleich zu Beginn gibt es einen Looping, ich versuchte es irgendwie zu greifen, aber man ist sehr fest in seinen Sitz geschnallt«, sagt er. Es flog herunter. »Als wir am Ende ankamen, war ich völlig aufgelöst, ich stand auf und schrie, anhalten, wir müssen die Achterbahn anhalten«, heute muss er ein wenig lachen, als er das erzählt. Doch das Implantat war weg, rund 12.000 Euro ist so ein Prozessor wert. »Das war wirklich eine teure Achterbahnfahrt«, sagt seine Kollegin. »Aber wie hast du es wieder bekommen?«, wirft Bettina Wolf ein, «erzähl das auch noch!«
Um das Implantat zu suchen, kam sein gesamtes Team mit in den Freizeitpark. Sie gingen zur Fundstelle, aber dort war nichts abgegeben worden. »Tory«, El May sieht eine seiner Kolleginnen an, »fing dann an, von der Stelle für Disabilities Services zu sprechen.« Sie lacht und sagt: »Ich habe zu den Leuten gesagt, ich hätte mit dem Manager der Disabilites Services gesprochen, obwohl ich gar nicht wusste, ob es den gab.« Nun lacht das ganze Team. Es kamen immer mehr Manager:innen, am Ende fanden sie das Implantat. »Es war völlig verdreckt, in schlechtem Zustand. Aber es funktionierte noch!«, sagt Fadhel El May.
Am Ende des Tages fährt Fadhel El May mit dem Bus nach Hause, im Stadtzentrum steigt er aus. Ein Krankenwagen heult vorbei. Passanten halten sich die Ohren zu, El May nimmt schnell sein Implantat heraus. Ab und an hat es Vorteile, das Gehör einfach abschalten zu können. »Irgendwie muss ich mit diesem Zwischenzustand meinen Frieden machen«, sagt er. Eines Tages wird er vielleicht ein optisches Cochlea Implantat tragen. Bis dahin wird es immer wieder Situationen geben in denen er sich ausgeschlossen fühlt. Und auch welche, in denen er auf die Hilfe anderer angewiesen ist. »Am Ende zählt eben, die richtigen Leute im Leben zu finden, die bereit sind einen Schritt auf mich zugehen«, sagt er. Und es scheint, als hätte er die bereits gefunden.
Erschienen an 5. September 2024