Träume steuern, das könnte im Zustand der Hypnagogie gehen, dem sogenannten Wachtraum. Ein Wissenschaftsteam in den USA erfroscht, wann und wie Träume beeinflusst werden können. Der Schriftsteller Jan Brandt hat einen von ihnen getroffen. Steht auch seine Traumwelt den Forschenden offen?

Text
Jan Brandt

Illustration
Erich Brechtbühl

 

 

 

Ein junger, ganz in Schwarz gekleideter Mann, liegt in einem abgedunkelten Raum auf einem schwarzen Ledersofa, der Kopf auf einem weißen Kissen, eine Schlafmaske über den Augen. An seinem Handgelenk trägt er etwas, das wie ein neonfarbenes Schweißband mit Kabeln aussieht. Auf der Oberseite klebt eine Platine mit drei Steckern. Die Kabel sind mit drei schmaleren Klettverschlüssen am Zeige- und Mittelfinger verbunden.

Neben dem Ledersofa auf einem Tisch steht ein weißer Roboter – ein Kegel, an dessen Kopf eine angeschnittene, bewegliche Kugel mit Display befestigt ist. Als der Mann eingeschlafen ist, sagt der Roboter: »Denke an eine Gabel!« Nach etwa fünf Minuten weckt der Roboter den Schlafenden, fragt ihn, was er geträumt hat, und zeichnet dessen Worte auf: »Die Gabel befindet sich unterm Waschbecken. Da ist ein Labyrinth in der Gabel. Und wir sind auf dem Mond. Die Gabel steckt wie eine Flagge im Boden. Das Labyrinth besteht aus Gras und hat die Form eines Gehirns. Da sind Katzen und Spinnen im Labyrinth. Und die Beine der Spinnen sind aus Metall. Und die Spinnen haben Ohren, und jemand kratzt mit der Gabel in ihren Ohren.« Dann lässt der Roboter den Mann in den Schlaf zurückgleiten.

Das, was ich hier beschreibe, habe ich nicht selbst gesehen oder gehört, ich war nicht dabei, als es passierte. Ich habe mir mehrere Videos angeschaut, in denen die Funktionsweise von Dormio der Öffentlichkeit präsentiert wird: Dormio – der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »Ich schlafe« – misst Mithilfe von drei Sensoren Herzfrequenz, Muskeltonus und Hautleitwert und erfasst so die Schlafphasen. Ein Team von Wissenschaftlern – Neurowissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Designer:innen – hat das Gerät über mehrere Jahre hinweg am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im US-amerikanischen Cambridge entwickelt.

Ziel ist es, den Übergangsmoment vom Wachsein zum Schlaf genau zu bestimmen, den Bewusstseinszustand, den man als Hypnagogie bezeichnet. Während der Hypnagogie können Halluzinationen auftreten, durchdrungen von luzidem Denken. Und genau das wollen sich die Wissenschaftler zunutze machen, um Träume zu beeinflussen.

Als ich zum ersten Mal davon höre, bin ich schockiert, gehören Träume doch zum Privatesten und Intimsten überhaupt. Ich muss an George Orwells Roman 1984 denken, in dem das Träumen die letzte Freiheit der Menschen darstellt.

Traumbeeinflussung: Schöne neue Welt? Oder Dystopie?

Man muss aber nicht die Literatur bedienen, um sich klarzumachen, was es bedeutet, mit Träumen zu experimentieren, schließlich hat die Wirklichkeit die Fiktion in dieser Hinsicht längst überholt. In den sogenannten Montreal Experimenten haben in den 1950er und 1960er Jahren Wissenschaftler:innen an der kanadischen McGill University versucht, Gedanken von Patient:innen zu verändern oder zu löschen. Später stellte sich heraus, dass das Projekt vom CIA finanziert wurde, die Akten sind noch heute unter Verschluss.

Auch wenn der US-amerikanische Geheimdienst bei Dormio nicht seine Finger im Spiel hat, jagt mir die Vorstellung, jemand könne in meine Träume vordringen, Angst ein. Gleichzeitig fasziniert mich die Idee, einen Traum mit einem Wort zu steuern und eine Geschichte, so absurd sie auch sein mag, anzustoßen.

Ich frage mich, ob es so einfach ist, Menschen zu manipulieren. Und welche Vor- und Nachteile das für mich, für andere, die Gesellschaft, hätte? Lässt sich das produktiv nutzen – für die Kunst, die Literatur? Wer könnte diese Technologie missbrauchen? Und wie kann man dieser Einflussnahme widerstehen in einer Zeit, in der wir selbst im Schlafzimmer von Technik umgeben sind?

Es ist Freitagnachmittag, Mitte Oktober. Über Boston scheint die Sonne, die Blätter der Bäume rechts und links des Charles River schillern in Gelb, Orange und Rot. Ich bin am MIT mit einem der Wissenschaftler der Fluid Interfaces Group zum Interview verabredet, Adam Haar Horowitz. Ich treffe ihn im Media Lab auf dem Campus der Universität, einem weißen, lichtdurchflutenden Gebäude. Adam begrüßt mich, als würden wir uns seit Langem kennen, und nennt mich gleich beim Vornamen. Ich kenne Fotos von ihm, aber er sieht anders aus: Seine Haare sind blond, nicht braun, und länger und lockiger als auf den Bildern im Internet. Ich habe ihn mir blasser und größer vorgestellt, nerdiger. Nicht so grazil wie ein Balletttänzer. Mit dem Fahrstuhl fahren wir in den dritten Stock hinauf und gehen an einer Fensterfront vorbei, an denen Plakate auf die neuesten Forschungsprojekte hinweisen: »miSHERLOCK« – eine Diagnose-Plattform; »Masca« – eine Schlafmaske mit integrierten Messinstrumenten, »Frisson« – eine Rückgratapplikation, die »ästhetische Schauer« erzeugt und körperliche Empfindungen nachbildet.

Ich habe das Gefühl, einen Blick in die Zukunft zu werfen, auf Anwendungen, die jetzt noch neu und seltsam wirken, aber irgendwann einmal zu unserem Leben dazugehören werden.

Neben der Tür zu Adams Labor steht das Mission Statement der Forschungsgruppe: Es geht dabei um persönliche Optimierung und kognitive Verbesserung und um tragbare Geräte wie Dormio, die uns helfen sollen, der Mensch zu werden, der wir sein wollen. »Diese Systeme«, heißt es da, »helfen uns, die brachliegenden Kräfte unseres Geistes zu nutzen und unsere natürlichen Fähigkeiten nahtlos zu vervollständigen, um Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotionen, Regulierung, Kreativität, Lernen, Entscheidungsfindung und mehr zu fördern.«

»Träume sind nichts weiter als mentaler Müll«

Als ich das lese, muss ich daran denken, was meine Freunde und ich einst auf dem Schulhof in Ostfriesland wie ein Mantra vor uns hingesagt haben, wenn wir wieder einmal schlechte Noten bekamen: dass der Mensch nur auf zehn Prozent seiner geistigen Kapazitäten zurückgreife. Dieser Mythos diente uns einerseits wunderbar als Entschuldigung für unser schulisches Versagen, andererseits als Legitimation, mit allerlei Drogen experimentieren zu dürfen, um an die verbleibenden neunzig Prozent heranzukommen. Aber was wir auch nahmen, es hatte nicht den gewünschten Effekt. Im Gegenteil, je mehr wir tranken, rauchten, einwarfen, desto beschränkter wurden wir, und egal, wie genial wir uns im Moment des tiefsten Rausches auch vorkamen, nachdem wir wieder klar im Kopf waren, konnten wir mit dem, was wir währenddessen notiert oder skizziert hatten, nichts mehr anfangen. Und jetzt stehe ich hier und habe das Gefühl kurz davor zu sein, die Türen meiner Wahrnehmung weit aufzustoßen. Die brachliegenden Kräfte unseres Geistes nutzen! Unsere natürlichen Fähigkeiten vervollständigen! Aufmerksamkeit und Kreativität fördern! All das klingt wie ein fantastisches und doch genau auf mich als Schriftsteller zugeschnittenes Versprechen: Schreibblockaden überwinden und mein Leistungsvermögen spielend steigern. Schreiben wie im Schlaf. Ich muss nur an die richtigen Dinge denken, meine Probleme mit ins Bett nehmen, so stelle ich es mir vor, und dann lösen sie sich wie von selbst.

»Kommst du?« Adam steht in der offenen Tür. »Wir müssen nur noch über diesen Gang. Dann sind wir da.«

Wir betreten ein kleines Zimmer mit vier Schreibtischen, alle leergeräumt. Im Regal steht ein Lötkolben neben ein paar Büchern. Auf ein White Board hat jemand »study in progress« geschrieben. Im Fenster hängt ein Traumfänger. Ich hatte eine Art Schlaflabor erwartet, das schwarze Sofa, das ich in den Videos gesehen habe, Monitore, den Roboter. Stattdessen wirkt der Raum verlassen, wie aufgegeben, als hätte das Team, das hier tätig war, sich neuen Aufgaben in einem anderen Labor zugewandt und nur das Überflüssigste zurückgelassen. Und womöglich ist das auch so, womöglich beschäftigen sie sich längst mit anderen Dingen, und ich bin zu spät, um Dormio selbst auszuprobieren.

»Alle träumen, auch wenn manche sich nicht daran erinnern können oder wollen«, sagt Adam, nachdem wir uns gesetzt haben. »Der Schlaf, das sind etwa acht Stunden unseres täglichen Lebens, und Träume sind die Erfahrungen dieses Zeitraums – wieso wird das nicht systematisch erforscht, warum interessiert das niemanden?«

»Aber es interessiert die Leute doch«, sage ich.

»Ja«, sagt Adam, »außerhalb der Universität schon. Aber innerhalb einer Forschungsinstitution wie dieser war das lange sehr schwierig, Träume zu untersuchen. Da waren all die sexuellen, psychodynamischen, Freud’schen Assoziationen. Das alles war schwer zu greifen. Du konntest nicht einfach eine Förderung beantragen, und du konntest darauf auch keine wissenschaftliche Karriere aufbauen, keine Professur.«

Adams Stimme wird höher, je länger er darüber spricht. Bei jedem Wort schwenkt er in seinem Drehstuhl leicht hin und her und wirft die Arme in die Luft, als könne er es immer noch nicht fassen, weshalb manche Leute seine Begeisterung für dieses Thema nicht teilen und dass es so schwer war, für seine Forschung akademische Anerkennung zu erfahren.

»Und gerade deshalb hat es mich interessiert. Träume sind ein so weites Feld, mit all ihren fächerübergreifenden Implikationen, religiösen, politischen, historischen, psychologischen, gesundheitlichen, neurologischen, medizinischen –«

»Ich dachte«, unterbreche ich Adam, »hier am MIT wäre das anders, ich dachte, hier wären die Leute aufgeschlossener gegenüber Innovationen.«

Adam hält inne und sieht mich an. »Das MIT ist in vielerlei Hinsicht sehr konservativ. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nehmen sich hier sehr ernst, und das zeigt sich unter anderem darin, was sie als unseriös disqualifizieren. Worauf ich hinauswill: Wenn ich erzählt habe, was ich mache, haben manche gesagt, ‚Das ist Blödsinn. Träume gibt es nicht. Träume sind nichts weiter als mentaler Müll.‘»

»Geht es hier nicht darum, die Zukunft zu erforschen?« Mit dem Stift in der Hand zeige ich auf die Tür und komme auf die Plakate an der Fensterfront zu sprechen, an der wir vorhin vorbeigegangen sind. »Traumlandschaften – das ist doch wie eine Terra incognita der Seele.«

Daraufhin klärt mich Adam über wissenschaftliche Methodik auf, spricht über Karl Popper und dessen vernichtendes Urteil über Freuds Psychoanalyse. »Nach Karl Popper strebt der Falsifikationismus nach einem permanenten Hinterfragen und Widerlegen von Hypothesen, nicht danach, sie zu beweisen. Für Popper war Psychoanalyse eine Pseudowissenschaft. Und er hat in seiner Beurteilung speziell auf Freud und dessen Traumdeutung Bezug genommen. Er kritisierte aber nicht das Subjekt, sondern die Methode. Die Traumforschung hatte es deshalb über Jahrzehnte schwer.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Wenn du an Albträumen leidest, zum Beispiel als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung, hast du ein vielfach höheres Risiko, Suizid zu begehen. Du fällst womöglich leichter in die Drogenabhängigkeit zurück. Deine Träume können darauf hindeuten, ob du Monate nach einem Todesfall, einer Scheidung, einer Trennung eine Depression erleidest. Es wäre dumm, das alles zu ignorieren. Mein Job besteht darin, all diese Korrelationen vor den Leuten auszubreiten und ihnen zu sagen: ›Wir sind zufällig auf diese Daten gestoßen, und wir haben bewiesen, dass wir Träume beeinflussen können. Wollen wir nicht gemeinsam den nächsten Schritt gehen – und versuchen, diese klinischen Ergebnisse zu verändern, indem wir unsere Träume verändern?‹«

Träume verändern, das ist das entscheidende Stichwort, der Grund, warum ich hergekommen bin.

Wachtraum: Lassen sich Menschen in den Kopf schauen?

Adam Horowitz hat gerade seine Doktorarbeit zu dem Thema veröffentlicht. Darin beschreibt er die historischen und religiösen Vorläufer forcierten Träumens von den alten Ägyptern über die Juden und Christen der Bibel bis hin zu indigenen Gemeinschaften, die das Träumen noch heute als festen Bestandteil ihrer Kultur betrachten. Er geht auf die ersten wissenschaftlichen Versuche ein, so zum Beispiel von William Dement und Edward A. Wolpert, die 1958 Probanden daran hinderten, einen Tag lang Flüssigkeit zu sich zu nehmen, um anschließend fünf Nächte lang im Schlaflabor ihre REM-Träume aufzeichneten, von denen einige, wenig verwunderlich, von Durst handelten.

Das Herzstück von Adams Arbeit ist aber die von ihm und seinem Team entwickelte Methode der seriellen Targeted Dream Incubation (TDI) – was man mit »gezielter Traumausbrütung« übersetzen könnte – während der Einschlafphase und dem ersten Non-REM-Stadium. Die Traumbilder dieser Übergangsphase werden als besonders surreal wahrgenommen und mit hoher Gestaltungskraft in Verbindung gebracht. Um den Eintritt in diese Phase zu messen, haben Adam und seine Kolleg:innen mit Dormio ein einfaches, mobiles und kostengünstiges Gerät hergestellt und mit Proband:innen vier Studien durchgeführt: zur Behandlung von Albträumen, zu Tagträumen, zur ersten REM-Phase und zur Kreativität. Dormio besteht aus einem an der Hand befestigten Sleep Tracker und – ein Roboter ist inzwischen nicht mehr nötig – einer App, die mit den Proband:innen kommuniziert und die deren Traumberichte via Smartphone oder Laptop aufnimmt.

Die Traumausbrütung zielt dabei vor allem auf einen Moment ab: Die Verschiebungen in der Hirnfunktion, die während des Schlafes auftreten, kehren sich nach dem Erwachen nicht sofort wieder um. Der Blutfluss im Hirnstamm, im Thalamus und in einem Teil der Großhirnrinde wird zwar rasch wieder hergestellt, in einem anderen Teil jedoch, der sensorische Signale empfängt und für die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten zuständig ist, kann es noch bis zu 20 Minuten dauern. Die Technik von Dormio macht sich dieses Zeitfenster der veränderten, halb schlafenden Hirnfunktion zunutze, in dem es durch ein bestimmtes Wort Trauminhalte triggert und so immer wieder neue Träume anstößt.

Wie verletzlich wir sind, wenn es ums Träumen geht, bewies Rubin Naiman, Professor für Medizin an der Universität von Arizona, in einem 2017 in den Annals of the New York Academy of Sciences veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Dreamless – the Silent Epidemic of REM Sleep Loss. Darin zeigte er, wie sich der Entzug oder Verlust des REM-Schlafs durch Einnahme von Medikamenten, Drogenmissbrauch, bestimmten Verhaltensweisen oder einem gewissen Lebensstil auf die menschliche Gesundheit auswirkt und zu Krankheiten, Depressionen und einer Erosion des Bewusstseins führt.

Träumen ist sinnvoll, unverzichtbar. Ohne Träume wären wir nicht überlebensfähig. Und trotzdem gibt es auf die Frage, warum und in welchen Schlafphasen wir träumen, immer noch keine wissenschaftlich zufriedenstellende Antwort.

Tierversuche erweisen sich diesbezüglich als nutzlos. Hunden, Katzen, Affen, Ratten oder Mäusen kann man in dieser Hinsicht ebenso wenig in den Kopf schauen wie Menschen.

Es gibt keinen Weg, Träume objektiv zu beurteilen. Sie entziehen sich einer wissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Die einzige Möglichkeit, zu erfahren, was jemand geträumt hat, besteht darin, ihn zu fragen, und das, was dann zum Vorschein kommt, ist womöglich nicht einmal das, was diese Person tatsächlich geträumt hat, sondern nur das, was sie im Nachhinein behalten und sprachlich und logisch so verknüpft hat, damit das, was sie sagt, in einem einigermaßen sinnvollen Zusammenhang steht, so unwahrscheinlich der auch am Ende sein mag.

Aber messbares Feedback gibt es auch ohne Befragung: Jede Beeinflussung unseres Schlafes hat Folgen. Wie wirkmächtig diese mitunter sein können, hat 2014 die Neurowissenschaftlerin Anat Arzi von der Universität Cambridge herausgefunden, indem sie Proband:innen, die unter Nikotinabhängigkeit litten, im Schlaflabor dem Geruch von Zigaretten und verfaulten Eiern aussetzte, woraufhin diese in den Folgetagen 30 Prozent weniger rauchten als zuvor. Im Wachzustand blieb die Kombination der beiden Gerüche folgenlos.

Dream Hacking – auch für Brauereien interessant

Offenbar spielt der Kontrollverlust eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung oder Verknüpfung von Informationen. In dem Moment, in dem wir unseren Schutz ablegen, unsere Vorsicht, in dem wir uns fallenlassen, machen wir uns angreifbar. Zumindest sind wir, so scheint es, dann eher geneigt, uns auf etwas einzulassen, das wir unter normalen Umständen nicht tun würden. Ich muss an Edward Barneys denken, Freuds Neffe. Barneys gilt als Vater der Propaganda, der psychologischen Beeinflussung der Massen. Im Auftrag von Lucky Strike versuchte er Frauen als Zielgruppe zu gewinnen, indem er die Farben der Marke zur Mode machte. Bis in die 1940er Jahre waren die Zigarettenpackungen überwiegend grün. Daher organisierte Barneys im New Yorker Waldorf Astoria Hotel einen Green Ball. Er schaffte es, dass Berühmtheiten in grünen Kleidern erschienen, dass das Menü aus grünen Zutaten bestand, dass Kunstwissenschaftler und Psychologen Vorträge über die Farbe Grün hielten, dass die Medien das Thema aufgriffen und Grün zum letzten Schrei erklärten. Und das wirkte sich letztlich positiv auf den Absatz der Zigaretten aus.

Die Werbeindustrie arbeitet seit fast hundert Jahren mit solchen Mitteln, und so wundert es mich wenig, als ich höre, dass der Coors Bierbrauereikonzern mit dem Media Lab des MIT Kontakt aufgenommen hat, um zu fragen, ob sie an einer Werbekampagne teilnehmen möchten. Coors wollte Dormio nutzen, um die Leute von Bier träumen zu lassen und so den Umsatz während des Super Bowls zu steigern. Adam und seine Kolleg:innen verweigerten zwar die Zusammenarbeit, aber da ihr Verfahren ganz bewusst keinem Schutz unterliegt, machte es sich Coors ganz einfach zu eigen und ließ andere Wissenschaftler:innen als Fürsprecher:innen in einem als Doku getarnten Spot auftreten. Außerdem ermutigte Coors Kund:innen, sich in der Nacht vor dem am Sonntag stattfindenden Football-Finale vor dem Schlafengehen ein kurzes Online-Video anzusehen und dann während des Schlafes eine achtstündige »Soundscape« abzuspielen. Bei Erfolg würde diese »gezielte Trauminkubation« nach Angaben des Unternehmens »erfrischende Träume« auslösen. Coors ist kein Einzelfall. Einer Umfrage der American Marketing Association zufolge wollen von 400 befragten Firmen 77 Prozent Dream Hacking Methoden in den nächsten Jahren verwenden. Und da Tech-Giganten wie Apple, Amazon oder Google mit ihren smarten Lautsprechern und virtuellen Assistenten längst in unsere Wohnungen Einzug gehalten haben, wäre es ein leichtes, diese auch fürs gezielte Träumen einzusetzen. Die Voraussetzungen sind da, um einen Teil von 1984 Wirklichkeit werden zu lassen.

Weil Adam Horowitz aber ein grundsätzlich positiv gestimmter Mensch zu sein scheint, betont er sowohl in seiner Doktorarbeit als auch im Gespräch vor allem das kreative Potenzial, das Dormio innewohnt, er nennt es »Schlaf als Quelle kreativer Einsicht«. Mehrere seiner Studien legen nahe, dass Trauminhalte sich unmittelbar auf die Leistung nach dem Aufwachen auswirken: Gelerntes wird eher verinnerlicht, Erfahrungen besser abgespeichert und die Kreativität gefördert. Als wir darauf zu sprechen kommen, muss ich an ein Interview von Haruki Murakami in der Paris Review denken, in dem er sich zum Verhältnis von Schreiben und Träumen geäußert hat: »Für mich ist das Schreiben eines Romans wie ein Traum. Beim Schreiben eines Romans kann ich absichtlich träumen, während ich noch wach bin. Ich kann den Traum von gestern heute fortsetzen, was man im Alltag normalerweise nicht tun kann. Es ist auch eine Möglichkeit, tief in mein eigenes Bewusstsein abzutauchen. Ich sehe es also als traumhaft, aber nicht als Fantasie. Für mich ist das Traumhafte sehr real.«

Tatsächlich geht es mir ähnlich, obwohl ich das Schreiben bisher nicht mit Träumen in Verbindung gebracht habe. Ich kann einen Text noch so sehr im Voraus planen, während des Schreibens verändert er sich. Die Sprache entwickelt ein Eigenleben – nie so, dass sie sich ganz meiner Kontrolle entzieht, aber doch insoweit, dass ich durch das Schreiben auf Ideen komme, auf die ich im Zustand des Nicht-Schreibens niemals gekommen wäre. Da entsteht etwas Neues, da setze ich Dinge miteinander in Verbindung, die bisher in keinem Zusammenhang standen. Es ist ein ständiges Ausprobieren, Vorwärtstasten, Löschen und Neuansetzen. Produktiv, variabel, aber auch flüchtig, wie Träume es sein können.

Thomas Edison kannte den Traum-Trick

Robert Stickgold, Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School, und Antonio Zadra, Professor für Psychologie an der Université de Mentréal, entwickeln in ihrem 2021 erschienenen Buch When Brains Dream eine Theorie, die sie NEXTUP nennen, Network Exploration To Understand Possibilities. Ihre These ist, dass die Funktion des Träumens darin besteht, aus vorhandenen Informationen neue Erkenntnisse zu gewinnen, indem wir dabei Zusammenhänge entdecken, die wir während des Wachseins übersehen. Träumen ist demnach ein genuin kreativer Prozess. Ständig werden in unserem Kopf Was-wäre-wenn-Szenarios durchgespielt und für wenige Minuten Parallelwelten erschaffen, um herauszufinden, ob eine davon uns helfen kann, mit der Realität fertigzuwerden. Ein Assoziationsfeuerwerk. Ein Möglichkeitskonverter.

Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Musiker:innen und Erfinder:innen hätten sich den Schlaf seit jeher zunutze gemacht, erklärt Adam, und im Prinzip das gleiche Verfahren angewandt wie er und sein Team mit Dormio und TDI. Thomas Edison pflegte, sich während der Arbeit in seinem Labor mit einem Ball in der Hand für ein Nickerchen hinzulegen, vorzugweise unter seinem Schreibtisch oder auf einer Werkbank, vor allem, wenn er auf ein Problem stieß und nicht weiterkam. Sobald Edison einnickte, entspannten sich seine Muskeln, seine Finger öffneten sich und der Ball kullerte zu Boden. Daraufhin erhob Edison sich und notierte das, was er geträumt hatte, in einem bereitliegenden Notizbuch oder diktierte es einem seiner Mitarbeiter. Der surrealistische Maler Salvador Dalí nutzte das gleiche Verfahren, bloß mit einem Schlüssel. Mit dem Geräusch des herabfallenden Schlüssels wachte er auf, den Kopf voller frischer verrückter Visionen, die er so schnell wie möglich auf Papier oder Leinwand bannte, bevor sie seinem Bewusstsein wieder entschwanden.

Ich frage Adam, ob ich selbst auch eintauchen kann in diese Welt, ins Reich der Hypnagogie. Ich möchte diese Erfahrung machen, möchte herausfinden, was in mir passiert, wenn er mir ein Wort mitgibt auf die Reise ins Land der Träume, welche Abenteuer und Geschichten ich dann erlebe. Ich habe die vage Hoffnung, die TDI-Methode auszuprobieren zu können, hier und jetzt, obwohl nichts in diesem Raum dem Setting gleicht, das ich in den Videos und Film-Stills gesehen habe, kein Sofa, kein Kissen, keine entspannende Atmosphäre.

»Ich habe nichts mehr hier«, sagt Adam, »mein letztes Gerät habe ich einem anderen Schriftsteller geliehen.« Um mir wenigstens etwas zu präsentieren, zieht er eine Schublade auf und holt ein paar Platinen hervor, Überreste der ersten Prototypen von Dormio, die noch sehr viel stärker an Handschuhe erinnerten. Zum Teil handelte es sich sogar um echte Fingerlinge, auf deren Rücken Platinen wie diese befestigt gewesen waren. Ich kann es nicht fassen. Da bin ganz aus Deutschland angereist, und alles, was ich zu sehen bekomme, sind Leiterplatten mit Kontakten, Modulen und Mikrokontrollern, noch dazu ältere Versionen, die längst überholt sind, womöglich nicht einmal mehr funktionstüchtig. Ich hatte mich in einem Zukunftslabor gewähnt und bin in einem Museum gelandet.

Adam sieht mir meine Enttäuschung an. »Im Grunde brauchst du Dormio nicht,« sagt er und legt die Platinen in die Schublade zurück.

»Du meinst, alles, was ihr entwickelt habt, ist nicht unbedingt nötig?«

Adam schüttelt den Kopf. »Du kannst auch eine Freundin oder einen Freund bitten, deinen Schlaf zu überwachen, dir ein Wort einzuflüstern, wenn es soweit ist, und das dann aufzuzeichnen, was du sagst, was du geträumt hast.«

Es klingt, als wäre seine Mission beendet, alle Geräte sind weg, die Doktorarbeit ist publiziert, seine Aufgabe ist erfüllt, als hätte er als Mentor nur eine Kultur des Träumens anstoßen wollen. Wie es weitergeht, kann ich für mich selbst gestalten. Meine Träume liegen in meiner Hand. Ich bestimme, was darin geschieht.

Während wir das Media Lab verlassen und uns auf dem Campus die milde Herbstluft umfängt, stelle ich mir die nächsten Wochen, Monate, Jahre vor, wie es sein wird, wenn ich mich mit Freunden zum Träumen verabrede, wenn überall Traumstudios eröffnen, wenn das Träumen zu einer Art Yoga wird, einer allseits anerkannten Praxis des Denkens und Fühlens.

Erschienen am 30. März 2023

Text
Jan Brandt

Illustration
Erich Brechtbühl