Fußball ist Leidenschaft, heißt es. Doch wird der Deutschen Lieblingsspiel immer mehr zur Wissenschaft: Quoten und Daten, Analyse-Tools und Statistiken entscheiden mit über Sieg und Niederlage.

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Torben Dietrich

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Fabian Genthner

„Und jetzt zu Stani“: FC St. Pauli-Legende Holger Stanislawski steht im Kapuzenpulli im EM-Studio des ZDF und zeigt nach jeder übertragenen Begegnung der Fußball-EM eine eingefrorene Spielszene auf seinem Touchscreen. Kreise, Pfeile und Rechtecke flimmern um die Spieler herum, mit einer Wischbewegung auf dem Screen zeigt der TV-Experte freie Räume auf, in die ein Stürmer hätte hineinlaufen können oder er markiert freie Mitspieler, die nicht angespielt wurden. Hätte, wäre, wenn… „Der springende Punkt ist eben immer noch der Ball“, sagte einst Trainerlegende Dettmar Cramer.

Generationen von Trainern arbeiten seit jeher daran, ihre Elf bestmöglich auf ein bevorstehendes Match vorzubereiten – von der Champions League bis zur Kreisklasse. Hochklassigen Clubs stehen heute zur Analyse eines Fußballspiels so ausgefeilte Visualisierungstechniken zur Verfügung, dass selbst dem taktisch ungeschulten Fernsehzuschauer gelungene oder auch verpasste Spielzüge am Bildschirm erklärt werden können. Eigentliches Ziel der aufwendigen Technik ist allerdings, optimale Lösungen für Spielsituationen zu entwickeln.

Hätte, wäre, wenn… »Der springende Punkt ist eben immer noch der Ball«

Dafür muss man viele Daten sammeln. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet in Europa ist Prof. Dr. Daniel Memmert vom Institut für Kognition und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Als Partner des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) betreibt sein Institut die Spielanalysen für die A-Nationalmannschaft – und hat somit einen Anteil an ihren Erfolgen in den letzten Jahren. „Mit mehreren Kameras werden zunächst Videodaten gesammelt“, erklärt der Sportwissenschaftler. „Eine davon, Kamera 1 auf der Haupttribüne, filmt das gesamte Spielfeld, ähnlich dem Blick des Besuchers im Stadion. Das ist deutlich umfassender als das, was der Fernsehzuschauer zu sehen bekommt.“

Darüber hinaus würden durch weitere Kameras die x- und y-Koordinaten jedes Spielers und des Balles auf dem Spielfeld automatisch aufgezeichnet. „So können zum Beispiel Laufdistanzen, Laufwege und Passquoten erfasst werden“, sagt Memmert. Und schränkt gleich ein: „Ballbesitz und Passquote taugen nicht als Erfolgsformel.“

Deswegen gehen die Kölner in ihrer Beobachtung noch tiefer. Die taktischen Mittel von Mannschaften hatte die klassische Spielanalyse bisher nicht so stark im Fokus. Nun entwickelte Memmerts Institut ein Analyse-Tool mit dem programmatischen Namen SOCCER: „Damit können wir innerhalb weniger Sekunden viele Indikatoren herausarbeiten, die für einen positiven Spielausgang mitentscheidend sind“. Etwa, wie schnell Spieler nach Ballverlusten verschoben haben oder wie viel Raum von einem Spieler kontrolliert wird. Der Fußball-Professor konnte damit zum Beispiel beobachten: „Das Team, das vor und im gegnerischen Strafraum eine höhere Raumkontrolle hat, also den Ball nicht so schnell wieder verliert, hat eine höhere
Wahrscheinlichkeit, am Ende zu gewinnen“.

Kann es das geben, das perfekte Spiel?

All die erfassten Tacklings, Flanken und Eckstöße – machen sie die Teams wirklich besser? Und gibt es aus Sicht der Informatiker überhaupt das „perfekte Spiel“?

„Was erfolgreich ist, ist perfekt“, sagt Memmert. So einfach sei das. Dabei kommt es natürlich auf die Perspektive an. Der FC Barcelona wurde lange mit dem modernsten und gleichzeitig vollkommensten Fußball gleichgesetzt – aber auch immer wieder von Teams geschlagen, die sich perfekt darauf verstanden, das Spiel des Favoriten dank genauer Analysen zu stören und seine Waffen stumpf zu machen. Auch der isländische Trainer Heimir Hallgrímsson verdeutlichte vor dem EM-Achtelfinalspiel gegen England, welche Bedeutung heutzutage der Spielanalyse zukommt: „Wir wissen alles über sie. Sie aber nicht über uns.“ Das Ergebnis ist bekannt: Der Außenseiter Island gewann 2:1.

»Wir wissen alles über sie. Sie aber nicht über uns.«

Sind Daten also alles im Fußball? Max Rother zumindest will nichts dem Wetter, den Emotionen der Spieler oder den Platzverhältnissen überlassen. Jedenfalls so wenig wie möglich. Rother ist Spielanalyst bei einem norddeutschen Traditions-Profiklub. Aus der Masse der von der Deutschen Fußball Liga (DFL) zur freien Verfügung gestellten Daten isoliert er diejenigen, die für die perfekte Vorbereitung auf das nächste Spiel wichtig sind. Die Kunst sei, herauszufinden, welche Werte eine echte Aussagekraft haben. Interessant werde es, sobald man in den Datensätzen bestimmte Muster erkennen könne, erklärt Rother. Zum Beispiel die Zahl der geschlagenen Flanken, die ihren Abnehmer fanden. „Wir schauen uns auch die Gesamtlaufstrecke an“, sagt Rother. „Aber allein dieser Wert zeigt noch keinen signifikanten Zusammenhang zum Spielerfolg. Ob ein Team 110 oder 115 Kilometer rennt, spielt keine Rolle, denn allein hat dieser Wert keine Aussagekraft.“ Auch die Zahl der „Packing“-Situationen, das Überspielen von Gegenspielern, kann ein Qualitätsmerkmal sein. „Diese Analyse ist ein cooles Tool“, schwärmt Rother. Es sei aber nur brauchbar, wenn die Position des Ballführenden und auch die Spielphilosophie der jeweiligen Mannschaft mit einbezogen werden. Ein eindeutiger Erfolgsindikator sind die Packings also auch nicht.

Vorbild für die Datensammler: die amerikanische NBA

In der US-Basketball-Profiliga NBA sind die Statistiker schon einige Schritte weiter. Jede noch so kleinste Bewegung auf dem Court wird aus verschiedensten Blickwinkeln gefilmt und ausgewertet. Am Ende kann der Coach einschätzen, welche Spielerkombination mit welcher Taktik des Gegners am besten zurechtkommt. Sämtliche Werte und Entscheidungen eines Spielers werden von Analysten berechnet. Die sogenannten „Advanced Statistics“ münden schließlich in eine mehrere Zeilen lange Formel: die „Player Efficiency Rate“. Und wenig überraschend küren die Statistiken jenen Spieler zur Nummer 1, den auch der Fan intuitiv als den besten einschätzt: Michael Jordan.

Zurück zum Fußball, zurück zu Max Rother. Die von der DFL beauftragten Firmen messen in jedem Spiel insgesamt etwa 3,1 Millionen Positionen, von allen 22 Spielern und dem Ball. Daraus den Schlüssel zum eigenen Erfolg zu schmieden, ist die große Herausforderung für jeden Spielanalysten. „Guardiola oder Ancelotti nutzen diese Daten jeweils komplett anders“, sagt Rother. Beim FC Bayern etwa sitzen, nach den Informationen von Daniel Memmert, zwölf Spielanalysten – so viele wie nirgendwo sonst in der Bundesliga.

Peter Junglaß pfeift auf solche Daten. Der 61-Jährige steht im blauen Trainingsanzug auf einem Sportplatz im niedersächsischen Dettum, einer 1200-Seelen-Gemeinde zwischen Harz und Heide. Hinter ihm schwitzen die Spieler des Dorfvereins beim Hütchenlauf. Junglaß ist ein Trainer alter Schule, von Kinder- bis Herrenmannschaften hat er schon alles betreut. „Unsere Daten liefert die Ligatabelle“, lacht er. „Torverhältnis, Tabellenstand und die letzten Spielergebnisse sagen uns, wie stark der Gegner etwa ist.“ Jahrelange Erfahrung als Kreisklasse-Trainer hat Junglaß’ Sinne geschärft. „Beim Warmmachen sieht man den Gegner ja auch und kann ihn einschätzen.“ Als Trainer wisse er, auf welche seiner Spieler er dann setzen kann, um seine Vorstellung vom perfekten Spiel zu realisieren – sofern diese denn am Sonntagmorgen da sind. Insgesamt, sagt er, gelte in der Kreisklasse aber das Prinzip: „Man muss sich überraschen lassen“.

Erschienen am 18. März 2018 

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Fabian Genthner