Thema:
Besser als Bio?

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Bernd Eberhart

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Lenni Baier

 

 

 

 

 

 

In den nächsten 30 Jahren wird die Menschheit wohl auf 10 Milliarden anwachsen. Wie können wir in Zukunft die Welt ernähren – ohne die Natur vollends zu zerstören?

Eigentlich war die Welt ja dabei, den Hunger abzuschaffen. Am 1. Januar 2016 traten die »Sustainable Development Goals« der Vereinten Nationen in Kraft, 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Welt. Bis zum Jahr 2030 sollen sie umgesetzt sein. Eines davon: »Zero Hunger« – null Hunger. Doch die Welternährungsorganisation FAO zog dieses Jahr eine ernüchternde Zwischenbilanz: Rund 735 Millionen der acht Milliarden Menschen auf der Erde hungern noch immer. Vergangenes Jahr waren rund 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren weltweit wegen Nahrungsmangels in ihrem Größenwachstum beeinträchtigt. Für das Jahr 2030, in dem der Hunger abgeschafft sein sollte, sagt der Bericht noch 600 Millionen Hungernde voraus.

Gleichzeitig zeigt sich schon jetzt, dass unsere Ernährung einen hohen Preis hat: Wachsende Ackerflächen vernichten Naturraum, Landwirtschaft ist verantwortlich für sinkende Grundwasserspiegel, Insektensterben, Überdüngung, Erosion und Verdichtung von Boden. Die Frage ist also weniger: Wie lässt sich die Welt ernähren? Sondern: Wie lässt sich in Zukunft eine um ein Viertel weiter gewachsene Menschheit ernähren – ohne die Welt vollends zu zerstören?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zwei Punkte genauer anschauen. Erstens: Die Gründe für den Hunger.  Zweitens: Die Belastungsgrenzen unseres Planeten.

Vergangenes Jahr waren rund 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren weltweit wegen Nahrungsmangels in ihrem Größenwachstum beeinträchtigt.
Vergangenes Jahr waren rund 150 Millionen Kinder unter fünf Jahren weltweit wegen Nahrungsmangels in ihrem Größenwachstum beeinträchtigt.

Aktuell hungern Menschen, weil ihnen die Ernte ausgefallen ist, beispielweise aufgrund von Dürren oder anderen Wetterextremen, die sich mit fortschreitendem Klimawandel noch vermehren. Auch die vielen bewaffneten Konflikte verschärfen den Hunger auf der Welt. Doch gibt es auch ein gigantisches Verteilungsproblem. Die Nahrungsmittelproduktion ist auf einem historischen Höchststand, der alle Menschen satt machen könnte. Viele werden sogar mehr als satt: Auch die Zahl der Übergewichtigen erreicht mit rund zwei Milliarden einen Rekord. Wären wir also erfolgreicher im Lösen von Konflikten und effizienter im Verteilen von Nahrungsmitteln, dann müsste, theoretisch, im Jahr 2023 kein Mensch auf dieser Erde hungern.

Im Jahr 2050, so gängige Prognosen, werden wir gut zehn Milliarden Menschen zählen, die alle satt werden wollen.

Und dennoch hätten wir das Problem des Hungers allenfalls aufgeschoben. Denn die Landwirtschaft muss mit zwei Entwicklungen schritthalten, die nach heutigem Kenntnisstand unabwendbar sind. Einerseits wächst die Weltbevölkerung stetig. Im Jahr 2050, so gängige Prognosen, werden wir gut zehn Milliarden Menschen zählen, die alle satt werden wollen. Andererseits ist da der Klimawandel, der die Erdatmosphäre im Schnitt um mindestens 1,5 Grad Celsius aufheizt – und zu dem die Landwirtschaft auch beiträgt: Der Weltklimarat IPCC schätzt, dass Lebensmittelproduktion und -verteilung zusammen für 21 bis 37 Prozent aller menschengemachten Klimagase verantwortlich sind. Um also langfristig alle Menschen satt zu kriegen und gleichzeitig unseren Planeten zu erhalten, brauchte es neue Ansätze für die Welternährung.

Der Geowissenschaftler Dieter Gerten versucht, diese Ansätze auszuloten. Er ist Professor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und koordiniert dort die Erdmodellierung: riesige Computersimulationen, die unsere Land-Biosphäre, den gesamten belebten Raum unserer Erdoberfläche also, so genau wie möglich abbilden sollen. Für eine im Jahr 2020 im Fachjournal »Nature Sustainability« veröffentlichte Studie wollten Gerten und sein Team insbesondere herausfinden, an welchen Punkten unsere Nahrungsproduktion die Grenzen der Nachhaltigkeit sprengt.

Als Grundlage zogen sie die sogenannten »Planetary Boundaries« heran, die Belastungsgrenzen unserer Erde. Das Konzept, entwickelt unter dem Umweltwissenschaftler und heutigen PIK-Direktor Johan Rockström, unterteilt unseren Planeten in neun funktionelle Prozesse. Werden deren jeweilige Belastungsgrenzen auf Dauer überschritten, ist das Ökosystem Erde gefährdet – und damit langfristig auch die Lebensgrundlage für uns Menschen.

In den hochproduktiven Regionen der Welt mit intensiver Landwirtschaft, werden bis zu 70 Prozent aller Kalorien auf eine Art erzeugt, die planetare Grenzen überschreitet.

Dieter Gerten und sein Team haben sich für ihre Arbeit auf vier dieser Grenzen konzentriert, welche die Landwirtschaft am unmittelbarsten betreffen. Erstens auf die Biosphäre, die Vielfalt von Pflanzen und Tieren. Zweitens auf Landnutzungsänderungen, etwa durch Abholzung von Wäldern. Drittens auf den Süßwasserverbrauch. Und viertens auf die biogeochemischen Kreisläufe, speziell den Stickstoffkreislauf. Dann haben sich die Wissenschaftler angeschaut, in welchen Weltregionen die heutige Landwirtschaft eine dieser Grenzen sprengt – und bekamen einen Schreck. »Wir haben gesehen, dass fast die Hälfte unserer Nahrungsmittelproduktion durch Verletzung dieser Umweltgrenzen geschieht«, sagt Gerten.

In den hochproduktiven Regionen der Welt mit intensiver Landwirtschaft, zeigte die Computersimulation, werden bis zu 70 Prozent aller Kalorien auf eine Art erzeugt, die planetare Grenzen überschreitet. Der Osten der USA und einige Regionen Chinas und Europas sind vor allem von einer Überdüngung mit Stickstoff betroffen. In weiten Teilen der Tropen gefährdet der Ackerbau die Unversehrtheit der Biosphäre. In den Subtropen bereitet ein zu hoher Wasserverbrauch Probleme. Und mancherorts, in Gegenden Indiens, Perus und Irans etwa, werden gleich drei planetare Grenzen auf einmal überschritten.

Ein »Weiter so«, das zeigt die Simulation detailliert, ist schlicht unmöglich. Aber: Würden wir die planetaren Grenzen strikt einhalten, schreibt Gerten in seiner Studie, »könnte das aktuelle Nahrungssystem nur 3,4 Milliarden Menschen ausgewogen ernähren«. Das heißt: kaum die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung.

So weit, so schlecht. Doch Dieter Gerten hat es nicht bei dieser Negativrechnung belassen. Er hat die Simulation weitergedreht: Wenn es Gegenden gibt, in denen die Landwirtschaft über ihre Grenzen geht – gibt es dann vielleicht auch Regionen, in denen sie unter ihren naturgemäßen Möglichkeiten bleibt? In denen die Landwirtschaft intensiviert werden könnte, ohne rote Linien zu überschreiten?

Die gute Nachricht ist: Ja, die gibt es. Laut Gertens Berechnungen wäre die heutige globale Nahrungsproduktion unter Einhaltung der planetaren Grenzen möglich. Mehr noch: Wir könnten sie innerhalb dieser Grenzen sogar noch um die Hälfte steigern – und damit eine Weltbevölkerung von 10,2 Milliarden Menschen ausgewogen ernähren.

Die weniger gute Nachricht: Das ganze System, unsere weltweite Nahrungsmittelproduktion und auch das Konsumverhalten, müsste komplett umgekrempelt werden.

Allein eine weltweite Umverteilung der landwirtschaftlichen Produktionsflächen, die den jeweiligen natürlichen Gegebenheiten Rechnung trägt, kann laut Gertens Simulation die Nahrungsmittelproduktion um fast 30 Prozent steigern. Gleichzeitig könnte die landwirtschaftlich genutzte Fläche um rund ein Sechstel schrumpfen.

Doch all das hätte seinen Preis. Manche Gegenden der Welt, etwa in Asien, müssten ihren Ackerbau komplett einstellen und andere, wie der Mittlere Osten, das Indusbecken oder Teile Europas, diesen so weit herunterfahren, dass sie sich nicht annähernd selbst versorgen könnten. Dafür müsste der internationale Handel massiv ausgebaut werden – und das in einer Welt, die jüngst allerorten Tendenzen zur Renationalisierung erkennen lässt: Allein die russische Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine zeigt, welch fatale Folgen ein gestörter Welthandel mit Nahrungsmitteln haben kann.

Die Computersimulation von Dieter Gerten und Co. betrachtet die natürliche Welt als Einheit. Gerten ist sich bewusst, dass sich in der politischen Welt ein solch radikales Konzept nicht so einfach umsetzen lässt. »Wir wollen mit dieser Studie zunächst nur die Potenziale verschiedener Maßnahmen aufzeigen«, sagt er.

Neben der Umverteilung von Ackerland gibt es weitere Maßnahmen im Szenario, um die Menschen satt zu bekommen. Eine sinnvollere, schonendere Nutzung von Süßwasser und Düngemitteln würde die Menge der produzierten Nahrungsmittel um mehr als 35 Prozent vergrößern, wobei sich gleichzeitig die als Dünger ausgebrachte Menge an Stickstoff um 40 Prozent reduzieren ließe.  Würden wir über die gesamte Produktionskette hinweg weniger Essen wegwerfen, stünden noch einmal 17 Prozent mehr zur Verfügung. Und ein weiteres Fünftel mehr könnten wir erreichen, indem wir tierische Nahrungsmittel deutlich reduzieren.

Würden wir über die gesamte Produktionskette hinweg weniger Essen wegwerfen, stünden noch einmal 17 Prozent mehr zur Verfügung.
Würden wir über die gesamte Produktionskette hinweg weniger Essen wegwerfen, stünden noch einmal 17 Prozent mehr zur Verfügung.

Ganz egal, mit wem man spricht zur Zukunft der Ernährung, dieser Punkt wird immer genannt: Fleisch.

Fragt man Dieter Gerten nach der ersten konkreten Maßnahme, die er umsetzen würde, antwortet er, ohne zu zögern: »Eine Reduzierung der tierischen Produkte und des Fleischanteils in der Ernährung.«

Denn wir stecken unfassbar viele Kalorien in die Aufzucht von Schweinen oder Hühnern, aber nur ein Bruchteil davon landet später als Schnitzel oder Spiegelei auf unseren Tellern. Fleisch erreicht dabei im Schnitt eine unterirdische Quote von weniger als zehn Prozent umgesetzter Futterkalorien, Eier und Milch zwischen 15 und 20 Prozent. Diese Energieverschwendung schlägt sich im Flächenverbrauch nieder: Rund drei Viertel der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche werden für die Fütterung und Haltung von Tieren beansprucht.

Fleisch ist ein radikal dekadenter Genuss. Auch Milchprodukte sind Energievernichter. Wenn man also eines sicher sagen kann auf der komplexen Suche nach einer nachhaltigen Welternährung, dann dies: Der Pro-Kopf-Verbrauch von tierischen Nahrungsmitteln muss dramatisch sinken.

»Wir brauchen eine massive Reduktion der Fleischproduktion«, ist auch Claudia Bieling überzeugt, Agrarwissenschaftlerin an der Universität Hohenheim.

Rund drei Viertel der globalen landwirtschaft-lichen Nutzfläche werden für die Fütterung und Haltung von Tieren beansprucht.
Rund drei Viertel der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche werden für die Fütterung und Haltung von Tieren beansprucht.

Claudia Bieling ist Professorin für Gesellschaftliche Transformation und Landwirtschaft; sie beschäftigt sich also nicht nur mit den ökologischen Auswirkungen von Agrikultur, sondern auch mit den gesellschaftlichen Strukturen, in die sie eingebettet ist. Wo Dieter Gerten die Landwirtschaft aus der Totalen betrachtet, schaut Claudia Bieling eher auf regionale Zusammenhänge. Neben dem Fleischverzicht liegt der Schlüssel für die Welternährung ihrer Meinung nach in der Kleinteiligkeit: „Wir brauchen feingliedrige Ansätze, angepasst an regionale Gegebenheiten. Eine gute, zukunftsorientierte Landwirtschaft sieht in Norddeutschland anders aus als in Süddeutschland.« Wir müssten regionale Wertschöpfungsketten stärken und regionale Produkte neu entdecken. Zum Beispiel Haselnüsse statt Cashewkerne oder Lein- statt Chia-Samen.

Nur auf den ersten Blick beißt sich das mit einer Stärkung der globalen Handelswege, wie Gerten sie für sein Szenario nutzt. Denn auch für Bieling zählt am Ende, welche Produkte wo möglichst sinnvoll angebaut werden können. Zudem sollten wir Landnutzungsformen finden, die unterschiedliche Aspekte verknüpfen, ist sie überzeugt: »Wir dürfen nicht immer auf der einen Fläche mit maximaler Effizienz dieses Produkt und woanders jenes Produkt anbauen. Wir müssen kombinieren und natürliche Synergien nutzen.« Zum Beispiel in Agroforstsystemen, die gleichzeitig verschiedene Nahrungsmittel und Nutzholz produzieren. Was zählt, ist Vielfalt: eine Vielfalt regional optimal genutzter Produkte und Sorten. Aber auch Raum für eine Vielfalt natürlicher Lebensräume und Arten.

Sicher ist: Die Politik muss zeitnah wichtige Weichen für die Welternährung stellen. Aber auch jede und jeder Einzelne kann alltäglich dazu beitragen, einen nachhaltigeren Weg einzuschlagen. Unter dem Dach des renommierten Medizin-Journals »The Lancet« hat eine internationale Expertenkommission 2019 die sogenannte »Planetary Health Diet« ausgearbeitet: Ernährungsempfehlungen, die sich nicht nur an der Gesundheit des Menschen, sondern auch an der unseres Planeten orientieren. Auf der Liste findet sich viel frisches Gemüse, dazu Vollkorngetreide sowie Eiweiße und Öle pflanzlichen Ursprungs. Fleisch, Eier und Milch sind ebenfalls Teil des Speiseplans – in Maßen.

In der Theorie ist sie also möglich, die nachhaltige und gesunde Ernährung von zehn Milliarden Menschen. Das zeigen die Ideen und Simulationen der Wissenschaft. Ob sie auch in der Praxis gelingt? Es wird Engagement und Kraft, guten Willen und Mut zur Wahrheit brauchen. Im Großen wie im Kleinen.

Erschienen am 22. November 2023

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