Vorbei sind die Zeiten des Elfenbeinturms, in denen Wissenschaftler fernab der Öffentlichkeit vor sich hinforschen. Zum Glück! In der Krise zeigt sich mehr denn je: Kommunikation ist der Schlüssel zu gesellschaftlicher Akzeptanz.

Herr Kramer, was lernt die Wissenschaft aus der Krise über Kommunikation?

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Bernd Eberhart ist Redakteur beim Science Notes Magazin.

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Janik Söllner ist freier Illustrator.
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Mir fällt auf, wie sehr die Menschen plötzlich bereit sind, sich an der Wissenschaft zu orientieren. Sie wollen wissen, sie wollen verstehen, was vor sich geht. Da wird die Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts zum Event, und ganz viele Menschen klicken sich durch die echt sperrige Homepage des Instituts und fuchsen sich richtig rein in die Thematik.

Olaf Kramer ist Professor für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen und Herausgeber des Science Notes Magazins. Einer seiner Schwerpunkte ist die Wissenschaftskommunikation.

Die Wissenschaft hat verstanden, dass sie dieses Interesse bedienen muss. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten ganz selbstverständlich, teilweise auf ganz neuen Kanälen und in neuen Formaten. Ihnen ist einmal mehr klar geworden, wie wichtig es ist, Menschen zu erreichen, sie zu informieren und Forschung zu erklären. Und auch, dass es bedeutsam ist, wie sie etwas sagen: Am Anfang gab es diese Aussage, dass Covid-19 nicht viel schlimmer sei als eine Grippe. Das war nicht hilfreich. Mittlerweile formulieren die Wissenschaftler vorsichtiger und sind sich ihrer Verantwortung sehr bewusst.

Input auf allen Kanälen

Und die Medien berichten unermüdlich über Corona. Für mich fühlt sich das an wie eine mediale Massage, Input auf allen Kanälen. Neben den Zeitungen, der Tagesschau und den anderen klassischen Medien habe ich zum Beispiel auf YouTube hervorragende Beispiele gesehen für Berichterstattung und Erklärungen.

Insgesamt spielt dabei auch die visuelle Komponente eine große Rolle. Zum einen auf emotionaler Ebene, da fallen mir die Filmaufnahmen aus Italien ein, die völlig erschöpfte Krankenschwestern zeigen oder Särge, die reihenweise abtransportiert werden. Zum anderen gibt es täglich neue Erklärgrafiken und Animationen zum Krankheitsverlauf und zur Ausbreitung der Pandemie. Von diesen Formen der Darbietung wird sicher einiges bleiben, auch für andere wissenschaftliche Themen. Und es wird gerade viel experimentiert mit Apps, mit Online-Lehrangeboten und mit anderen Innovationen im Einsatz von Medien. Was sich bewährt, werden wir auch nach der Krise nutzen.

»Die Menschen sind süchtig nach Zahlen: wie viele Infektionen, wie viele Todesfälle, welche Sterberaten?«

Die Menschen sind zurzeit geradezu süchtig nach Zahlen. Wie viele Infektionen, wie viele Todesfälle, welche Sterberaten? Ich nenne das die »Magie der Zahlen«: Sie haben den Anschein der harten Fakten, weil sie zunächst völlig objektiv wirken. Den Menschen machen sie damit ein Geschehen besser greifbar und sie geben ihnen ein Gefühl der Kontrolle und der Handlungsfähigkeit. Zahlen sind aber auch gefährlich. Zunächst einmal müssen sie stimmen, natürlich. Und selbst dann ermöglichen Zahlen oft nur eine Art Pseudoverstehen: Sie zeigen eine Momentaufnahme, sind hoch erklärungsbedürftig und müssen interpretiert werden. Das ist die große Herausforderung: komplexe Phänomene so zu erklären, dass man sie erfassen kann, wie etwa das exponentielle Wachstum bei der Infektionsrate. Ich denke, nur wer etwas wirklich verstanden hat, ist auch bereit, sein Verhalten nachhaltig zu ändern und zum Beispiel über lange Zeit zuhause zu bleiben.

Wissenschaft ist ein Prozess

Guter Wissenschaftsjournalismus leistet beides: Er erklärt die Krankheit und ihren Verlauf, aber auch die Prozesse in der Wissenschaft. Dieses Prozesshafte, das fällt vielen Menschen schwer zu verstehen. Oft erwarten sie von der Wissenschaft, dass sie klare Aussagen macht und Orientierung bietet. Auch die Virologen haben aber ja nur Erklärungsmodelle zur Verfügung, die sie immer wieder revidieren und anpassen müssen ­– wie das in der Wissenschaft üblich ist. Die Situation jetzt sehe ich auch als Chance, dass solche Prozesse besser verstanden werden und so das Ansehen der Wissenschaft in der Bevölkerung steigt: So direkt kann man Forschenden selten über die Schultern schauen. Man kann verfolgen, wie neue Erkenntnisse gewonnen werden, wie alte Meinungen revidiert und neue Thesen aufgestellt werden, wie wichtig laufende Korrekturen sind. Manchmal wird dieser Prozess aber auch missverstanden: »Die wissen ja auch nichts«, heißt es dann.

Dass die meisten Menschen erkennen, wie wichtig gute Informationen sind, das ist eine positive Entwicklung in der Krise. Dass sie Populisten den Nährboden entzieht, daran glaube ich aber nicht. Ich befürchte, dass die Coronakrise gerade den Rechtspopulisten in die Hände spielen könnte. Denn als Reaktion auf die Krise werden vor allem nationale Lösungen propagiert. Ein globalisiertes Leben und internationaler Austausch sind leider in den Hintergrund getreten, nationale Lösungen stehen in vielen Ländern im Vordergrund – und das, obwohl wir es mit einer globalen Pandemie zu tun haben. Und vielerorts werden Freiheitsrechte auf sehr autoritäre Weise beschnitten, immer mit dem Blick auf Fallzahlen und Infektionsrate.

Expertinnen aus allen Disziplinen

Ich sehe auch die Gefahr, dass die Stimmung kippt. Wir müssen vermeiden, dass ein Gefühl der »Virologenhörigkeit« oder »Expertokratie« entsteht. Teilweise nehmen sich die Virologen selbst schon zurück, um keine falschen Erwartungen zu schüren. Sicher sind sie essenziell, um die Krankheit zu verstehen. Aber aus ihren Erkenntnissen allein können wir keine allgemeinen Handlungsempfehlungen ableiten. Ich finde es wichtig, dass wir dafür möglichst viele Expertinnen und Experten aus anderen Disziplinen dazu holen, aus der Ethik, der Wirtschaftswissenschaft, der Kulturwissenschaft. Geistes- und Naturwissenschaften sind gleichermaßen gefordert, wenn wir einen Weg aus der Krise finden wollen.

»Wir könnten uns von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge hüllen. Aber das ist kein Leben, das wir führen wollen.«

Die Gesellschaft zahlt einen Preis dafür, dass Ansteckungen verhindert werden. Das müssen wir diskutieren. Wenn wir nur die Todeszahlen fokussieren, ist das zu eng gedacht. Aristoteles spricht von der Maximierung des Glücks. Und zum Glück gehört für mich unbedingt die Freiheit, sie ist ein hohes Gut. Wir müssen laufend die politischen Maßnahmen reflektieren, die unsere Freiheitsrechte einschränken, wir müssen abwägen und Freiheiten beizeiten wiederherstellen. Natürlich könnten wir uns auf lange Zeit alle von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge hüllen und auf alle Kontakte verzichten, dann stecken wir uns sicher nicht an. Aber das ist nicht das Leben, das wir führen wollen.

Erschienen am 08. Mai 2020 

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Bernd Eberhart ist Redakteur beim Science Notes Magazin.

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Janik Söllner ist freier Illustrator.
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