Krisengerede: Corona, Quarantäne, Lockdown, Selbstisolation, Öffnungsdiskussionsorgien. Kitaschließung, Kneipenschließung, Kirchenschließung. Puh. Die Belastung hoch, die Unsicherheit groß und deshalb gefragt: Trost.
Wenn die Kinder auf den Nerven tanzen, die Wirtin das Bier nicht mehr zapft, der Gottesdienst nur auf YouTube gefeiert wird, wenn wir Routinen aufgeben müssen und nicht wissen, wann wir zu ihnen zurückkehren können – dann benötigen wir Trostspenden. Trost ist etwas, dessen wir bedürftig sind und das uns gegeben wird, Zuspruch und Zuwendung, eine Umarmung. Und natürlich gestaltet sich das schwierig in der Zeit der Isolation – besonders dann, wenn unsere Co-Isolierten uns nicht zu trösten imstande sind. Blicken wir auf der Suche nach Trost auf unsere Bildschirme, so scheinen Onlinemedien und unsere sozialen Feeds in etwa fünf Quellen des Trosts zu kennen: Essen, Bücher, Filme, Musik. Und irgendwie auch: Virologen.
Eigentrost
Natürlich: All dies kann uns den Halt geben, den wir zu verlieren drohen, kann uns Zuversicht geben, uns durch die Krise helfen. Das Buch, der Film, die Playlist zur Krise oder die Podcast-Stimme der Vernunft versprechen Anteilnahme, Verständnis, Linderung. Und tatsächlich kann man auf Tröstliches stoßen – wenn auch anders, als zunächst gedacht. Etwa die von der Twitter-Buchempfehlungsgroßmeisterin @magdarine zur Lektüre angeregte Kurzgeschichte »Inventory« von Carmen Maria Machado. Diese verhandelt vermittels der Auflistung der Liebhaberinnen und Liebhaber der Erzählerin die Geschichte einer Selbst-Isolation als Flucht vor, ja, genau, einem hochinfektiösen und tödlichen Virus. Machados Erzählung spiegelt in überspitzter Übereinstimmung unsere eigene Gegenwart: Wer ist überhaupt noch da, Trost zu spenden? Nun, mag uns der Text sagen, vielleicht machen wir das am besten selbst. Dabei ist die Geschichte selbst eine tröstende Liste, durch die Bestandsaufnahme kann die Erzählerin zurückblicken, zusammenfassen und irgendwie auch nach vorn schauen.
Das schlechte Gefühl, etwas noch nicht erledigt zu haben, lässt sich effektiv dadurch bekämpfen, es auf eine Liste zu schreiben.
Ein Ergebnis, das ganz gut zur listigen Psychologie des Menschen zu passen scheint, haben doch E.J. Masicampo und Roy Baumeister mittels Studien herausgefunden, dass das Erstellen von Listen die negativen kognitiven Auswirkungen unerfüllter Ziele lindern kann – oder einfach gesagt: Das schlechte Gefühl, etwas noch nicht erledigt zu haben, lässt sich recht effektiv dadurch bekämpfen, es auf eine Liste zu schreiben. Schaffen wir auf diese Weise das Trostspenden durch andere ab? Wohl kaum, Berufströster waren und sind seit langer Zeit durchaus gefragt – so stellt das Trösten als Kernkompetenz etwa des Priesteramts eine durchaus diffizile Angelegenheit dar: Das Genre der Consolatio, Latein für Trostrede, lässt sich von der Antike bis in die Neuzeit nachvollziehen, ein ganzer Trost-Katalog hat sich da herausgebildet für einen Akt, der rhetorisch-sprachliche Qualitäten ebenso beinhaltet wie psychologische – Empathie und Einfühlungsvermögen sind Voraussetzung – und auch dem Metaphysischen durchaus zugeneigt sein sollte. Ihre Blütezeit hatte die Consolatio von Antike bis Mittelalter, mit Standardwerken von so gewichtigen Autoren wie dem Philosophen Boethius oder dem Kirchenvater Augustinus von Hippo. Und doch, sollte der Romanist Ernst Robert Curtius Recht haben, so handelt es sich besonders bei den Consolationes vor allem um: Listen. Der Literaturhistoriker Herman Meyer fasst Curtius folgendermaßen zusammen: »Charakteristisch für die Consolatio ist die Aufzählung von vielen berühmten Personen, die trotz ihrer Macht auf Erden oder auch trotz ihres langen Lebens doch haben sterben müssen.« Die tröstliche Aufzählung – übernehmen wir doch einfach diesen Kniff von den Meistern der Trostrede.
Wir umarmen uns selbst
Die Liste ist also vielleicht so etwas wie eine Kulturtechnik der Selbsttröstung. Das zeigt sich in Psychologie, Literatur, Rhetorik – und auch den anderen oben erwähnten, gerade so populären Trostformen ist die Liste nahe. Schließlich sind Rezepte nichts anderes als Auflistungen, Filme werden ebenso gerne wie andere Kulturprodukte (und gegenwärtig eben auch Virologen) in aktuelle wie ewige Bestenlisten gerankt – und die Musik, tja, die ist sowieso übervoll mit Tracklisten, Setlisten, Hitlisten, Playlisten. Gerade die Playlist dominiert in unserem Streaming-Zeitalter, nie war es einfacher, nie zugänglicher, selbst Playlisten zu erstellen für jeden erdenklichen Anlass. Und darum sollten wir uns vielleicht gar nicht auf die Listen anderer verlassen, sondern uns ein Beispiel an Carmen Maria Machados Erzählerin nehmen und radikal-subjektive Inventare anlegen, mit denen wir uns selbst Zuspruch, Zuwendung und Umarmungen zu geben imstande sind. Listen, die vielleicht das nach außen bringen können, was in unserem Inneren Pingpong mit den Eindrücken der Gegenwart spielt. Dass die Songs selbst uns mit ihren Texten, ihrer Musik, ihren Stimmungen wiederum in den Arm nehmen und begleiten, kann nicht schaden. Und so tröstet sich der Autor mit einer Liste, in der Durchhaltehymne auf Kitschpartysong, queerer Polit-Trash-Zombie-Porno-Soundtrack auf Heimdiscokugeltanz, Meta-Liste auf Isolationserschöpfung treffen. Wenn Gott also, wie Faithless sagen, ein DJ ist, dann ist Trost eine Playlist.
Erschienen am 08. Mai 2020
Playlist
Trost
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