»Publish or perish« – wer nicht publiziert in der Wissenschaft, der verschwindet. Besonders in der Corona-Krise stellt sich aber die Frage: Qualität oder Geschwindigkeit?

Herr Tautz, was lernt die Wissenschaft aus der Krise über wissenschaftliches Publizieren?

Protokoll
Bernd Eberhart
ist Redakteur beim Science Notes Magazin.

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Janik Söllner
ist freier Illustrator.
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Wer Forschung betreibt, will seine Ergebnisse auch veröffentlichen. Zum einen, weil die Welt nur durch Erkenntnisse vorankommt, von denen sie auch erfährt. Zum anderen, weil Veröffentlichungen in renommierten Fachjournalen für die einzelne Wissenschaftlerin und den einzelnen Wissenschaftler so wichtig sind. Sie bringen Forschungsgelder und ermöglichen die weitere Karriere.

Diethard Tautz ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön. Er ist Redakteur für verschiedene Fachjournale und Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.

Die klassischen, bekannten Journale funktionieren nach dem Prinzip des Peer-Reviews: Ein Beitrag wird meist ehrenamtlich von Fachkollegen gelesen und beurteilt. Manchmal wird er daraufhin abgelehnt, wenn er deutliche Mängel aufweist, in anderen Fällen werden Nachbesserungen verlangt. Dieser Prozess dient der Qualitätssicherung – ist aber sehr langsam. Oft vergehen Monate, bis ein Artikel erscheint.

Express-Publikation auf Preprint-Servern

In den vergangenen Jahren hat sich parallel zu diesen Journalen ein weiteres System entwickelt: sogenannte Preprint-Server. Angefangen haben damit die Physiker. Ihren Server nannten sie arXiv – gesprochen wird das wie das englische Wort für Archiv. Forschungsartikel können dort schon in einem frühen Stadium veröffentlicht werden. Ein klassisches Peer-Review gibt es nicht. Aber die Idee ist, dass die Forschercommunity den Beitrag laufend hinterfragen und kommentieren kann. Auch in anderen Fachbereichen gibt es immer mehr dieser Preprint-Server: Seit 2013 gibt es das bioRxiv für Themen aus der Biologie, im letzten Jahr ging das medRxiv an den Start. Und viele Unis betreiben eigene Preprint-Server als Teil ihrer Infrastruktur.

Bei der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina kümmere ich mich um die Publikationen: Ich bin Chefredakteur der Nova Acta Leopoldina (NAL), der ältesten naturwissenschaftlichen Zeitschrift der Welt – sie geht auf das Jahr 1670 zurück. Wir experimentieren aber auch mit neuen Formen des Publizierens: Das Format »NAL-Live« zum Beispiel beinhaltet zwar ein Peer-Review. Aber die Artikel werden dort auch nach der ersten Veröffentlichung weiter aktualisiert und es gibt eine Kommentarfunktion für Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge, wie bei den Preprint-Servern.

»2.000 Artikel in wenigen Wochen, alle zu Corona. Das ist schon erstaunlich.«

Ich bin schon erstaunt über die sehr große Zahl an Publikationen, die innerhalb weniger Wochen auf bio- und medRxiv erschienen sind: gut 2.000 Forschungspapers, alle zum Thema Corona. Die Server haben einen riesigen Vorteil: Geschwindigkeit. Meist dauert es nach der Einreichung ein bis zwei Tage, dann steht ein Artikel online. In der Situation jetzt, in der die ganze Welt in Rekordgeschwindigkeit nach Therapien für Covid-19 sucht, ist dieses Tempo von Vorteil: Als Forscher kann ich sehr schnell Ergebnisse bekannt machen und Kolleginnen und Kollegen vielleicht schon früh wertvolle Hinweise liefern.

Es leiden Qualität und Überblick

Wie immer gibt es auch hier Kehrseiten. Das eine ist die fehlende Qualitätskontrolle: Zwar machen die Server einen schnellen Check, bevor sie etwas publizieren. Aber der ist oberflächlich. Im Prinzip wird bei einer Einreichung nur geprüft: Ist das tatsächlich Wissenschaft? Und ist es kein Plagiat? Eine intensive inhaltliche Überprüfung fehlt. Natürlich ist das immer noch besser, als wenn Ergebnisse über Social-Media-Kanäle veröffentlicht werden, ganz ohne Kontrolle. Aber es bleibt ein Risiko, dass falsche Informationen verbreitet werden, denn selbst gute Wissenschaftler machen Fehler. Die werden dann eventuell von Kollegen aufgegriffen – oder von den Medien.

Auch das Review durch die Community bleibt leider meistens aus. Dieser nachträgliche Qualitäts-Check über die Kommentare, der ist eine Illusion. Bei den Physikern hat das ganz gut funktioniert, aber die Biologen haben offenbar wenig Lust zu kommentieren – gerade, wenn so viele Artikel auf einmal publiziert werden.

Es gibt noch ein anderes Problem: Wer liest sich das denn alles durch? In diesen ganzen Publikationen kann sicher vieles drinstecken. Aber ob ich das auch finde, basiert auf Zufallseffekten. Oder es spricht sich irgendwie herum, welche Arbeiten etwas taugen. Systematische Wissenschaft kann man das aber kaum mehr nennen.

Mehr Demokratie

Im Wissenschaftsbetrieb ist zurzeit vieles im Umbruch. Gerade beim Thema Publikation gibt es viele Neuerungen, das ist ein laufender Prozess. Die Coronakrise ist vielleicht so etwas wie ein erster großer Praxistest für die Preprint-Server. Ob der gelingt, wie sinnvoll dieses Prinzip also ist, wird sich dann in zwei oder drei Jahren zeigen.

»Auch Forscherinnen aus der zweiten Reihe bekommen eine Chance.«

Eines ermöglichen die Server mit Sicherheit: Sie machen Wissenschaft zugänglicher. Auch Forscherinnen und Forscher aus der zweiten Reihe oder aus Entwicklungsländern können dort einfach publizieren und bekommen die Chance, sich ein Renommee zu erarbeiten. So tragen Preprint-Server auch bei zu einer Demokratisierung der Wissenschaft.

Erschienen am 08. Mai 2020 

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Bernd Eberhart
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