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Gut gemacht

Interview
Dennis Frasch

Dr. Christine Altstötter-Gleich ist Psychologin und Dozentin an der RPTU Kaiserslautern-Landau. Dort lehrt sie Differentielle- und Persönlichkeitspsychologie und Testtheorie. Seit Jahren forscht sie zu Perfektionismus und veröffentlichte einen Ratgeber zu diesem Thema.

 

 

 

 

 

 

 

»Der Grundgedanke einer Leistungsgesellschaft ist die Optimierung.«

Besser, schneller, weiter, höher. Gerade zu Beginn eines neuen Jahres setzen sich viele Menschen neue Ziele, oft geht es dabei um Selbstoptimierung. Aber wie viel Anspruch ist produktiv – und ab wann wird es ungesund? Christine Altstötter-Gleich ist Dozentin an der Universität Koblenz-Landau und beschäftigt sich seit Jahren mit Perfektionismus.

Science Notes: Frau Altstötter-Gleich, verfallen die Deutschen dem Drang zur Selbstoptimierung? 14 Millionen tragen Smartwatches oder andere Geräte, die zum Beispiel den Puls messen oder den Schlaf tracken.

Christine Altstötter-Gleich: Ich beobachte tatsächlich einen vermehrten Hang zur Selbstvermessung. Wir haben mal versucht, Studierende für die Teilnahme an einer Studie zu begeistern, indem wir eine Smartwatch verlosen. Da haben wir festgestellt, dass die meisten schon eine haben. Aber hin und wieder zu schauen, wie viel man über den Tag hinweg gegangen ist oder wie hoch der Blutdruck ist, kann sehr sinnvoll sein. Die Erkenntnis, dass wir uns um das kümmern müssen, was uns am Leben hält, ist wertvoll.

Science Notes: In dieser Selbstüberwachung zeigt sich aber doch mehr als Kümmern. Da ist schon ein Drang zum Perfektionismus.

Christine Altstötter-Gleich: Nicht unbedingt.

Science Notes: Was macht einen Perfektionisten dann aus? 

Christine Altstötter-Gleich: Ich versuche, es positiv zu formulieren: Perfektionist:innen wollen die Dinge besser machen. Wir verdanken ihnen viel, sei es medizinischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Fortschritt. Würden Sie in ein Flugzeug steigen, wenn Sie nicht hundertprozentig darauf vertrauen könnten, dass alle Schrauben richtig angezogen sind?

Science Notes: Wohl kaum.

Christine Altstötter-Gleich: Eben. Ich bin der Meinung, dass man Perfektionist:innen nicht verteufeln sollte. Sie verdienen durchaus Wertschätzung für das, was sie leisten.

Science Notes: Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Flugzeugmechaniker:innen, die ihre Arbeit ernst nehmen, und Menschen, die der perfekten Routine von Andrew Huberman folgen.

Christine Altstötter-Gleich: Wer ist Andrew Huberman?

Science Notes: Ein Neurowissenschaftler, der in seinem Podcast Millionen von Zuhörer:innen Tagesroutinen empfiehlt, wie Yoga sofort nach dem Aufstehen, kalte Duschen und kein Kaffee in den ersten zwei Stunden des Tages. Dazu intermittierendes Fasten, tägliches Training und eine lange Liste von Nahrungsergänzungsmitteln.

Christine Altstötter-Gleich: Hält man sich an solche Vorgaben, besteht natürlich die Gefahr, dass man sich nur noch um sich selbst kümmert. Ich als mein Tempel sozusagen. Wer akribisch vorgeschriebenen Stundenplänen folgt, leidet aber womöglich auch unter einem Zwang. Und Zwang entsteht aus Angst. In diesem Fall: Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Deswegen will man möglichst lange jung aussehen und gesund bleiben. Grundsätzlich gilt: Jede Zwangshandlung dient der Bewältigung von Ängsten. Und Ängste sind allerdings auch wichtig: Wenn wir keine Angst hätten, würden wir bei Rot über die Straße gehen und uns allen möglichen anderen Gefahren aussetzen, die zum Teil sogar unser Leben gefährden würden. Problematisch wird Angst, wenn sie zu stark ist.

Science Notes: Wo liegt die Grenze zwischen gesund und zwanghaft?

Christine Altstötter-Gleich: Selbstoptimierung wird dann problematisch, wenn man sich zum Beispiel gar nicht mehr mit anderen Leuten trifft, weil es der Essens- oder Trainingsplan nicht zulässt. Oder wenn es so viel Zeit in Anspruch nimmt, dass andere wichtige Dinge, wie der Job oder die Ehe, zu kurz kommen. Für diejenigen, die solchen strikten Plänen folgen, wäre es wichtig, ihre Motivation zu hinterfragen. Warum will ich mich so sehr optimieren? Was motiviert mich dazu, jeden Tag zu trainieren? Und vielleicht noch wichtiger, die Gegenfrage: Was befürchte ich, wenn ich nicht mehr topfit bin? Ist es die Angst, abgelehnt zu werden oder keinen Partner zu bekommen? Wichtig zu wissen, ist: Nicht das Streben nach Perfektion ist das Problem. Es geht darum, wie man damit umgeht, wenn man Perfektion nicht erreicht. Deshalb unterscheidet man zwei Typen von Perfektionisten.

Science Notes: Nämlich?

Christine Altstötter-Gleich: Es gibt funktionalen und dysfunktionalen Perfektionismus. Ein Beispiel: Es wurde ein Essen für Freunde und Familie gekocht, das bis auf einige Kleinigkeiten gut gelungen ist. Dysfunktionale Perfektionist:innen werden sich über die wenigen bräunlichen Basilikumblätter ärgern und denken, sie hätten etwas mehr Pfeffer in die Tomatensauce geben sollen, dann wäre sie perfekt gewesen. Sie werden sich so sehr ärgern, dass das Abendessen für sie gelaufen ist.

Science Notes: Und der funktionale Perfektionist?

Christine Altstötter-Gleich: Der ärgert sich auch über die braunen Basilikumblätter und will es das nächste Mal vermutlich besser machen, aber im Gegensatz zum dysfunktionalen Perfektionisten kann er sagen: Wir sitzen hier alle zusammen und genießen einfach, was da ist. Auch wenn es nicht komplett perfekt ist. Alles, was wir uns an positiven Erlebnissen verschaffen, ist eine unglaubliche Kraftquelle. Die brauchen wir, um in anderen Bereichen leistungsfähig zu sein.

Science Notes: Dysfunktionale Perfektionist:innen können also nicht abschalten.

Christine Altstötter-Gleich: Weil immer etwas hätte besser sein können. Weil sie ihre Erfolge nicht sehen können. Oder weil sie denken: Wenn selbst ich das geschafft habe, dann kann es ja nicht so besonders sein. Im Gegensatz zu funktionalen Perfektionist:innen können sie daher aus ihren Erfolgen nie dieselbe Kraft und Energie schöpfen. Das kann im schlimmsten Fall zu Burnout und Depressionen führen, zu sozialen Ängsten oder Essstörungen. Das ist auch der Grund, warum mich der Hype um die Selbstoptimierung ein wenig beunruhigt.

Science Notes: Beunruhigt?

Christine Altstötter-Gleich: Ja, ich finde es zum Beispiel beunruhigend, dass die Zahl der Menschen, die an Trainingssucht leiden, also exzessiv Fitness betreiben, zunimmt. Es gibt außerdem mit der sogenannten Orthorexie ein relativ neues Störungsbild, bei der sich Menschen übermäßig damit beschäftigen, wie gesund ihr Essen ist. Auch stressbedingte Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen, von denen Perfektionist:innen besonders häufig betroffen sind, nahmen in den letzten Jahren stark zu.

Science Notes: Ist der ständige Vergleich durch die sozialen Medien schuld an diesen überhöhten Standards?

Christine Altstötter-Gleich: Nicht nur. Zwar gibt es inzwischen viele Studien, die belegen, dass die Nutzung von sozialen Medien eine große Rolle spielt. Wenn man nur Fotos vom Urlaub in der Karibik postet und nicht vom Warten auf den Bus am Montagmorgen, dann ist das ein Teil des Problems. Vieles passiert aber viel früher, in der Familie oder in der Schule. Meist haben die Eltern hohe Ansprüche, die sie durch die Erziehung an ihre Kinder weitergeben. Hohe Ansprüche sind auch erst einmal per se nichts Schlechtes, Eltern wollen immer nur das Beste für ihre Kinder. Ich habe auch zwei Söhne und mir war es nie egal, wie sie in der Schule abschneiden. Schwierig wird es dann, wenn hohe Standards mit einer kalten, zurückweisenden Art verbunden sind, sobald das Kind etwas nicht so gut macht.

Science Notes: Haben Sie ein Beispiel für eine kalte, zurückweisende Art?

Christine Altstötter-Gleich: Ich denke da an Eltern, die ihre Kinder anschreien, wenn sie beim Fußballspiel das Tor nicht treffen. Also Eltern, die sehr strafend sind. Oder, was ich auch oft beobachte: Eltern, die ihren Kindern nur dann Wertschätzung und Zuneigung entgegenbringen, wenn sie mit guten Noten nach Hause kommen. Das Kind verinnerlicht das und fängt an, immer besser werden zu wollen, um die Anerkennung und Wertschätzung der Eltern zu bekommen. Dieses Muster setzt sich dann im Erwachsenenleben fort.

Science Notes: Die Psychologin Alice Miller hat geschrieben, dass Perfektionist:innen oft aus missbräuchlichen Familienverhältnissen kommen.

Christine Altstötter-Gleich: Das ist eine weitere Theorie, wie Perfektionismus entstehen kann. Kinder, die emotional vernachlässigt oder misshandelt wurden, bauen eine Art perfektionistische Schutzmauer um sich herum auf. Sie räumen ihr Zimmer immer perfekt auf, versuchen, gute Noten zu bekommen und nie in Schwierigkeiten zu geraten. Die Eltern dieser Kinder sind oft Alkoholiker, Drogensüchtige oder psychisch Kranke, die sehr unberechenbar sind. Die Kinder versuchen deshalb, es unbedingt zu vermeiden, negativ aufzufallen, um willkürlichen Strafen so gut es geht zu entgehen.

Science Notes: Hohe Ansprüche und eine zurückweisende Art der Eltern oder missbräuchliche Familienverhältnisse können also zu Perfektionismus führen.

Christine Altstötter-Gleich: Ja, und dann gibt es noch das sogenannte Anxious Rearing. Das sind Eltern, die sehr ängstlich sind und diese Versagensängste auf ihre Kinder übertragen. Die Eltern sagen dann zum Beispiel: »Oh Gott, wenn du diese Prüfung versaust, ist es aus mit dem Studium oder dem Traumberuf.« Sie wollen nicht zulassen, dass ihre Kinder Fehler machen, weil die Eltern sich die Konsequenzen geradezu abstrus schrecklich vorstellen. Wir nennen das »katastrophisierende Konsequenzerwartung«. Weil den Kindern kein Freiraum gegeben wird, in dem sie Fehler machen dürfen, lernen sie nie, funktional mit dem Scheitern umzugehen.

Science Notes: Wenn wir die Leiter noch eine Stufe weiter nach oben klettern: Ist der Hang zum Perfektionismus nicht auch eine logische Folge des Kapitalismus? In diesem System ist alles darauf ausgerichtet, immer schneller, besser und größer zu werden.

Christine Altstötter-Gleich: Der Grundgedanke einer Leistungsgesellschaft ist die Optimierung. Selbstoptimierung, auch die ungesunde, ist da nur logisch. Aber der Kapitalismus ist nicht an allem schuld.

Science Notes: Wie meinen Sie das?

Christine Altstötter-Gleich: Es gibt zwei Kulturkreise, in denen viel zu Perfektionismus geforscht wird: den westlichen und den asiatischen. In beiden gibt es einen Hang zum Perfektionismus. Im asiatischen Raum bezieht er sich wenig auf das Individuum, sondern mehr auf andere Normen. Es ist wichtig zu zeigen, dass man ein wertvolles Mitglied der Familie ist. So gibt es in Asien viele Menschen, die alles tun, um der Familie keine Schande zu machen und so perfekt wie möglich zu erscheinen – also zum Beispiel herausragende Leistungen in der Schule erzielen, damit sie exzellente Universitäten besuchen können.

Science Notes: Perfektionismus findet sich also überall?

Christine Altstötter-Gleich: Auch im Amazonas. In bestimmten Stämmen dort legen sich die Frauen Ringe um den Hals, um ihn zu strecken. Je länger der Hals, desto attraktiver sind sie als potenzielle Partnerinnen. Auch in diesen Stämmen gibt es Perfektionistinnen, die mit der Länge ihres Halses nie zufrieden sind. Sich Standards zu setzen, ist etwas, das in der menschlichen Natur liegt. Mehr noch: Es ist die Grundlage menschlichen Handelns.

Science Notes: Das müssen Sie mir genauer erklären.

Christine Altstötter-Gleich: Jedes menschliche Handeln setzt voraus, dass man sich Ziele setzt. Ich suche zum Beispiel einen Partner, weil ich das Ziel habe, irgendwann eine Familie zu gründen. Dieses Ziel ist mit Standards verbunden: Ich will nicht irgendeinen Partner, sondern einen mit besonders schönen Augen und einem guten Charakter. Das liegt alles in der Natur des Menschen. Nicht aber, wie man damit umgeht, wenn diese Standards nicht erfüllt werden. Hier zeigt sich die Schädlichkeit von Selbstoptimierung und Perfektionismus und hier kommt die Kultur ins Spiel: Die japanische Kultur zum Beispiel ist bekannt dafür, besonders hart zu sein, wenn jemand die Familienehre verletzt.

Science Notes: Wie geht die deutsche Kultur mit Perfektionismus um?

Christine Altstötter-Gleich: Es gibt einige typisch deutsche Probleme. Zum Beispiel haben wir eine unterentwickelte Feedback- und Fehlerkultur. Es gibt ein schwäbisches Sprichwort: Nicht geschimpft ist schon gelobt. Es fällt uns leichter, den Finger in die Wunde zu legen. Positives Feedback ist selten. Alles, was läuft, wird als selbstverständlich hingenommen. Das fördert Negativspiralen, die wiederum zu dysfunktionalem Perfektionismus führen können.

Science Notes: Was kann man tun, um nicht in den dysfunktionalen Perfektionismus zu verfallen?

Christine Altstötter-Gleich: Man kann lernen, einen Moment so wahrzunehmen, wie er ist – ohne gleich eine ganze Bewertungskaskade im Hintergrund ablaufen zu lassen. Man kann mit grundlegenden Wahrnehmungen beginnen. Wie riecht diese Blume? Wie schmeckt diese Suppe? Eben unbedingt ohne das Erlebte gleich zu bewerten. Etwas wahrzunehmen, ist die Grundlage des Genießens. Und genießen zu können, ist der beste Weg, um gesund zu bleiben.

Erschienen am 19. Januar 2024.

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Dr. Christine Altstötter-Gleich ist Psychologin und Dozentin an der RPTU Kaiserslautern-Landau. Dort lehrt sie Differentielle- und Persönlichkeitspsychologie und Testtheorie. Seit Jahren forscht sie zu Perfektionismus und veröffentlichte einen Ratgeber zu diesem Thema.