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Katharina Kropshofer

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Der Ziegenmann


Mit künstlichen Hufen und einem tragbaren Magen verbringt ein englischer Designer drei Tage in den Schweizer Alpen – als Ziege. Gelingt ihm das Leben als Tier?

Wer der Realität entfliehen will, greift zu psychoaktiven Substanzen, spielt immersive Videospiele, oder probiert es mit Meditation. Was aber, wenn man nicht nur dem Alltag, sondern auch dem Menschsein entfliehen will? Diese Fragen stellte sich Thomas Thwaites. Und beschloss, eine Ziege in den Schweizer Alpen zu werden.

Eigentlich lebt der Designer in London, an diesem Freitagvormittag steht er im Tate Modern Museum und erzählt – wieder ganz Mensch – von seiner Motivation: »Es ist frustrierend, Mensch zu sein, kompliziert und man macht sich ständig Sorgen.«

Wäre das als Tier anders? Katzen schlafen seelenruhig auf Ofenbänken, Spechte hämmern fröhlich an Baumstämmen herum, ohne sich um die Außenwelt zu kümmern oder Kopfschmerzen zu bekommen und Ziegen grasen sorglos auf grünen Wiesen. Zumindest scheint es mit Menschenaugen so.

Zunächst wusste Thwaites nicht, in welches Tier er sich verwandeln sollte, um dem Menschsein zu entfliehen. Also führte er Gespräche mit Verhaltensbiolog:innen, Neurowissenschaftler:innen und einer Schamanin. Letzere brachte ihn auf die Ziege, »weil sie meinem Wesen besonders gut entsprach – und es leichter umsetzbar war als meine anfängliche Idee, ein Elefant zu werden«. Thwaites begann seine akribische Vorbereitung, baute etwa einen künstlichen Ziegenpansen, der das für Menschen unverdauliche Gras mit passenden Bakterien so zersetzt, dass der Designer es durch einen Strohhalm aufsaugen konnte. Dafür hatte er Bakterienproben aus Ziegenmägen entnommen. Seine Hände und Füße steckte Thwaites in selbstgebaute Huf-Prothesen aus Stahl, die er mithilfe von Gipsabdrücken eines toten Ziegenbeins gefertigt hatte. Und er hängte sich eine Glocke um.

So brach er auf in die Schweizer Berge und schloss sich, in der Obhut eines Hirten, einer Ziegenherde an. Drei Tage blieb er unter ihnen und sie akzeptierten ihn schnell. Die Ziegen-Matriarchin zeigte ihm, wo das beste Gras wächst, »und glaub mir, ich habe so viel Gras gegessen, dass ich ehrlich sagen kann, dass es da Qualitätsunterschiede gibt.« Eine Ziege versuchte, sich mit ihm anzufreunden, von einer anderen wurde er fast in einen Streit verwickelt – er müsse wohl Dominanz ausgestrahlt haben, meinte der Hirte.

Zumindest sind das die anthropozentrischen Interpretationen dieser Tage. Doch können wir jemals wirklich wissen, wie es sich anfühlt, ein anderes Tier zu sein? Nicht, wenn man dem Philosophen Thomas Nagel glaubt: In seinem Aufsatz mit dem Titel Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? schlussfolgerte er, die Sinne einer Fledermaus seien jenen des Menschen zu unähnlich – allen voran die Echolokation, mit der die Tiere Futter suchen. Deshalb könnten wir nie vollständig verstehen, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein. Ziegen sind dem Menschen ähnlicher, bewegen sich zumindest auch auf der Erde und nicht durch die Luft. Nagels philosophische Prinzipien gelten aber auch hier: Was hat ein Menschenleben schon mit dem einer Ziege zu tun, die sich ohne Mühe über Stock und Stein bewegen kann, deren Mikrobiom es erlaubt, das Gras unter den eigenen Hufen zu verspeisen, ohne auf eine ausgeklügelte Essenspyramide oder Supermarktöffnungszeiten achten zu müssen?

Am Ende, resümierte Thwaites, war es jedenfalls gar nicht so einfach eine Ziege zu sein: »Es ist wahrscheinlich ungefähr gleich schwer wie Mensch zu sein. Nur auf eine andere Art.«

Erschienen am 14. März 2024

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