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Eingeschleppte Marmorkrebse klonen sich selbst und vermehren sich rasend schnell. In der Natur machen sie große Probleme – doch für die Aquakultur scheinen die Klonkrebse wie gemacht.

Dunkle Panzer überall, im Schein der Stirnlampen schimmern sie durchs Wasser. Wie Schatten zeichnen sich Scheren und Schwänze gegen den steinigen Grund des Singliser Sees bei Kassel ab. Beharrlich arbeiten sich die Marmorkrebse auf dürren Beinen dem Ufer entgegen. »Es sind wechselwarme Tiere«, sagt Frank Lyko, einer der weltweit führenden Marmorkrebs-Forscher. »Sie suchen die Uferzone, weil sich die Steine dort tagsüber aufwärmen.« Lyko und zwei seiner Mitarbeiterinnen stehen an diesem lauen Sommerabend bis zum Bauchnabel im Wasser. Sie tragen Gummi-Latzhosen und fischen mit Keschern einen Krebs nach dem anderen aus dem See.

Anwohner bestaunen die nächtliche Arbeit der Forscher, die für ihre Untersuchungen Krebse mit Kescher und Bauchbeutel aus dem See fangen, Sina Lyko-Tönges präsentiert ihnen ihre Beute. Oft muss sie erklären, was ein Krebs mit der Erforschung von Tumoren am Deutschen Krebsforschungszentrum zu tun hat. Auch badende Jugendliche beruhigte sie schon: Tagsüber versteckten sich die Tiere – ihnen dann zu begegnen, sei sehr unwahrscheinlich.

Die Geschichte der Marmorkrebse ist die einer Invasion. Längst gibt es Populationen in ganz Europa, in Kanada, Israel und China. Die fragilen Ökosysteme Madagaskars werden seit Anfang der 2000er Jahre quasi überrannt. Der Marmorkrebs gedeiht überall, sogar in stark verschmutzten oder besonders nährstoffarmen Gewässern wie dem Singliser See, in dem kaum andere Wassertiere leben. Frank Lyko sieht trotzdem keinen Grund für Alarmismus. »Die Tiere sind in der Welt«, sagt er, an der Situation in Europa ändere das aber nicht viel. Dort lebten heute ohnehin fast nur noch aus Amerika eingeschleppte Flusskrebse. Der Edelkrebs, die einst auf dem gesamten Kontinent heimische Art, wurde verdrängt. Nur: Wie und warum sich die Marmorkrebse so schnell verbreiteten, war lange ein Rätsel.

Zwar wusste man, dass der Mensch verantwortlich war. Erst vor ein paar Jahren allerdings erfuhr Frank Lyko vom Ursprung der Invasion – davon, wie vermutlich nur ein einziges Exemplar den Grundstein für eine ganze Art legte, die heute die Welt erobert. Ein Biologe erzählte Lyko, dass er als Student, vor fast 30 Jahren, in Frankfurt eine Insektenmesse besuchte. Es war 1995 und der Student entdeckte an einem Messestand einen Plastikbeutel mit einem halben Dutzend Krebsen, die als »Texanische Flusskrebse« verkauft wurden – ein Fantasiename. Der Student setzte die Krebse zu Hause ins Aquarium. Als sie sich extrem schnell vermehrten, verschenkte er immer wieder Exemplare. Wie viele und an wen, lässt sich nicht nachvollziehen. Weil es so lange her ist und weil der Handel mit Aquariumstieren in den Neunzigern eine wilde Sache war. Einfuhr und Verkauf wurden kaum kontrolliert – das Nischengeschäft vollzog sich im Verborgenen, auf Messen und per Paketversand. Die Händler etwa, von denen der Student seine Krebse gekauft hatte, traten unter immer wieder anderen Namen auf, mehrfach wechselten sie die Telefonnummern.

Marmorkrebs unter dem Mikroskop: Seine blaue Farbe kommt vom Futter im Labor, das andere Pigmente enthält als die Nahrung in Seen und Flüssen. Dort reicht das Farbspektrum der Tiere von Grün über Braun bis beinahe Schwarz. Ihre charakteristischen Tupfen brachten der Art ihren umgangssprachlichen Namen ein.
Marmorkrebs unter dem Mikroskop: Seine blaue Farbe kommt vom Futter im Labor, das andere Pigmente enthält als die Nahrung in Seen und Flüssen. Dort reicht das Farbspektrum der Tiere von Grün über Braun bis beinahe Schwarz. Ihre charakteristischen Tupfen brachten der Art ihren umgangssprachlichen Namen ein.

Heute gilt als sicher, dass der Student die Urmutter aller bekannten Marmorkrebs-Populationen der Erde von der Messe in sein Aquarium trug. Ein Weibchen, das Eier legte, aus denen neue Krebse heranwuchsen – ohne Besamung. Denn die Tiere beherrschen, was nach heutigem Forschungsstand kein anderer Zehnfußkrebs vermag, weder Flusskrebs, noch Hummer oder Garnele: Sie klonen sich.

Wann und wie die Tiere mit dem meist in schmutzigem Graubraun getupften Panzer, der ihnen ihren Namen verlieh, die ungeschlechtliche Fortpflanzung lernten, ist noch immer unklar. Eine spektakuläre These: Die Minustemperaturen im Frachtraum des Flugzeugs, das die Sumpfkrebse aus Florida – wohl als Embryonen – nach Frankfurt brachte, hätten zu einer Art Kälteschock geführt. Der wiederum könnte eine spontane Genmutation ausgelöst haben.

Am wohlsten fühlen sich Marmorkrebse bei einer Wassertemperatur von etwa 25 Grad. Sie kommen aber mit fast allen Bedingungen zurecht, etwa auch in nährstoffarmen Gewässern mit niedrigem pH-Wert, das macht sie so erfolgreich. Unter kontrollierten Laborbedingungen leben die Krebse in Einzelbecken – bis sie sich klonen jedenfalls. Das geschieht drei- bis viermal im Jahr, je nach Größe legt ein Weibchen dann zwischen 100 und 500 Eier.
Am wohlsten fühlen sich Marmorkrebse bei einer Wassertemperatur von etwa 25 Grad. Sie kommen aber mit fast allen Bedingungen zurecht, etwa auch in nährstoffarmen Gewässern mit niedrigem pH-Wert, das macht sie so erfolgreich. Unter kontrollierten Laborbedingungen leben die Krebse in Einzelbecken – bis sie sich klonen jedenfalls. Das geschieht drei- bis viermal im Jahr, je nach Größe legt ein Weibchen dann zwischen 100 und 500 Eier.

Frank Lyko glaubt an eine andere Theorie: Genetische Tests ergaben, dass der Marmorkrebs von einer US-amerikanischen Flusskrebsart abstammt, dem Florida-Sumpfkrebs. 2018 fing Lyko in den USA mehrere dieser Krebse, deren Erbgut die für Marmorkrebse typischen dreifachen Chromosomensätze aufwies, statt der üblichen zweifachen. Das könnte bedeuten, dass auch Florida-Sumpfkrebse sich ab und an klonen – die Linien aber durch regelmäßige geschlechtliche Fortpflanzung wieder unterbrochen werden.

Lyko ist Forscher am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ), befasst sich von Haus aus eigentlich mit einer anderen Art von Krebs: krankhaftem und unkontrolliertem Zellwachstum. Auf die Marmorkrebse kam er einst, weil sie sich ähnlich vermehren wie menschliche Tumorzellen – klonal –, und eine vergleichbar hohe Anpassungsfähigkeit aufweisen. Die sieht Lyko epigenetisch begründet, durch flexible Gen-Aktivität ohne vorherige Veränderung der DNA. Neben der Fähigkeit, sich zu klonen, ist es das besonders robuste und adaptive Erbgut des Marmorkrebses, das ihn so erfolgreich macht. Mithilfe der Kolonie, die er im Labor in Heidelberg in Becken hält, erforscht Lyko, welche äußeren Einflüsse das explosive Wachstum der Art hemmen könnten – das wiederum soll Rückschlüsse zur Entstehung von Tumoren zulassen.

Neben seinen Forschungen will Lyko sich dem Thema mit seinem Team nun auch von der praktischen Seite nähern. Warum sollte man sich die einzigartige Genetik dieses Krebses nicht zu Nutze machen? Unter anderem mit seiner Kollegin und Ehefrau Sina Lyko-Tönges arbeitet er an einer Ausgründung. Sie wollen Marmorkrebse künftig in geschlossenen Aquakultur-Anlagen züchten. Marmorkrebse sind Allesfresser und sollen sich in den Zuchtbecken künftig von Mikroplankton ernähren. Dazu sind sie hervorragende Futterverwerter, brauchen rund 1,4 Kilogramm Nahrung für ein Kilogramm Wachstum, knapp sechsmal weniger als Rinder. Die Krebsschwänze sollen als Lebensmittel vermarktet werden, etwa in Pastasaucen, auf Flammkuchen, als Krabben- oder Garnelen-Ersatz. Das Chitin aus den Panzern der Tiere soll zu biologisch abbaubaren Kunststoffen werden, zu Strohhalmen oder Verpackungen. Kürzlich gewann das Konzept den German Food Startup Award. Eine große Herausforderung der Lebensmittelproduktion fällt schon mal weg: ein konstant gleichmäßiges Produkt zu erzeugen, etwa in Größe und Nährstoffzusammensetzung. Das schafft die Klon-Armee problemlos selbst.

Premiere in der Spitzenküche: Im Berliner Restaurant Hallmann & Klee bereiteten Eigentümerin Sarah Hallmann und Küchenchefin Rosa Beutelspacher im Spätsommer 2021 Marmorkrebse zu, die die Forscher am Abend zuvor im Singliser See gefangen hatten. Frank Lyko kostete das Schwanzfleisch damals zum ersten Mal. »Schmeckt toll«, fand er.
Premiere in der Spitzenküche: Im Berliner Restaurant Hallmann & Klee bereiteten Eigentümerin Sarah Hallmann und Küchenchefin Rosa Beutelspacher im Spätsommer 2021 Marmorkrebse zu, die die Forscher am Abend zuvor im Singliser See gefangen hatten. Frank Lyko kostete das Schwanzfleisch damals zum ersten Mal. »Schmeckt toll«, fand er.

Erschienen am 14. März 2024

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