Thema:
Stille und Klang

Protokoll
Florian Sturm

Tonaufnahmen
und Foto

Bernie Krause

Bild
Lenni Baier

 

 

 

 

 

 

Eine gesunde Umwelt klingt wie ein Orchester

Bernie Krause erforscht seit Jahren die Klangwelten unserer natürlichen Umwelt. Nur wenige Menschen weltweit haben so lange und intensiv die Geräusche der Natur dokumentiert wie er. Der US-Amerikaner ist außerdem Musiker: Als spätes Mitglied von The Weavers, einer weltweit bekannten Folk-Band, wird Krause 2024 in die Folk-Rock-Hall of Fame aufgenommen. Über ein Leben in der Musik. Ein Protokoll von Florian Sturm.

Seit 1979 fängt Bernie Krause Klanglandschaften aus der Natur ein, hier zum Beispiel von Gorillas.

Meine Welt war schon immer durch Klang geprägt, mein Leben nach Geräuschen ausgerichtet. Anfangs nicht unbedingt freiwillig, ich wurde ohne gutes Sehvermögen geboren. Und meine Augen wurden seither immer schlechter, vor Kurzem habe ich meinen 85. Geburtstag gefeiert.

Bereits in den 1940er Jahren, ich war noch ein kleiner Junge, zeigten meine Eltern mir die Welt der klassischen Musik – eine der wenigen Kunstformen, die sie aktiv unterstützten. Am liebsten mochte ich Konzerte mit Violinisten wie Jascha Heifetz, Isaac Stern, David Oistrakh, Fritz Kreisler und Yehudi Menuhin. Als Kind war mein einziges Talent das Geigespielen. Später lernte ich die Gitarre und das Komponieren. Der Wunsch, selbst ein Instrument zu spielen, kam allein von mir. Meine Eltern drängten mich nicht.

»Meine Welt war schon immer durch Klang geprägt, mein Leben nach Geräuschen ausgerichtet.«

1964 zog ich nach Kalifornien, um am Mills College in Oakland elektronische Musik zu studieren. In den nächsten 15 Jahren wirkte ich an mehr als 130 großen Spielfilmen wie Apocalypse Now, Rosemaries Baby und Love Story mit. Außerdem war ich Teil von über 250 Studiosessions mit Gruppen wie The Doors und The Byrds oder Künstlern wie Van Morrison, Mick Jagger und George Harrison. Los Angeles, New York, London, Paris und San Francisco; ich durfte in einigen der renommiertesten Soundstudios der Welt arbeiten.

Vor 55 Jahren arbeitete ich gemeinsam mit Paul Beaver, meinem inzwischen verstorbenen Musikpartner, an einem Album für Warner Brothers mit dem Titel In A Wild Sanctuary. Es sollte die erste Platte überhaupt werden, die sich dem Thema Ökologie widmet und natürliche Klanglandschaften, sogenannte Soundscapes, als Bestandteil der Orchestrierung verwendete. Das Problem: Wir hatten in unserem Archiv keinerlei Aufnahmen dieser Klanglandschaften. Also musste einer von uns mit all der Aufnahmeausrüstung raus in die Natur.

Bernie Krause und sein Musikpartner Paul Weaver am analogen Synthesizer.
Bernie Krause und sein Musikpartner Paul Weaver am analogen Synthesizer.

Und da marschierte ich in den nächstgelegenen öffentlichen Park, um die ersten Aufnahmen zu machen. Als ich den Rekorder einschaltete und die Geräuschkulisse über meine Kopfhörer in meine Ohren drang, war das einer der spirituell kraftvollsten Momente, die ich bis heute erlebt habe. Seither war mir klar, dass ich meine Berufung gefunden hatte.

1979 war für mich Schluss mit der Musik. Ich machte mich auf in die Wälder, Berge, Ebenen und Wüsten dieser Welt. Ich wollte die Erde und ihre Klanglandschaften entdecken und erforschen, wollte sogenannte biophone Signale besser verstehen: Geräusche, die nichtmenschliche Organismen in wilden Lebensräumen erzeugen.

Buckelwal in Maui, Hawaii.

Eine Klanglandschaft setzt sich aus drei Elementen zusammen:

die Geophonie – alle nichtbiologischen Geräusche, die in einem bestimmten Lebensraum auftreten: Wind in den Bäumen, Wasser in einem Bach, Wellen am Meeresufer oder Bewegungen der Erde

die Biophonie – alle Geräusche, die von Organismen in einem bestimmten Lebensraum zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem Ort erzeugt werden: Vogelgezwitscher, Hundegebell oder das Brüllen eines Löwen

die Anthropophonie – die Geräuschkulisse, die wir Menschen erzeugen; Teile von ihr sind kontrolliert, wie Musik oder Theater, aber das meiste ist chaotisch und inkohärent (das, was wir gemeinhin als Lärm bezeichnen)

»Jede Klanglandschaft, die einem wilden Lebensraum entspringt, erzeugt ihre eigene einzigartige Signatur voller Informationen.«

Eine Zeit lang hielt ich wilde Klanglandschaften für ein wertloses Artefakt. Sie waren einfach da, hatten jedoch keinerlei Bedeutung. Ich habe mich geirrt. Wenn mich die abertausenden Stunden, die ich mit Kopfhörern und Rekorder in der Wildnis saß, eines gelehrt haben, dann, dass wir durch aufmerksames Zuhören extrem viel über die Gesundheit eines Lebensraums lernen können. Jede Klanglandschaft, die einem wilden Lebensraum entspringt, erzeugt ihre eigene einzigartige Signatur voller Informationen: Details zu Lebensraumveränderungen und Lebensverlusten als Folge des Klimawandels, zum Ressourcenabbau und zur menschlichen Lärmbelastung.

Zu Beginn meiner Karriere habe ich nur einzelne Arten aufgenommen. Zunächst vor allem Vögel, später auch Säugetiere und Amphibien. Doch bald wurde mir klar, dass dieses fragmenthafte Aufzeichnen so ist, als würde man versuchen, die Einzigartigkeit von Beethovens Fünfter Symphonie zu verstehen, indem man den Klang eines einzelnen Geigenspielers aus dem Kontext reißt. Ich verstand: Auch in der Wildnis befinde ich mich inmitten eines Orchesters. Bislang aber höre ich immer nur einen einzigen Teil.

Singende Ameisen.

Durch meine Arbeit mit den Soundscapes wollte ich mich der Natur enger verbunden fühlen. Dafür musste ich lernen, leise zu sein. Ich suchte nach Lebensräumen fernab der Zivilisation und von menschlichem Lärm, aber reich an lauten Organismen, egal ob im Meer oder an Land. Sobald ich vor Ort war, half mir meist ein lokaler Naturforscher dabei, mich mit den physikalischen und biologischen Details des jeweiligen Habitats vertraut zu machen.

Zu Beginn meiner Soundscape-Karriere brauchte ich nur etwa zehn Stunden lang aufzunehmen, um daraus eine Stunde nutzbares Material zu bekommen – etwa für ein Album, einen Film-Soundtrack oder eine Museumsinstallation. Heute brauche ich dafür die hundertfache Zeit, 1.000 Aufnahmestunden oder mehr. Man würde denken, der technische Fortschritt und die sensibleren Aufnahmegeräte würden mir die Arbeit erleichtern. Aber die Klimakrise, der damit verbundene Biodiversitätsverlust und auch der zunehmende menschliche Lärm bewirken genau das Gegenteil: Besseres Equipment zeigt mir vor allem, wie ungesund unsere Lebensräume geworden sind. Ich höre nur noch ein Bruchteil des klangvollen Orchesters, das ich früher hören konnte. Mittlerweile stammt die Hälfte meines Archivs aus Lebensräumen, die so radikal verändert wurden, dass sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form zu hören, oder sogar ganz verstummt sind.

Obwohl heute bessere Technik zur Verfügung steht, werden durch die Klimakrise und das damit verbundene Artensterben Aufnahmen in der Natur deutlich schwieriger.

Du fragst dich jetzt, was eine volle Klanglandschaft mit der Gesundheit eines Habitats zu tun hat? Je gesünder der Lebensraum, desto klarer und umfangreicher seine akustische Breite. Klänge lassen sich grafisch durch Spektogramme darstellen. Stammen diese Spektogramme aus gesunden Habitaten, erinnern sie mich an Partituren von Pierre Boulez oder György Ligeti. Meine Installationen von natürlichen Soundscapes sind ähnlich einer Symphonie konstruiert. Allerdings sind Naturgeräusche, anders als Musik, kulturell unvoreingenommen. Jeder versteht sie und sie sprechen ein viel größeres und vielfältigeres Publikum an – und Personen jeden Alters. Auch deshalb ist der einzig »wahre« Klang für meine schwächelnden Ohren das Geräusch von Grillen an einem heißen Sommerabend oder von Vögeln während eines Morgengesangs im Frühling. Leider sind die Klanglandschaften, die ich gern aufzeichne, inzwischen kaum mehr zu hören. Ich fürchte, sie werden irgendwann komplett verschwunden sein.

Vor etwa zehn Jahren nahm ein Kollege sein Aufnahmegerät mit an ein Gewässer im Mittleren Westen der USA. Ich glaube, der Teich entstand vor etwa 16.000 Jahren, gegen Ende der letzten Eiszeit. Biber hatten hier einen Damm errichtet und ein kleines Ökosystem geschaffen. Eines Nachmittags, während mein Kollege Audioaufnahmen machte, tauchten plötzlich ein paar Wildhüter auf. Ohne ersichtlichen Grund liefen sie zum Biberdamm, warfen eine Stange Dynamit hinein und jagten ihn in die Luft – mitsamt dem Weibchen und ihrem Nachwuchs.

Immer wieder schwamm der überlebende männliche Biber langsam im Kreis und schrie untröstlich nach seiner verlorenen Familie. Das ist wahrscheinlich das traurigste Geräusch, das ich je von einem lebenden Organismus gehört habe. Es zeigt, wie Tiere Emotionen zeigen können.

Begegnung mit einem Jaguar.

Umweltwissenschaften versuchen die Welt anhand dessen zu verstehen, was wir sehen. Doch den Klang unserer Mitwelt zu verstehen, erlaubt ein viel umfassenderes Verständnis. Biophonien und Geophonien bilden die charakteristischen Stimmen der natürlichen Welt. Wenn wir ihnen Gehör schenken, bekommen wir ein wahres Gefühl für einen konkreten Ort. Für die Welt, in der wir leben. Klanglandschaften enthüllen in Sekundenschnelle viel mehr Informationen aus zahlreichen Perspektiven – von quantifizierbaren Daten bis hin zu kultureller Inspiration.

So haben Organismen die Fähigkeit entwickelt, einzigartige Geräusche zu erzeugen. Berggorillas und Schimpansen etwa signalisieren ihre Anwesenheit durch rhythmische Schläge auf die Brettwurzeln von Feigenbäumen; Vögel sind in der Lage, ihre Signale zu komplexen, orchesterhaften Melodien zu arrangieren. Als wir, die Menschheit, noch enger mit der Natur verbunden waren, inspirierten diese Einflüsse unsere Musik und womöglich sogar unsere Sprache.

»Leider sind die Klanglandschaften, die ich gern aufzeichne, inzwischen kaum mehr zu hören. Ich fürchte, sie werden irgendwann komplett verschwunden sein.«

Am überraschendsten finde ich die Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Kulturen wie die B’Aka aus der Zentralafrikanischen Republik, die Yanomami aus den Regenwäldern Nordbrasiliens und die Kaluli aus Papua-Neuguinea, sie alle nutzen die Klanglandschaften des Waldes, um ihre Musik und viele der Instrumente zu prägen: Grillen und Primaten geben den Rhythmus vor, Vögel sorgen für die Melodien; wenn alle anderen Tiere in den Refrain einstimmen, ergibt sich automatisch ein ganzes Orchester.

Im Grunde waren es die Tiere, die uns das Tanzen und Singen beigebracht haben. Wir hätten keine besseren Lehrer haben können.

Erschienen am 15. Dezember 2023.

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