Florian Schumacher optimiert sein Leben, indem er alles misst, was sich messen lässt. Manchmal stellt ihn das vor Rätsel.

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Eva Wolfangel

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Sebastian Mast

Der Regen spielt am frühen Morgen mit feinen Fingern Cembalo auf den Blättern der Bäume, ein paar Menschen radeln missmutig durch den Englischen Garten, das grelle Grün der Blätter schmerzt in den schlaftrunkenen Augen, und Florian Schumacher atmet tief durch. 15 Regentropfen, Schritt, Schritt, einatmen, Schritt, Schritt, ausatmen, er fühlt, wie der Rhythmus Leben in die müden Glieder bringt und wie der steigende Puls den Körper sanft weckt. 80, 90, 100, 120, 130, der Läufer schaut auf die Uhr, nickt, lächelt, trabt.

Der Münchner rennt und grinst, lässt einen Nackten auf der FKK-Wiese links und die Surfer auf der Welle des Eisbachs rechts liegen, und schon um 7.23 Uhr schließt sich der erste Kreis des Tages: Der grüne Kreis auf dem Display seiner Uhr ist mit jedem Schritt ein bisschen vollständiger geworden, jetzt ist er perfekt. Das heißt: 30 Minuten lang hat sich der Berater an diesem regnerischen Dienstag schon mit einem Puls von über 130 Schlägen pro Minute bewegt. „Erstes Ziel erreicht“, sagt er zufrieden. Auch der zweite Kreis, blau, ist schon zu sieben Zwölftel komplett – und das zu einer Zeit, zu der für den Rest von München der Tag gerade erst anfängt. 470 Kalorien hat Schumacher bereits durch Aktivität verbraucht. 6896 Schritte zeigt sein Schrittzähler an. „Die Zehntausend schaffe ich heute wohl noch“, sagt er. Nur der dritte Kreis, der erfordert Disziplin den ganzen Tag über. Über zwölf Stunden muss Schumacher einmal pro Stunde kurz aufstehen und sich bewegen. Vergisst er es, brummt seine Smartwatch.

Die Kreise des Alltags sind nur ein Trick von vielen, und eigentlich noch der einfachste in Florian Schumachers Leben, das optimal sein soll, so optimal wie irgend möglich. Dafür möchte er alles ganz genau wissen. Der Münchner Berater hat die so genannte Quantified-Self-Bewegung in Deutschland mit aufgebaut, weil er 2011 auf einer Konferenz in Amsterdam angetan war von diesem Menschenschlag: „Die proaktive Lebensgestaltung hat mich begeistert, dieser Wille, sein Leben zu verändern.“ Beim ersten Schrittzähler ist es nicht geblieben, er gründete Meetups in München und Berlin und testet seither jede erdenkliche Technik, um alle Werte zu messen, die ein Leben so mit sich bringt. „Das Ziel ist, über Tests und Vermessung etwas zu finden, das man optimieren kann, und dann eine Routine zu entwickeln“, sagt er. In vielen wissenschaftlichen Studien hat er gelesen, wie sich Gewohnheiten ändern lassen. Die Essenz: Man muss es einfach tun. Wie oft, das ist allerdings umstritten. Essgewohnheiten sind wohl am hartnäckigsten: Wissenschaftler wie der Hirnforscher Gerhard Roth gehen davon aus, dass es etwa drei Jahre dauert, bis sich hier eine Gewohnheit etabliert hat. Wer etwa mehr Sport treiben will, dem hilft ein so genannter „Auslösereiz“, erklärt die Sportwissenschaftlerin Julia Thurn, die sich an der Universität Stuttgart mit Gewohnheiten beschäftigt: beispielsweise die Joggingschuhe am Bett. Wenn das Gehirn das Aufstehen und Sehen der Laufschuhe mit dem Joggen verknüpft, wird das Laufen automatisiert, weniger Willenskraft wird benötigt.

Ein ganzer Kreis und sieben Zwölftel

Mit einsiebenzwölftel geschlossenen Kreisen schließt Schumacher die Wohnungstür auf, der Puls bei 95, pfeffert die Schuhe in die Ecke, schlüpft in einen Trainingsanzug, befestigt das Tablet am Spiegel und turnt. Bizeps, Tripezs, Schulterrotatoren, schräge und gerade Bauchmuskeln, jeder Muskel wird aktiviert. Sensoren im Anzug messen ihre Spannung, und der Sportler vor dem Spiegel kontrolliert den Effekt des Trainings in Echtzeit. Ist die Schulter verspannt? Hier noch ein bisschen loslassen, da noch mehr anspannen. Schöne Symmetrie.

Beim Frühstück kurzes Grübeln: Der Schlaf war unruhig, melden die Sensoren im Bett. Lag das am späten Kaffee? Wobei: Vor einigen Wochen habe er ein ungewöhnliches Muster zwischen Kaffeekonsum und Schlaf entdeckt, sagt Schumacher. Je mehr Kaffee am Tag, desto besser der Nachtschlaf. Alkohol hingegen führe zu einem erhöhten Ruhepuls in der Nacht, ebenso wie eine anfliegende Grippe, und Gäste am Abend zu schlechter Luft in der Wohnung. Gestern waren Freunde zu Besuch, zwei rote Balken zeigt das Smartphone für die Luftqualität der vergangenen Nacht. „Wieso bloß?“. Schumacher streichelt die beiden Zimmerpflanzen, die er eigens dafür gekauft hat und die laut einer Nasa-Studie gute Luftfilter sein sollen. Er schaut sie an als wolle er fragen „wieso filtert ihr nicht“? „Vielleicht dünsten die neuen Blumentöpfe gerade noch Schadstoffe aus“, sagt er und seufzt: So viele Rätsel. Dabei möchte er doch nur wissen, wie das alles zusammenhängt, das Leben und die Gesundheit. Wie kann er möglichst optimal leben? Auf dem Fensterbrett in der Küche steht ein kleiner Turm Pillen und Pulver: etwas zur Entspannung, etwas für die Konzentration, Magnesium, Vitamin D und viele Präparate, deren Namen wie ferne Planeten klingen. Gerade ist er allerdings auf Diät: Er hat alle Nahrungsergänzungsmittel abgesetzt um zu testen, ob sich etwas ändert. Bis jetzt spürt er nichts davon. Nach dem Frühstück (Müsli mit Hafer-Soja-Drink und ein Proteinshake) ist für Schumacher schon vieles erreicht: Er hat zwischen 5 und 7 Uhr unter dem gleißenden Licht seiner smarten Küchenlampe („hemmt die Melatoninausschüttung, macht wach, sorgt für Konzentration“) einen Vortrag über Selbstvermessung vorbereitet, Ausdauer und Muskelaufbau trainiert und seine erste Ration Eiweiß (gut für die Muskeln) zu sich genommen. So ein aufwendiges Frühstück hat er sich früher nicht gegönnt. Das kostet schließlich Zeit. Und mit deren Optimierung hatte damals alles angefangen, als er gerade seine Masterarbeit schrieb und die Zeit knapp war. Damals mixte er morgens ein Stück Butter in seinen Kaffee und trank die Masse auf dem Weg ins Fitnessstudio. In einer Stunde waren damit die Themen Frühstück und Sport in einem Aufwasch erledigt.

Er optimierte seinen Tagesablauf immer mehr, um möglichst viel in seinem Leben unterzukriegen. Über zwei Jahre protokollierte er jede Aktivität, die mindestens 15 Minuten in Anspruch nahm und trug sie in einen Online-Kalender ein. 2014 hatte er seinen Idealtag erreicht: Unter den Block Frühstück und Sport konnte er Woche für Woche eine durchgehende 8-Uhr-Gerade ziehen. Nach seinem Geschmack hätte die bis ins Unendliche so weitergehen können.

Dann kam seine Freundin dazwischen, die auf gemeinsamen Mahlzeiten bestand. Ein anderes Optimum war gefragt, das auch ein erfülltes Beziehungsleben mit einschloss – und so dehnte sich der Sport- und Frühstücksblock wieder aus.

Vielleicht kommt ja irgendwann etwas dabei heraus.

Als sich Schumacher seiner Arbeitsstelle nähert, 9.02 Uhr, 7425 Schritte, sieht er schon von weitem seinen Kollegen Mathias Maul durch den Garten der alten Villa wandern, das Telefon am Ohr, auf und ab, Runde um Runde. „Das macht er wegen des Schrittzählers“, sagt Schumacher grinsend. Er winkt, zieht schwungvoll die Tür auf und sucht sich im Büro im ersten Stock einen freien Schreibtisch. Aus seiner Tasche packt er: den Laptop, zwei Flaschen Limettensaft („Vitamin C ist gut für den Körper, der Saft schmeckt gut, so trinke ich mehr Wasser, das ist gesund“), ein mobiles Gerät zur Messung der Hirnströme, dessen Bügel er direkt anlegt, eine Elektrode an der Stirn. Während Schumacher To-do-Listen bearbeitet, Punkte abhakt (Limettensaft ins Büro mitbringen) und Mails beantwortet, speichert sein Smartphone Alpha-, Beta- und Gamma-Wellen ab.

Das Datensammeln wird zum Selbstzweck

Am Zusammenhang zwischen Hirnwellen und Emotionen beißen sich Hirnforscher die Zähne aus. Wie erkennt man anhand der Wellen, ob ein Arbeitnehmer gerade genervt oder zufrieden ist? Vielleicht kann der Arbeitsplatz der Zukunft so etwas registrieren und sich entsprechend anpassen, hoffen Forscher. Aber der Weg dahin ist noch weit, noch ist vieles unklar. Was also will Schumacher mit den Daten anfangen? „Mal sehen“, sagt er schulterzuckend. Vielleicht kommt ja irgendwann etwas dabei heraus. Er ist wie ein eifriges Eichhörnchen, das Nüsse sammelt.

Beim Mittagessen fachsimpelt Schumacher bei veganen Reispapierrollen mit seinem Kollegen Mathias Maul über die neuesten Gesundheitsstudien. Die beiden arbeiten als Berater für ein Start-up, das Gesundheits-Checkups anbietet und wissenschaftlich abgesicherte Tipps für ein gesünderes Verhalten gibt. Nach unzähligen Studien, in die Maul sich vertieft hat, weiß er vor allem eines: „Das Thema ist extrem vielschichtig.“ Was soll man essen? Wie hoch soll der Vitamin-D-Spiegel sein? Sind Kohlenhydrate wirklich so schlimm? „Das ist alles nicht so eindeutig bewiesen.“ Nur eines: „Der Zusammenhang zwischen Bewegung und Gesundheit ist extrem gut belegt.“ Und weil das so eindeutig ist, trägt er seit drei Jahren einen Schrittzähler, und geht seit mehr als zwei Jahren jeden Tag 10.000 Schritte, jeden einzelnen Tag, ohne Unterbrechung.

Die Blutwerte wandern erst mal auf die Festplatte, zu den Hirnwellen und den Bildern seiner Laptop-Kamera, die jede Stunde eines von ihm aufnimmt.

Aber wie viel Bewegung kann man Menschen zumuten? Was soll er ihnen empfehlen? Und ab wann demotiviert es sie eher, weil sie merken, sie schaffen es nicht? Erste Ergebnisse einer Langzeitstudie des Oldenburger Forschungsinstituts Offis und der Universität Oldenburg zeigen nämlich auch: Fitnesstracker motivieren Menschen vor allem dann, wenn das Ziel erreichbar ist. „Dann bewegen sich die Menschen mit mehr Spaß“, sagt Studienleiter Jochen Meyer, „die Geräte motivieren sie dann mehr als sechs Monate lang.“ Wichtig sei allerdings, dass die Motivation von innen heraus komme: man muss selbst wollen. Das sei verhaltenspsychologisch gesehen schon der erste Schritt zur Veränderung. „Sie sollten also nie ein Fitnessarmband verschenken an jemanden, der nicht darüber nachdenkt, sich zu verändern.“

Mathias Maul hat lange darüber nachgedacht, was das bedeutet. Schließlich ist er bei den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO gelandet, die nach einer Auswertung zahlreicher Studien einen Kompromiss gefunden hat, wie viel Bewegung gut ist: „Für einen moderaten Gesundheitsnutzen sollte man sich 150 Minuten pro Woche bei mittlerer Intensität bewegen.“ Der Puls klettert dabei auf Werte zwischen 90 und 120. Oder 30 Minuten pro Tag mit einem Puls von mindestens 130 – das ist der grüne Kreis auf Schumachers Smartwatch. Mehr wäre besser, aber könnte zu viel verlangt sein.

DNA, Blut, Hirnwellen – alles wird analysiert

Nach Feierabend grübelt Schumacher über die Auswertung eines Bluttests. 52 Vitalwerte hat er testen lassen, das Blut hat er selbst eingeschickt, es brauchte nur wenige Tropfen aus einer Fingerspitze. „Das Beste steckt in Dir!“ wirbt das Berliner Unternehmen Vimeda für sein „personalisiertes Healthcoaching“. Schumacher hat den größten Test gewählt, weil er wissen will, was er noch nicht weiß. 13 Werte seien kritisch, zeigt der Bildschirm, nur was bedeutet „Dihomogammalinolinsäure“? Und was ist ein „Transferrinrezeptor“? Drei weitere Werte sind unter „Tendenz kritisch“ aufgelistet, darunter ein Cholesterinwert. „Vielleicht sollte ich doch weniger Butter essen“, sagt Schumacher und grinst ertappt. Über den grünen Bereich freut er sich: 36 Werte sind „optimal“. Auch seine Gene hat er schon mal analysieren lassen. Aber das ist wie mit den Hirnwellen und dem Blut: Aus den Genen kann man noch zu wenig direkt ablesen. „So richtige Schlüsse kann man daraus nicht ziehen“, sagt er schulterzuckend. Die Blutwerte wandern erst mal auf die Festplatte, zu den Hirnwellen und den Bildern seiner Laptop-Kamera, die jede Stunde eines von ihm aufnimmt. Vielleicht kann man eines Tages an ihnen die Emotionen herauslesen, hofft Schumacher. Vielleicht kann man das alles irgendwann noch brauchen, um das Leben zu optimieren. Oder um herauszufinden, was nicht so optimal gelaufen ist.

Am Abend hat Florian Schumacher Kollegen zum Abendessen eingeladen, um über die neuesten Gadgets und Messmethoden zu sprechen. Da sitzen über Linsen („da kriegen wir Veganer unser Eiweiß her“) mit Kokosmilch und Kurkuma gewürzt („entzündungshemmend“): Mathias, der hunderte Gesundheitsstudien gelesen hat und Tanja, eine Krankenschwester, die das Start-up berät und die Check-ups begleitet, und Schumachers Freundin Eva. Die drei Kollegen reden sich ein wenig in Rage bei der Frage, welches Gerät den Puls exakt misst, was Tanjas und Florians Ruhepuls sofort auf 77 steigen lässt. Ungläubige Blicke auf die Messgeräte. „Ach, jetzt wieder 59“, sagt Florian kurz darauf. „54“ kontert Tanja grinsend. Zufrieden betrachtet Mathias die ständige 56 an seinem Handgelenk.

Bei Schumacher schließt sich nun der letzte Kreis: Er ist den ganzen Tag über einmal pro Stunde aufgestanden, ohne dass ihn die Uhr daran erinnern musste. Das Licht wechselt langsam in immer wärmere Farbtöne, die drei Freunde beginnen zu gähnen. Tanjas Armband brummt als erstes. „Oh, 21.30 Uhr, Zeit ins Bett zu gehen“, sagt sie und verabschiedet sich. Um 22 Uhr vibriert Florians Smartwatch. „Tja, ich muss dann mal“, sagt er entschuldigend und bringt Mathias zur Tür, der seine letzten Schritte für heute hinter sich bringen wird.

23 Uhr:
Florian Schumacher liegt im Bett. Die Sensoren messen einen Ruhepuls von 54.
Einatmen. Ausatmen.

Erschienen am 18. März 2018

Text
Eva Wolfangel

Fotografie
Sebastian Mast