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Wie wollen wir essen?

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Lenni Baier

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Andrew Müller

An der Berliner Humboldt-Universität hat Andrew Müller über den Verzehr von Insekten geforscht. Dazu reiste er mehrfach nach Südostasien. Heute schreibt er als freier Autor und Journalist unter anderem über Biodiversität, Artenschutz und verwandte Wissenschaftsthemen.

 

Insekten sind lecker – aber nicht die Nahrung der Zukunft

Insekten sind das Fleisch der Zukunft, heißt es. Aber stimmt das? Auf seinen Forschungsreisen hat Andrew Müller viel gesehen: Kinder, die Flügel von Heuschrecken abreißen, bis ihnen die Finger bluten. Oder Grillen, die mit Hühnerfutter gemästet werden. Die Erzählung vom nachhaltigen Insektenessen sieht er nun in einem anderen Licht. Ein Kommentar.

Ich bin nicht gegen den Verzehr von Insekten. Dafür habe ich auf meinen Forschungsreisen in Asien zu viele leckere Termiten und Maulwurfsgrillen probiert, habe Heuschrecken in allen Variationen gegessen und das unverkennbare Aroma der Riesenwasserwanze kennengelernt. Ich habe viel erfahren über Fang und Zubereitung der Tiere und über lokale Traditionen des Insektenverzehrs. Ob sich all dies aufgreifen und in großem Maßstab sinnvoll nutzen ließe? Das war eine der Fragen, mit der ich mich damals auf die Reise machte.

Die ersten Zweifel kamen mir vor gut zehn Jahren auf dem thailändischen Rong Kluea-Markt. Er liegt an der Grenze zu Kambodscha und ist fast so groß wie eine Stadt; man kann in jedem »Viertel« andere Dinge kaufen: Schuhe, Mopeds, Insekten. In einer großen Halle werden täglich tonnenweise Grillen, Heuschrecken oder Wasserwanzen an- und abtransportiert. Im Rahmen meiner Bachelorarbeit besuchte ich diesen Hotspot des globalen Insektenverzehrs.

Auf dem Markt sah ich etwas, das meinen Blick auf die Insekten-Branche grundlegend veränderte. Versteckt in der hintersten Marktecke war ein Bereich, in dem Dutzende Frauen und Kinder unter sengender Hitze die Flügel lebender Heuschrecken abrissen. Mit der bloßen Hand, viele hatten wunde Finger mit Pflastern darauf. Die Frauen kamen aus Kambodscha, wie sie mir berichteten; auch ihre Kinder arbeiteten täglich zwölf Stunden, statt zur Schule zu gehen. Dafür würden sie weit unter dem geltenden Mindestlohn bezahlt. Von da an begann ich, andere Fragen zu stellen.

Zuvor war ich überzeugt gewesen: Insekten könnten uns helfen, das Welthungerproblem zu lösen, den Fleischkonsum zu reduzieren und die Klimakrise zu bremsen. Die Erzählung, die mich damals begleitete und 2013 durch einen Report der UN-Welternährungsorganisation FAO populär wurde: Als proteinreiche und CO2-arme Nährstoffquellen verbrauchen Insekten deutlich weniger Wasser, Land und Futter als Vieh und sind somit die »Nahrung der Zukunft«.

Heute, nach weiteren Reisen durch Thailand und Laos, einer Masterarbeit und mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema weiß ich, wie naiv das war. Nachdem ich auf dem Rong Kluea-Markt Kinderarbeit beobachtet hatte, stieß ich auf immer mehr Widersprüche. Die von den Kindern entflügelten Heuschrecken etwa wurden auf kambodschanischen Feldern gesammelt und nach Thailand exportiert. Dort verkauft man sie zu hohen Preisen als Snacks an Städter:innen, die eher mit Übergewicht kämpfen als mit Proteinmangel – während in Kambodscha mehr Menschen hungern als in Thailand.

Mir wurde klar: Hier ist unser kapitalistisches System das Problem. Und kein Nahrungsmittel der Welt wird den Welthunger beenden, wenn sich am System nichts Grundlegendes ändert.

Denn Hunger ist ohnehin eher ein Verteilungsproblem: Egal, wie viel Insektenprotein man produziert – den Menschen, die zu arm sind, um es zu kaufen, bringt das nichts. Noch sammeln einige Südostasiat:innen Insekten kostenlos in der Natur oder züchten sie in kleinem Maßstab für den Eigenverzehr. Aber die Tiere werden immer mehr kommerzialisiert – und kosten oft das Vielfache von »normalem« Fleisch.

Ist es nicht trotzdem ökologisch sinnvoll, Insekten zu essen? Auf dem Papier mag das teilweise stimmen, da viele Arten sehr nährstoffreich sind und wohl eine bessere Futterverwertung aufweisen als etwa Rinder. Das betont auch der viel zitierte FAO-Report. Doch daraus zu schließen, Insekten seien per se nachhaltig, ist falsch.

Denn in der Praxis verfüttern die über 20.000 Grillen-Farmer:innen in Thailand Hühnerfutter. Dieses enthält importiertes Soja und Fischmehl, damit das sechsbeinige Kleinstvieh schneller wächst. Das trübt die Ökobilanz ein. Die bisher wenigen harten Studien zeigen, dass die Massenzucht von Grillen nicht unbedingt nachhaltiger ist als die von Hühnern. Außerdem ersetzen die modernen Insekten-Produkte, die man in jedem Supermarkt Thailands kaufen kann, wahrscheinlich gar kein Fleisch. Sondern bringen zusätzlichen Konsum – und CO2-Ausstoß – mit sich.

Diese Muster zeigen sich im Westen ganz ähnlich, zumal alles zusammenhängt: Die EU, die Insekten inzwischen als Nahrungsmittel zulässt, kooperiert seit 2016 mit der Regierung Thailands, um den Einkauf von geprüftem Grillenmehl zu vereinfachen. Dass es in Thailand viel billiger produziert werden kann, mag einerseits daran liegen, dass dort weniger geheizt werden muss. Der andere Grund aber sind die niedrigeren Lohnkosten. Selbst in akademischen Publikationen geht es häufig darum, wie man Insektenzucht billiger und profitabler machen kann.

Bleibt es bei diesem Fokus auf einer möglichst billigen Produktion, passieren die gleichen Fehler wie schon mit Fleisch oder Soja: profitgesteuerte Massenproduktion, Monokulturen, Einsatz von Ackergiften oder Antibiotika. Die Probleme menschlicher Ernährung sind zu komplex, um sie einfach durch den Austausch – oder eher: das Hinzufügen – eines Elements zu lösen. Das System selbst muss sich ändern.

Davon abgesehen, dass man auch einfach vegetarisch leben oder Fleisch in kleinen Mengen anders produzieren kann, könnte auch die Produktion von Insekten als Nahrung besser laufen: Man müsste sie weder um die halbe Welt transportieren noch in Fabriken mästen. Das zeigt ein Beispiel: Deutsche Imker werfen jedes Jahr rund 100 Tonnen Bienenlarven weg. Um den Rest des Volkes vor Parasiten zu schützen, entsorgen sie die männlichen Larven, aus denen die Drohnen schlüpfen würden. Im Vergleich zu den 7 Millionen Tonnen Fleisch, die jedes Jahr in Deutschland produziert werden, ist das nichts. Aber vielleicht darf das gar nicht der Maßstab sein.

Es erfordert etwas Geschick, die Larven und Puppen »geretteter« Bienendrohnen aus den Waben zu lösen. Doch aus ihnen lassen sich leckere Sachen zubereiten. Und sie eignen sich vorzüglich als Ei-Ersatz, etwa beim Kuchenbacken. Was ich sehr empfehlen kann: Bienenstich mit echten Bienen drin.

Erschienen am 16. Mai 2024

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