»Wir sind in jede Richtung veränderbar.«
Niels Birbaumer erforscht Lernprozesse im Gehirn und ist immer wieder überrascht, was es leisten kann. Ein Gespräch über Selbstoptimierung, heilbare Psychopathen und die neuronalen Kunststücke der Zen-Mönche.
Martin Theis: Herr Birbaumer, seit mehr als fünfzig Jahren studieren Sie das Gehirn. Wie würden Sie das Wesen dieses Organs beschreiben?
Professor Niels Birbaumer: Sein Hauptmerkmal ist die Fähigkeit zur Assoziation. Wir lernen dadurch: Wenn wir etwas tun, folgt darauf etwas anderes. Diese beiden Signale zu verbinden, ist seine zentrale Aufgabe. Ein Neurologe würde sagen: Es steuert den Körper so, dass er möglichst wenig Schaden nimmt. Ein Philosoph sagt, es sei der Träger des Bewusstseins.
Wie unterscheidet sich das menschliche Hirn von dem anderer Arten?
Es hat die höchste Plastizität. Wir sind also extrem wandelbar und lernfähig.
Was bedeutet diese Plastizität für unser Konzept von Persönlichkeit?
Wenn man das Hirn untersucht, wird deutlich, dass es so etwas wie einen festen persönlichen Kern nicht gibt. Prinzipiell sind alle Eigenschaften in jede Richtung veränderbar. Aus einem schüchternen Menschen kann ein Draufgänger werden und umgekehrt.
Ihre eigene Biografie scheint dafür das beste Beispiel zu sein.
Ja, ich war als Jugendlicher kriminell. Ich habe geraubt, Autos geknackt und einen Mitschüler fast mit einer Schere erstochen. Dabei hatte ich immer große Angst, doch ich kam an Geld und erntete Anerkennung. Erst als ich im Jugendarrest landete und mir mein Vater mit einer Polstererlehre drohte, habe ich mich geändert. Wir lernen über die Konsequenzen unseres Verhaltens, im Guten wie im Schlechten.
Sie haben versucht, einen ähnlichen Lerneffekt bei psychopathischen Straftätern zu erzielen. Die gelten gemeinhin als nicht therapierbar. Wie weit sind Sie gekommen?
Ein Psychopath kennt keine Angst. Wenn er ein Verbrechen begeht, fürchtet er weder eine Strafe, noch die Folgen für sein Opfer. Die entsprechenden Funktionskreise in seinem Hirn arbeiten nur bedingt. Früher haben wir Psychopathen mit Elektroschocks behandelt. Die Verhaltenstherapeuten haben Sexualstraftätern brutale Pornografie gezeigt und bei der geringsten Erektion Stromschläge verabreicht. Die Erregung durch gewaltfreie Pornografie belohnten sie. Diese Methode ist sehr effektiv, aber ethisch nicht mehr vertretbar.
Haben Sie inzwischen eine Alternative zu dieser brutalen Prozedur gefunden?
Wir haben bei psychopathischen Häftlingen mit dem sogenannten Neurofeedback gute Ergebnisse erzielt. Dabei wird die Hirnaktivität gemessen und auf einem Monitor bildlich dargestellt. Die Versuchsperson kann dadurch lernen, sie zu beeinflussen. Die Häftlinge sahen ihre Angstareale zum Beispiel in Form eines Fieberthermometers. Nun sollten sie die Temperatur irgendwie nach oben treiben, also die lahmen Hirnbereiche gedanklich aktivieren. Nach mehr als einem Dutzend Trainingsstunden waren sie wesentlich empathischer und konnten Angst empfinden. Ob der Effekt außerhalb des Gefängnisses anhält, wissen wir nicht. Psychopathen sind nicht motiviert, das zu trainieren. Die machen nur mit, wenn man ihnen viel Geld gibt. Wir haben sie bezahlt.
Damit sind wir auch anfällig für Manipulation. Etwa in totalitären Staaten, in denen Denunziation, Folter und Mord politisch belohnt werden.
Wenn Sie antiautoritär erzogen wurden, werden Sie mit Diktaturen eher ein Problem haben. Trotzdem kann unser System blitzschnell kippen. Das Gehirn fragt sich nicht, was gut und was schlecht ist. Ich hoffe immer noch, mit meiner Arbeit dazu beizutragen, dass wir unsere niederträchtige Seite in den Griff bekommen. Leider sehe ich bisher keine Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Hoffnung erfüllt.
Immerhin können wir unser Leben auch zum Besseren ändern und unsere Fähigkeiten ausbauen. Was muss ich tun, damit sich mein Gehirn entfaltet?
Sie sollten nicht im selben Trott verharren, neue Herausforderungen suchen und sich in unterschiedlichen Umgebungen bewegen. Deshalb sollten wir unsere Alten auch nicht in Heime abschieben, damit zerstören wir ihre Hirne. Den größten Effekt hat es, wenn Sie Musik machen.
Woran liegt das?
Musizieren ist die menschliche Tätigkeit, bei der am meisten parallel läuft. Sie hören auf den Klang, schauen auf Noten oder achten auf die anderen Musiker. Sie fühlen mit den Händen und koordinieren Ihre Bewegungen. Sie erfassen die Logik der Komposition und sind gleichzeitig emotional bewegt. Unter diesen Bedingungen wachsen die Zellen optimal. Musiker haben im Schnitt einen um zwanzig Punkte höheren IQ, schneiden in mathematischen Tests besser ab und
werden in der Regel älter als der Rest. Wenn ich ein menschliches Gehirn seziere, erkenne ich mit bloßem Auge, ob der Mensch aktiv Musik gemacht hat. Das ist einzigartig.
Wie weit lässt sich das Gehirn eines Menschen denn optimieren?
Die pädagogische Literatur formuliert klare Grenzen: Wenn Sie mit einem IQ von 80 auf die Welt kommen, kann man Sie auf 100 hoch trainieren, nicht aber auf 120. Ich bin da etwas optimistischer. Wenn es keine ethischen Bedenken gäbe und ich mit Implantaten sowie Pharmaka arbeiten würde, könnte ich aus einem IQ von 80 womöglich 140 machen. Ich war immer wieder überrascht, was alles möglich ist. Zum Beispiel, als ein Patient mit halb zerstörtem Gehirn nach fünf Jahren Koma plötzlich aufwachte und anfing, mir aus seinem Leben zu erzählen. Jeder Neurologe hätte gesagt: Aus so einem Hirn kann nichts mehr raus kommen.
Sie haben unter anderem Menschen mit Inselbegabung untersucht, sogenannte Savants. Das sind Autisten mit zum Teil unglaublichen Fähigkeiten. Dabei wollten Sie herausfinden, ob ein normales Gehirn ähnliche Leistungen vollbringen kann. Steckt in jedem von uns ein Genie?
Die Hirne dieser Autisten sind in der Regel schwer geschädigt, was mit Verhaltensstörungen einhergeht. Dennoch ragt daraus jeweils eine Fähigkeit wie Zeichnen oder Klavierspielen hervor, in der sie extrem überdurchschnittlich sind. Wir haben beobachtet, dass ihr Hirn auf einen äußeren Reiz dreimal schneller reagiert. Der Savant hat damit einen besonders guten Zugriff auf das Vorbewusste. Sein Wahrnehmungsfenster ist weiter geöffnet und weniger selektiv. Das bedeutet anderseits, dass er von Reizen überflutet wird und sich zum Beispiel in seiner Heimatstadt nicht orientieren kann. Um uns der Begabung der Savants anzunähern, brauchen wir Zugang zu unserem Vorbewussten. Wir haben in Selbstversuchen mittels elektrischer Hirnstimulation gelernt, die Verarbeitung äußerer Reize in den ersten zehn bis fünfzig Millisekunden bewusst zu modifizieren. Normalerweise entsteht Bewusstsein frühestens nach 215 Millisekunden. Die Forschung haben wir aber nicht bis an die Grenze getrieben. Es ist fragwürdig, in das Vorbewusste einer Versuchsperson einzugreifen.
Mittlerweile versuchen viele Menschen, durch diverse Hilfsmittel ihre kognitiven Leistungen selbst zu verbessern. Kann das etwas bringen?
In den USA sind vor allem Geräte zur elektrischen Hirnstimulation Trend unter Studenten. Die Effekte sind nachweisbar, aber nicht so hoch, wie wenn Sie Sport treiben oder Musik machen. Diverse Substanzen wie etwa Amphetamine bringen nur kurzfristig etwas. Davon werden Sie abhängig und verlieren auf Dauer an Intelligenz.
Könnten wir nicht einfach zufrieden sein mit dem, was wir haben?
Das Hirn ist ständig auf der Jagd nach positiven Effekten. Jene Areale, welche die Belohnung für ein bestimmtes Verhalten vermitteln, sind unersättlich. Die sagen Ihnen: Mach es sofort nochmal. Das treibt uns an.
Zufriedenheit ist also neuronal nicht vorgesehen?
Das ist wie mit den Drogen: Der Belohnungseffekt wird schwächer, aber das Verlangen danach steigt exponentiell an. Das sind übrigens keine Erkenntnisse der Hirnforschung, wir beschreiben nur, wie es funktioniert. Schopenhauer hat es schon im 19. Jahrhundert gewusst.
Schopenhauer schrieb dazu: „Keine Befriedigung ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens.“ Gibt es damit keinen Ausweg aus der Diktatur des Wollens und der Gier?
Wir haben Zen-Mönche untersucht, die ihr Leben lang meditiert hatten. Bei denen kann von Gier nicht mehr die Rede sein. Durch die Meditation gelingt es ihnen, die Belohnung vom Antrieb zu trennen. Sie kappen die Verbindung zwischen den entsprechenden Hirnteilen. Ich konnte es nicht glauben, bis ich es sah.
In welchem Zustand befinden sich diese Mönche in der Meditation?
Es scheint eine absolute Öffnung des Bewusstseins zu sein, reine Aufmerksamkeit, auf keinen bestimmten Punkt gerichtet. Das geht einher mit völliger Passivität, auch in ihrem Hirn. Die sind einfach zufrieden. Wenn die gesamte Menschheit so wäre, würde sie aussterben. Obwohl das auch kein großes Unglück wäre …
Gibt es per Neurofeedback auch eine Abkürzung zur Zen-Zufriedenheit?
Zu Beginn waren die ostasiatischen Meditationstechniken sehr beliebt in der Neurofeedback-Forschung, auf den Konferenzen waren viele buddhistische Mönche. Irgendwann haben sich die Mönche abgewandt: Die Wissenschaftler dachten, sie könnten alle Ergebnisse ohne Meditation erreichen, allein durch Training am Gerät. Tatsächlichen waren ihre Ergebnisse aber so schlecht, dass die Forschung eingeschlafen ist. Das ändert sich erst jetzt wieder.
Sie nutzen die Methode auch zur Therapie Ihrer Patienten. Wen können Sie damit behandeln?
Wir haben sehr gute Ergebnisse nach schweren Schlaganfällen sowie bei Epilepsie erzielt. Auch Aufmerksamkeitsstörungen können wir lindern, allerdings müssten diese Patienten dauerhaft trainieren, etwa mit Hilfe tragbarer Geräte und Implantate.
Gegen all das gibt es auch Medikamente. Worin liegt der Vorteil Ihrer Methode?
Sie hat keine Nebenwirkungen. Eine pharmakologische Behandlung hingegen ist neuronal immer schädlich. Die Substanz überschwemmt das Gehirn und ist nicht auf den Teil gerichtet, der sie braucht. Sie nehmen dem Hirn zudem die Motivation, sich zu ändern. Wenn Sie Ihre Pillen absetzen, sind die Symptome wieder da. Sinnlose Medikation kostet jährlich ein Vermögen und nützt allein der Pharmaindustrie.
Sie sehen einen Fehler im System?
Die Mediziner denken, organische Krankheiten lassen sich nur organisch behandeln Psychologen denken, psychische Krankheiten sind nur durch psychologische Faktoren zu beeinflussen. Beides ist objektiv falsch. Die Krankenkassen müssten die Anreize für Trainingsmethoden erhöhen, anstatt blind jede Psychotherapie zu genehmigen.
Sie haben etwas gegen Psychotherapie?
Überhaupt nicht. Aber die Therapeuten heutzutage sitzen mit ihren Patienten ja nur herum und quatschen. Ich plädiere dafür, optimale Lernbedingungen zu schaffen. Angststörungen zum Beispiel lassen sich wunderbar behandeln. Dafür müssten sie aber von ihrem Lehnstuhl aufstehen und die Menschen konfrontieren. Ich hatte einen Patienten, der dreimal hintereinander einen ähnlichen Autounfall hatte und darüber paranoid geworden ist. Den habe ich an mich gekettet. Ich stieg mit ihm ins Auto, raste wie ein Irrer und missachtete jede Verkehrsregel. Er hat geschrien und sich in die Hose gemacht. Sein Hirn aber lernte, dass Autofahren nicht zwangsläufig negative Folgen hat. Erzählen Sie das heute mal einem Psychotherapeuten.
Sind Sie als Psychologe deshalb in der Medizin gelandet?
Die wissenschaftlichen Psychologen haben meine Arbeit ausgezeichnet, die therapeutischen Psychologen haben aber immer noch nicht kapiert, worum es geht. Die wollen mit Technologie nichts zu tun haben. Ein Mediziner versteht wenigstens die Lernprinzipien unseres Hirns, ob es ihm nun passt oder nicht. Hier dominiert das Effizienzdenken, denn letztlich geht es ums Geld. Im Schnitt komme ich mit Medizinern sehr gut klar. Abends bei einem Glas Wein sitze ich trotzdem lieber mit Geisteswissenschaftlern zusammen, die sind meist gebildeter. Sogar mit Psychoanalytikern, deren Methoden ich mein Leben lang bekämpft habe. Unsere Hirne sind zum Glück auch da flexibel.
Erschienen am 18. März 2018