Thema
Stille und Klang

Interview
Kim Shirin Cupal

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Lenni Baier

 

 

 

 

 

 

 

Lärm ist keine Frage der Lautstärke

Viele werfen mit den Begriffen Stille, Klang oder Lärm um sich, ohne zu verstehen, was diese Wörter wirklich bedeuten. Die Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp forschte an der Technischen Universität Berlin viele Jahre daran, unser Verständnis von Lärm- und Lärmbekämpfung zu schärfen. Ein Gespräch darüber, dass Stille nicht unbedingt etwas Angenehmes ist – und es für Lärm viel mehr braucht als Lautstärke.

Frau Schulte-Fortkamp, gerade im Advent freuen sich viele Menschen auf die stille Zeit. Sie aber sagen, Stille kann Angst machen. Warum?

Stille bedeutet eigentlich, keine Geräusche zu hören. Aber Geräusche gestalten unsere Umwelt und geben uns Orientierung, unsere Lebensräume sind voll von akustischen Informationen. Wenn das wegfällt, steht man im geräuschlosen Raum. Einen solchen Zustand findet man kaum, zumindest nicht in der Natur. Es gibt technisch gestaltete Räume, etwa für das Astronautentraining, darin ist es tatsächlich wirklich still.

Warum sagen dann so viele Menschen, dass sie nach Stille suchen?

Die Menschen suchen eher Ruhe. Selbst ein Bergsee ist nicht ohne Akustik. Man kann hören, wie das Wasser gegen das Ufer schwappt und vielleicht auch das Summen von Insekten wahrnehmen. Ruhe ist die Abwesenheit von störenden Geräuschen, also auch die Abwesenheit von Lärm. Menschen empfinden Musik häufig als beruhigend, oder das Rauschen eines Flusses.

Ist das der Grund, warum viele Menschen am Abend im Bett noch einen Podcast, ein Hörbuch oder Musik abspielen? Um der Stille beim Einschlafen zu entkommen?

Ich bin keine Schlafexpertin, aber ich vermute, dass bestimmte Geräusche beruhigen. Dadurch lösen wir uns von unseren Alltagsproblemen, lassen andere, ausgewählte und schönere Informationen in uns ein und beginnen, uns zu entspannen. So gleiten wir leichter in den Schlaf. Für viele Menschen geschieht das beim Anhören einer Geschichte.

Gibt es auch Menschen, die Lärm benötigen, um sich zu beruhigen? Ein Bekannter lässt ununterbrochen den Fernseher laufen, er sagt, er kann ohne dieses Hintergrundgeräusch nicht einschlafen.

Moment! Da haben wir schon wieder ein Missverständnis. Lärm ist ein Geräusch, das stört. Oder besser: Das wir als störend empfinden. Für Sie ist der im Hintergrund laufende Fernseher vielleicht Lärm. Für Ihren Bekannten kann dieses Geräusch aber gar kein Lärm sein. Wenn er bei dem Geräusch einschlafen kann, dann stört es ihn nicht und somit ist dieses Geräusch für ihn kein Lärm.

Das heißt, ein Geräusch wird zu Lärm, sobald jemand sich davon gestört fühlt?

Genau. Es sind vor allem laute Geräusche, die sehr viele Menschen als störend empfinden. Zum Beispiel die Geräusche einer dicht befahrenen Straße. Es geht dabei aber nicht unbedingt um Lautstärke. Nichts ist störender, als ein leise tropfender Wasserhahn in der Nacht. Wir messen Lärm nicht in Dezibel, sondern in psychologisch messbaren Reaktionen. Wenn wir uns mit einem Geräusch wohlfühlen, klingt es. Wenn es uns stört, nennen wir es Lärm.

Das heißt, ich kann ein Geräusch lieben, und Sie empfinden das gleiche Geräusch als Lärm?

Absolut. Wenn beispielsweise ein Kind auf seinen Vater wartet und den Motor seines Motorrads hört, dann ist das ein sehr lautes Geräusch, das die meisten wohl als Lärm wahrnehmen. Für das Kind hingegen hat das Geräusch eine positive Bedeutung: Der Vater kommt nach Hause. Eine ähnliche Situation entsteht auf der Tanzfläche in einem Club: Laute Musik macht viele Menschen glücklich. Jemand, der diese Art von Musik aber nicht mag, wird sie viel eher als Lärm empfinden.

Wenn Lärm etwas so Subjektives ist, was ist dann mit Lärmschutzwänden neben der Autobahn oder Bahnstrecken?

Wenn wir Lärmschutzwände neben einer Autobahn bauen, wird das den Schallpegel senken. Aber das reicht nicht. Unser Lärmempfinden ist extrem subjektiv und daher braucht es neben einem Hindernis für den Schall zusätzliche Maßnahmen, die dem Individuum gerecht werden.

Zum Beispiel?

Ein gutes Beispiel ist die Umgestaltung des Nauener Platzes in Berlin. Unsere Aufgabe war, unter anderem den Eindruck des Verkehrslärms zu verringern und den Platz akustisch sogar attraktiv zu machen. In solchen Fällen nutzen wir sogenannte Soundscape-Methoden. Das heißt, wir beziehen die Betroffenen in unsere Analysen mit ein. Dadurch lernen wir, welche akustischen Situationen in der gegebenen Situation wesentlich sind, was nach Meinung der lokalen Expertinnen und Experten verändert werden müsste. Wir haben mit den Jungen, den Alten, den Männern, Frauen und Kindern sogenannte Soundwalks durchgeführt. Das heißt, wir haben in kleinen Gruppen den Platz erforscht. Es gab bestimmte Plätze, die waren für alle gleich wichtig. Ohne, dass sie sich zuvor abgesprochen hätten.

An welchen Plätzen? Und warum dort?

Es war da, wo die Hauptverkehrsstraßen zusammenkommen. Oder Plätze, wo es plötzlich ruhig war. Einmal war ein vierjähriges Mädchen dabei, sie ist vorneweg gelaufen und hat gesagt: Ich zeig euch jetzt meinen Lieblingsplatz. Diesen Platz hatte zuvor keiner gewählt. Warum gerade dort, haben wir sie gefragt. Sie hat erklärt: Weil ich hier alle Vögel singen hören kann.

Der Nauener Platz liegt zwischen zwei lauten Hauptverkehrsstraßen.

Die Anwohner haben also als Gemeinschaft die lautesten und leisesten Plätze identifiziert. Das klingt gut, aber eher nach Sozialpädagogik. Inwiefern hilft das, ein Lärmschutzkonzept zu entwickeln?

Wenn wir über Lärmschutz sprechen, geht es darum, Lärm nicht nur zu verhindern, sondern auch darum, mit bestehenden Geräusch-Ressourcen zu arbeiten. Geräusche können ja nicht nur lärmen, sondern auch das Wohlbefinden steigern. Am Nauener Platz konnten wir feststellen, an welchen Plätzen sich die Leute gerne aufhalten und wo nicht. Dort, wo sie sich gerne aufhalten, haben wir Hörinseln geschaffen. Also Bänke und Sitzringe. Da konnte man auf Knopfdruck Wunsch-Geräusche abspielen, wie Vogelgezwitscher oder Wasserrauschen. Um den Spielplatz herum, wo die Anwohner den Lärm als besonders störend beschrieben hatten, haben wir uns für eine Gabionenwand entschieden – 1,20 m hoch, aus Steinen und Pflanzen gebaut. So konnten wir den hohen Schallpegel durch den Straßenverkehr um drei Dezibel senken. Die gemeinsam erarbeiteten Massnahmen wurden auch nachhaltig akzeptiert.

Woher wissen Sie das?

Der Platz wird schon mehr als zehn Jahre genutzt, er zeigt natürlich Spuren, ist aber immer noch funktionsfähig. Wahrscheinlich, weil es ihr Platz, ihr Wohnzimmer, geworden ist. Der Wunsch, mitzuwirken bei der Gestaltung von neuen akustischen Raumstrukturen ist enorm. Auch hat die Pandemie zu neuen Bewusstsein für Akustik geführt.

Was meinen Sie mit einem neuen Bewusstsein für Akustik?

Während der Pandemie gab es von einem Tag auf den anderen diese Leere auf den Straßen. Viele Menschen haben dadurch – wie viele Untersuchungen zeigen, ein anderes Bewusstsein für Geräusche, Ruhe und Lärm entwickelt.

Aber sind Menschen, die in einer stark schallbelasteten Umgebung leben, nicht an den nächtlichen Lärm gewöhnt?

Das meint man. Der Organismus reagiert in der Nacht immer negativ auf Lärm. Lärm stört den Schlaf und kann zu Schlaflosigkeit, Nervosität und Stress führen. Und das wiederum sind Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen, wie auch Herzinfarkte. Was stimmt: Wenn Geräusche erwartbar sind, können manche Menschen sich mit ihnen arrangieren. zum Beispiel gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen im Urlaub nicht schlafen konnten, weil sie ihre übliche Schallbelastung „vermissen“. Insgesamt aber lässt sich sagen, dass Lärm schädlich ist. Und seit der verordneten Lockdown-Ruhe scheinen viele Menschen den Lärm nicht mehr tolerieren zu wollen.

Wie zeigt sich das?

Man beginnt gerade, dies zu erforschen. Wir sehen, dass Maßnahmen gefordert werden, die zu einer anderen Akustik in den Städten führen. Wie eine Temporeduzierung auf 30 km/h. Das gab es früher nicht in dieser Vehemenz. Statistiken zeigen, dass der Anteil der Fahrradfahrer enorm zugenommen hat. Außerdem werden immer mehr hybride, leisere Fahrzeuge gekauft. Natürlich hat das auch mit der Bekämpfung des Klimawandels zu tun. Aber in Befragungen geben Menschen zusätzlich an, dass sie sich der lauten Verkehrsbelastung nicht mehr länger aussetzen wollen.

Nach welchen Geräuschen sehnen sich Menschen heute?

Der Wunsch nach Natur-Sounds, wie das Singen von Vögeln und Wasserrauschen, ist sehr groß.

Welches Geräusch fasziniert Sie persönlich?

Das Wellenspiel des Meeres. Das liebe ich über alles. Ich kann stundenlang am Strand entlang laufen, nur um auf den Klang der Wellen zu hören.

Erschienen am 15. Dezember 2023.

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