Der Nachthimmel bringt uns zum Staunen. Doch er wandelt sich dramatisch, immer mehr Satelliten verschmutzen das Firmament. Wie lange können wir die Sterne noch sehen?

 

Text
Susanne Grautmann

Illustration
Erich Brechtbühl

 

 

 

Meine Freundinnen und ich sind 16 Jahre alt und schleppen statt der Badetücher unsere Schlafsäcke an die französische Atlantikküste. Die Vorfreude, eine Nacht am Strand zu verbringen, schwingt in unseren Schritten. Langsam versinkt die Sonne im Meer, die Nacht um uns herum wird schwarz und kühl. Wir kriechen in die Schlafsäcke und unsere Blicke verlieren sich im Himmel.

Über unseren Köpfen tanzen Abertausende Sterne, der Himmel funkelt. Noch nie haben wir so viele Lichtpunkte am Firmament gesehen wie in dieser Nacht. Die Milchstraße zieht sich wie ein breites, schimmerndes Band über den Himmel. Ich komme mir winzig vor, und spüre, wie mir ein Schauer über den Rücken läuft.

Der Sommerabend in Moliets-Plage ist etwa dreißig Jahre her. Das Phänomen, das uns in seinen Bann zog, fesselt Menschen aber schon wesentlich länger. »In jeder Kultur gab und gibt es Sternenbilder, in fast allen Kulturen haben sie rituelle Bedeutung«, sagt Susanne Hoffmann, Astronomin und Wissenschaftshistorikerin an der Uni Jena.

Davon zeugen beispielsweise Felszeichnungen wie in den Höhlen von Lascaux. Sie gehören zu den ältesten der Menschheitsgeschichte. Im Saal der Stiere, der größten und prächtigsten der Kammern, prangt ein Muster aus sechs Punkten an der Wand, es zeigt wohl den Sternhaufen der Plejaden.

»Eigentlich sollte man in einer klaren Nacht bei uns um die 3.000 Sterne erkennen können. In einer Stadt wie Berlin sind es heute aber gerade mal 30.« Susanne Hoffmann

Heute, etwa 20.000 Jahre nach Entstehung der Höhlengemälde, droht der Anblick des Sternenhimmels zu verschwinden. Und damit ein jahrtausendealtes Kulturgut, ein faszinierendes Mysterium – und eine Erfahrung, die sogar einem Teenager, nun ja,  Demut einflößen kann. Die Sterne besitzen eine eigene Magie. Und wir Menschen verhalten uns, als würden wir fragen: Kann das nicht einfach weg?

Dass wir immer weniger Sterne beobachten können, liegt einerseits an der Lichtverschmutzung. Seit der Erfindung der Glühbirne vor knapp 150 Jahren nimmt diese immer mehr zu. Je heller die Erde wird, desto schlechter kann man die Sterne sehen. »Eigentlich sollte man in einer klaren Nacht bei uns um die 3.000 Sterne erkennen können«, sagt Astronomin Hoffmann. »In einer Stadt wie Berlin sind es heute aber gerade mal 30.«

Andererseits hinterlässt der Mensch selbst immer neue Spuren am Firmament. In manchen Nächten sieht man beim Blick in den Himmel nicht nur den Großen Wagen oder Kassiopeia, sondern auch eine Formation leuchtender Punkte, die wie ein Zug über den Nachthimmel gleiten. Es sind die Starlink-Satelliten der US-Firma SpaceX des Tesla-Milliardärs Elon Musk.

Wenn die Regeln zur Nutzung des Weltraums nicht bald nachgeschärft werden, hängt der Himmel künftig womöglich voller Logos. Mercedes-Stern neben Großem Wagen.

Viele Firmen, darunter etwa Amazon oder Samsung, mischen im neuen Space Race mit. Weil die Produktion von Satelliten immer günstiger wird und die Nachfrage nach GPS-Daten und Breitband-Internet steigt, warnen Astronomen schon vor einer »Goldgräberstimmung« im All.

Im Sommer dieses Jahres haben russische Wissenschaftler eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass es sich finanziell lohnen kann, mithilfe von Satelliten Werbung in den Himmel zu projizieren. Wenn die Regeln zur Nutzung des Weltraums nicht bald nachgeschärft werden, hängt der Himmel künftig womöglich voller Logos. Mercedes-Stern neben Großem Wagen.

Expert:innen schätzen, dass bis 2030 eine halbe Million Satelliten in der nahen Erdumlaufbahn kreisen – der Nachthimmel verändert sich dadurch radikal. Denn die Satelliten hellen den Himmel insgesamt auf. Die amerikanische Astronomin Aparna Venkatesan warnte kürzlich im Süddeutsche Zeitung Magazin: »Es wird wie in einem Planetarium sein, in dem langsam das Licht angeht. Zuerst verschwinden die schwächsten Sterne, dann die Milchstraße.«

Wird je wieder eine Naturerfahrung möglich sein, die keine Spuren menschlicher Eingriffe aufweist?

Der Mensch hat die Beschaffenheit der Erde seit Beginn der Industrialisierung so tiefgreifend verändert, dass unsere Epoche als Anthropozän bezeichnet wird. Die Erde heizt sich auf, im Schnee der Antarktis steckt Mikroplastik, bald werden die letzten Gletscher in Deutschland geschmolzen sein – und jetzt greift der Mensch auch noch nach den Sternen. Wird je wieder eine Naturerfahrung möglich sein, die keine Spuren menschlicher Eingriffe aufweist?

Immanuel Kant schrieb 1788 in seiner Kritik der praktischen Vernunft: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« Aber kann ein Nachthimmel voller Weltraumgerät noch Ehrfurcht auslösen? Wenn der Himmel erst voller Satelliten hängt, kann man diesem Gewimmel noch nicht einmal mehr dann entkommen, wenn man an die Atlantikküste reist.

Die amerikanischen Psychologen Dacher Keltner und Jonathan Haidt haben Anfang der 2000er Jahre zwei Bedingungen identifiziert, die erfüllt sein müssen, damit Menschen Ehrfurcht empfinden: Sie befällt einen, wenn etwas unermesslich groß ist, und wenn unser Verstand es nicht komplett erfassen kann. Etwas, das Ehrfurcht hervorruft, lässt sich nicht in unsere gewohnten Wahrnehmungs- und Denkmuster einfügen.

Ehrfurchtserfahrungen lösen einen Prozess aus, den Psychologen als Akkommodation bezeichnen: Wir realisieren, dass unser Fassungsvermögen an Grenzen stößt. Etwa, wenn es die Distanz zwischen den Sternen und uns begreifen will: 30 Billiarden Kilometer – in Zahlen 30.000.000.000.000.000. Manche sind längst verloschen, wenn ihr Licht uns erreicht. Durch eine derartige Erfahrung kann sich die Perspektive auf die eigene Rolle verschieben: Wenn ich mich unter dem grenzenlosen Firmament auf einmal winzig klein fühle, relativiert sich auch das Gefühl meiner eigenen Bedeutung in der Welt.

Mit der Ehrfurchtserfahrung gingen Gefühle von Ergriffenheit, Geborgenheit und Zeitlosigkeit einher.

In Deutschland erforscht der Humanmediziner Arndt Büssing die Ehrfurcht. Den Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke interessiert vor allem: In welchen Situationen sind Menschen ehrfürchtig? Wie fühlt sich Ehrfurcht an, was löst sie in den Menschen aus? Mit Hilfe von Fragebögen, qualitativen Interviews und Freitext-Analysen hat Büssing die Ehrfurchtserfahrungen seiner Probanden ausgewertet. Dazu gehörten zum Beispiel Sonnenuntergänge oder der Blick in die Berge, Begegnungen mit beeindruckenden Menschen, die Geburt eines Kindes oder die Begleitung Sterbender.

Teilnehmende berichteten, sie hätten sich durch Ehrfurchts-Erfahrungen als Teil eines Ganzen und mit allem verbunden gefühlt, so Büssing. Eine »Ahnung von etwas Größerem« habe sie beschlichen. »Durch das Erlebnis wurde die Bedeutung ihres eigenen Ichs relativiert, die Aufmerksamkeit fokussierte sich weniger auf die Widrigkeiten ihres persönlichen Alltags«, sagt Büssing. Viele hätten diese Verschiebung als befreiend erlebt. Mit der Ehrfurchtserfahrung gingen Gefühle von Ergriffenheit, Geborgenheit und Zeitlosigkeit einher. Stress ließ nach.

Büssing stellte auch Effekte auf das von den Befragten berichtete Verhalten fest, er fand einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ehrfurcht und Mitgefühl sowie Hilfsbereitschaft. »Einige derjenigen, die Ehrfurcht in der Natur empfanden, haben beschrieben, dass ihnen in dem Moment aufgegangen sei, in welchem Ausmaß der Mensch die Umwelt zerstört.« Danach hätten sie beschlossen, sich darum zu kümmern.

Etwas weniger Fokus auf das Ich, dafür ein Mehr an Verbundenheit und Einsatzbereitschaft für die Welt um uns herum – es scheint, als könnten wir die Ehrfurcht, dieses große Gefühl, noch gut gebrauchen. Gerade jetzt. Klimakatastrophe, Artensterben und Energiekrise zeigen, dass wir dringend mehr in den Blick nehmen müssen, als unseren individuellen Komfort. Der Psychologe Haidt schreibt: »Ehrfurcht funktioniert wie ein Reset-Knopf. Sie öffnet Menschen für neue Möglichkeiten, Werte und Ausrichtungen im Leben.«

Und was vermag den Menschen mit so viel Ehrfurcht zu erfüllen wie der bestirnte Himmel?

Erschienen am 30. März 2023

Text
Susanne Grautmann

Illustration
Erich Brechtbühl