Jeder Reise geht eine gute Planung voraus. Doch was, wenn es die Vorbereitung auf etwas Unbekanntes ist? Einen Ort, wo noch kein Mensch war? Loredana Bessone ist Leiterin des Pangea Projekts und bereitet Astronaut:innen auf die ultimative Exploration vor: Die Reise zum Mars.
Die gigantischen Calderas ragen in den wolkenlosen Himmel empor, rot, braun, manche aschgrau. Pechschwarze Lavafelder ziehen sich kilometerlang durch die Landschaft. Kein Strauch ist zu sehen, nichts krabbelt, hoppelt oder schleicht herum. Die Einöde wirkt, als sei sie nicht von unserer Welt. Oder wie ein Ort, lange nach unserer Zeit.
Loredana Bessone steht auf dem Rand eines Vulkans im Timanfaya Nationalpark auf Lanzarote. Die Hände in die Hüften gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet, erinnert sie an die alten, großen Entdecker aus den Geschichtsbüchern. Wäre da nicht ihr Funkgerät, das ständig zischt und rauscht.
Eine Windböe wirbelt grau-roten Staub um ihre abgenutzten Sportschuhe. Bessone, eine kantige Norditalienerin mit sportlicher Statur, ist seit 2011 Leiterin des Pangea Projekts, das im Jahr 2021 zum vierten Mal stattfindet. Das mehrmonatige Ausbildungsprogramm soll auf außerirdische Explorationen vorbereiten. Die Teilnehmer:innen werden jeweils von der US-amerikanischen und der europäischen Weltraumbehörde ausgewählt. Dieses Mal sind es nur zwei: für die NASA ist die Astronautin Kate Rubins dabei, die ESA schickt den Astronauten Andreas Mogensen.
Kathleen Rubins könnte nicht nur die erste Frau auf dem Mond sein – sondern ist voraussichtlich auch Teil einer neuen Generation von Astronaut:innen, die NASA und ESA bereits 2024 dorthin schicken möchten. Sie sollen dort eine permanente Raumstation aufbauen, bevor sich Astronaut:innen dann auf die jahrelange Reise zum Mars begeben – die erste Marsmission mit Menschen an Bord soll laut NASA in den 2030er-Jahren starten. Auf dem Mars sollen nicht nur Gesteinsproben genommen und die Entstehungsgeschichte des Planeten erkundet werden, sondern auch neue Lebensformen – und ein möglicher, alternativer Lebensraum für uns Menschen. Das Training dafür findet direkt hier statt, auf der Erde, auf einem abgelegenen Vulkan der Insel Lanzarote.
Steine erzählen Geschichten über Klimaveränderung, das Ansteigen und Fallen der Meeresspiegel, von Katastrophen, vom Werden und Vergehen riesiger Gebirge.
Wintersonne fällt auf die trockene Erde und lässt die Gipfel der Hügel rot leuchten. Ein letztes Mal schickt Bessone die beiden Astronaut:innen in den Krater. Sie lernen in dieser Ausbildungsphase, Steine zu lesen. »Weil heute ihr letzter Tag ist, bekommen sie kaum Anweisungen oder Hinweise von unserem Team. Sie müssen das erste Mal komplett selbstständig arbeiten«, sagt Bessone. Ihre blond-grauen Locken fallen ihr ungekämmt auf die Schulter, eine schwarze Sonnenbrille bedeckt ihre Augen. Einige Meter vor ihr klettern Mogensen und Rubins an einer Kraterwand entlang, ausgerüstet mit gelben Helmen und wetterfesten Rucksäcken, mit Hammer, Meißel und Spektrometer. Sie klopfen, hämmern und pinseln schon seit den frühen Morgenstunden.
Steine seien wie offene Bücher, sagt Bessone: Sie erzählen Geschichten über Klimaveränderung, das Ansteigen und Fallen der Meeresspiegel, von Katastrophen, vom Werden und Vergehen riesiger Gebirge. Und auch vom Leben, das sich auf einem Planeten entwickelt. Wer Steine lesen kann, der könne in Vergangenheit und Zukunft blicken.
Lanzarote sei der optimale Ort, um Marsmissionen zu simulieren, sagt Bessone: »Die Beschaffenheit der Landschaften ist sehr ähnlich«. Beide, Lanzarote und die Marsoberfläche, wurden geformt von Ozeanen und Vulkanen. Wie auf dem Mars bildet Basalt – dünnflüssiges, an der Erdoberfläche erkaltetes Magma – das Grundgestein der Insel. Man findet es nur an wenigen, verlassenen Orten der Erde.
»In den Kratern und Höhlen von Lanzarote haben unsere Astronaut:innen die Möglichkeit, nach ursprünglichen und primitiven Proben des Erdmantels zu suchen«, sagt Bessone. Derartige Gesteinsproben würden Aufschluss geben über die Entstehungsgeschichte von Planeten, wie ähnlich sich Mars und Erde von der Oberfläche und im Kern wirklich sind – und ob Leben auf dem Mars möglich wäre.
Da richtet sich Rubins auf, in ihrer Hand ein schwarzer Stein. Sie hält ihn gegen die Sonne. Basalt. Ein Stück Geschichte, älter als die Menschheit selbst. Mittlerweile hat die Astronautin ein Auge dafür bekommen, welche Steine für die Forschung wichtig sind. Denn: »Nicht alle Basaltsteine sind gleich«, erklärt Francesco Sauro, Geologe und Mitglied in Bessones Forschungsteam, der heute ebenfalls die Exkursion betreut. Steine verraten, ob sie in der Vergangenheit mit Sauerstoff, Stickstoff oder Wasser in Kontakt gekommen sind. In ihrem Inneren können Biomarker von Mikroorganismen bis zu Milliarden Jahre später nachgewiesen werden, also Restbestandteile von deren Zellen. Auch wenn der Mars tot aussieht – unter der Oberfläche und in den Steinen könnte es von Lebensspuren nur so wimmeln.
Statt einer einst erdähnlichen Welt blieb eine staubige, vertrocknete Wüste.
Auf Satellitenaufnahmen vom Mars sind Oberflächenstrukturen zu erkennen, die ohne Zweifel das Werk millionenalter Flüssigkeiten sind: Mulden und verzweigte Flusstäler. Hinweise also auf ehemalige Regenschauer, versiegte Flüsse, Seen – und auf einen riesigen Ozean. Forscher:innen vermuten, dass der Mars auch in eine dichte Atmosphäre gehüllt war, ähnlich wie unsere Erde. Doch irgendwann machte der Planet eine dramatische Veränderung durch. Statt einer einst erdähnlichen Welt blieb eine staubige, vertrocknete Wüste.
Doch was führte zu dieser Mutation? Bis heute weiß das niemand genau; möglicherweise haben Sonnenwinde im Lauf der Zeit die an Kohlenstoffdioxid reiche Atmosphäre in den Weltraum gefegt. Die Astronaut:innen sollen helfen, solche Fragen zu beantworten – auch, um zu verstehen, wie sich gewaltige Klimaveränderungen insgesamt auswirken auf einen Planeten. Und sie sollen bei ihrer Marsexploration nach Biosignaturen suchen, also nach Anzeichen für vergangenes – oder noch vorhandenes – Leben.
Die Astronaut:innen, die in naher Zukunft den Mars nach Steinen absuchen, werden damit nicht die ersten sein: Bereits im Februar 2021 landete Perseverance nach einer 470 Millionen Kilometer langen Reise auf dem roten Planeten, ein Rover der NASA. Monatelang rollte er mit seinen sechs Rädern über braun-orangene Sanddünen und suchte mit seinem Kamerakopf und seinem Greifarm nach Lebensformen.
Roboter werden niemals menschliches Erkunden ersetzen können.
Im September 2021 schafft es Perseverance, Steine aus dem Jezero-Krater zu entnehmen. Das Ergebnis sorgt in der NASA-Zentrale für Begeisterung und Zuversicht: Versteinerter Schlamm. Der Jezero-Krater: heute ein staubiger Fleck. Doch ehemals ein See. Ein Indiz für Wasser.
Warum, kann man sich da fragen, braucht es zur Weltraumexploration dann noch Menschen? Roboter müssen schließlich nicht essen, nicht schlafen und bekommen kein Heimweh. Doch Bessone und viele andere Forscher:innen sind sich einig: Roboter werden niemals menschliches Erkunden ersetzen können. »Wofür ein Roboter Monate braucht, schafft ein Mensch in ein paar Tagen«, sagt Bessone. Es braucht menschliche Fähigkeiten, um komplexe wissenschaftliche Instrumente zu installieren, um Feldforschung zu betreiben und um Marsrover zu reparieren. Es braucht Flexibilität, Kreativität und vor allem: Urteilsvermögen. Besonders, wenn unvorhergesehene Probleme auftreten – ein geplatzter Sauerstofftank, fehlende Instrumente, ein Sandsturm. Auf diese Herausforderungen bereitet Bessone ihre Astronaut:innen vor.
Auch an Orten, die größten psychologischen Stress verursachen: Enge Tropfsteinhöhlen in kompletter Dunkelheit, tobende Meeresströmungen, bebende Vulkane. Loredana Bessone möchte die Astronaut:innen bis an ihre Grenzen bringen. Sie möchte sie bestmöglich auf das Weltall vorbereiten.
Bessone erprobt fast alle Tests und Trainingseinheiten selbst, bevor sie die Astronaut:innen darauf loslässt: Mit einem 100 Kilogramm schweren Raumanzug in einem Pool schwimmen etwa, Parabelflüge durch die Stratosphäre, um Schwerelosigkeit zu erleben, in einer engen Metallkapsel unter der Meeresoberfläche ausharren. »Unsere Astronaut:innen sind die technisch fähigsten Menschen, die es überhaupt gibt«, sagt Bessone. In ihrer Astronautenausbildung würden sie lernen, wissenschaftliche Experimente im All durchzuführen, Wunden zu nähen, bei unter 20 Grad in der Wildnis zu überleben und sogar Zahnfüllungen zu setzen. Im Weltraum aber sind sie auf sich allein gestellt. Pangea bringt ihnen bei, auf ihre Umwelt zu achten und selbstständig zu arbeiten. Wenn die ersten Astronauten zum Mars fliegen, wird es Bessones Meinung nach auch nicht lange dauern, bis diese dort tiefe Krater und dunkle Höhlen bei Minus 150 Grad erforschen.
Bessones Faszination für das Unbekannte kristallisierte sich früh heraus. Während andere Kinder mit Puppen und Autos spielten, interessierte sie sich für Astrophysik: Die Geburt eines Sterns, fremde Galaxien, schwarze Löcher. Nach ihrem Schulabschluss konnte sie es sich nicht leisten, an einer renommierten Universität Astrophysik zu studieren, also belegte sie Informatik in Turin, eine Stunde Autofahrt entfernt von ihrer Heimatstadt. Dort machte sie auch ihren Master, während sie bei CERN arbeitete, dem europäischen Nuklearforschungszentrum in Genf. 1990 begann sie als Computeringenieurin bei der ESA. 2002 übernahm sie das Weltraumtraining für Astronaut:innen.
»Wir Menschen haben viele Dinge vollbracht, von denen wir dachten, dass wir sie nie schaffen würden«
Loredana Bessone
Bessone steckt ihre gesamte Energie in etwas, das sie nie selbst erfahren wird. »Es gab eine Zeit, da wollte ich ins All fliegen«, sagt sie. 1988 bewarb sie sich bei der ESA dafür – und wurde aussortiert. »Ein Herzproblem. Nichts Schlimmes, 80 Prozent der Menschheit haben das«. Sie gehörte nicht zu den Besten. Rückblickend ist sie froh darüber: »Ich hätte die meiste Zeit mit Training verbracht und kaum Zeit gehabt, Projekte zu kreieren. Das, worin ich wirklich gut bin.«
Die Zeit in der Ausbildung ist kostbar. Deshalb möchte Bessone ihre Stunden nicht mit Menschen verschwenden, die weniger wollen als sie selbst. »Ich will die Besten. Wer mit mir arbeitet, weiß, worauf er sich einlässt: Ich bin eine Sklaventreiberin«. Wer einknickt, dem Druck nicht standhält oder zu wenig Disziplin mit sich bringt, müsse gehen. Letztendlich gehe es um Selbstschutz. Denn Bessone weiß, wie anspruchsvoll der Job als Astronaut:in ist.
»Wir Menschen haben viele Dinge vollbracht, von denen wir dachten, dass wir sie nie schaffen würden«, sagt Bessone. Neugierde und Erfahrung erweitern die Vorstellungskraft – und sichern uns vielleicht sogar langfristig das Überleben. Doch wo sind die Grenzen? Wann ist weit zu weit?
Wissenschaftler:innen prognostizieren ein Phänomen bei Weltraumreisenden, das sie als »earth out of view« bezeichnen. Wer monatelang die Erde, das eigene Zuhause, nicht mehr sehen könne, der werde auf Dauer seelisch krank. Eine Reise zum Mars ist eine lange Fahrt ins Unbekannte. Eingesperrt in eine kleine Kapsel, ohne Kontakt zu Angehörigen, ewig herumschwebend im All – etwas, das ein Mensch, egal mit wie viel Training, vielleicht gar nicht aushalten kann. Und trotzdem will es die Forschung wagen. Ein lebensgefährliches Vorhaben.
Doch wo sind die Grenzen?
Wann ist weit zu weit?
Und ein teures: Die Kosten einer bemannten Marsmission werden ungefähr auf eine Billion Euro geschätzt. Für 2020 betrug das geschätzte Budget der ESA 6,7 Milliarden Euro. Die Steuergelder, die EU-Bürger:innen jährlich pro Kopf für die Raumfahrt zahlen, summiert sich ungefähr auf den Preis einer Eintrittskarte fürs Kino – in den USA ist es allein für die zivile Raumfahrt fast viermal so viel.
Was die NASA und ESA – und andere Staaten wie China, Russland, Europa und sogar Indien, die im Space-Race mitmischen – nicht mehr leisten können, wollen private Firmen wie SpaceX oder Blue Origin schaffen: ein Mondaufzug, Raumstationen als Hotels, Serverparks auf dem Mond. Die Großen denken im exorbitanten Ausmaß und sehen auch den Mars als mögliches Business. Touristische Flüge ins All werden seit Jahren angeboten und haben 2021 einen regelrechten Boom erfahren. Weltraumerforschung wird immer mehr auch zu Weltraumerschließung.
»Je mehr wir den Weltraum erforschen, desto mehr erfahren wir, woher wir kommen.«
Loredana Bessone
Bessone sieht die meisten Entwicklungen positiv: »Private Unternehmen können viel schneller unabhängige Entscheidungen treffen und in sehr kurzer Zeit große Fortschritte machen. Davon profitieren, bei einer vernünftigen Zusammenarbeit, auch Weltraumagenturen wie NASA und ESA«.
Nicht mal ein Jahrzehnt, bis die erste bemannte Marsmission starten soll. Was bei all der Planung und Vorbereitung oft vergessen wird: Unsere blau-grüne Erdkugel hat, wenn der Mensch so weitermacht wie bisher, ein Verfallsdatum. Ist eine Reise zum roten Planeten also nicht nur der Beweis dafür, was der Mensch mit Neugier, Intelligenz und Beharrlichkeit schaffen kann – sondern auch eine Flucht vor der Aufgabe, unsere Erde zu bewahren?
Nein, sagt Bessone. »Bei jeder Technologie kommt es darauf an, wie sie eingesetzt wird. Die Idee hinter der Marserkundung sollte nicht sein: Kommt, lasst uns die Erde verlassen, damit wir sie zerstören können.« Es gehe nicht um Eroberung oder Kolonisierung. »Je mehr wir den Weltraum erforschen, desto mehr erfahren wir, woher wir kommen.« Der Mensch lerne dadurch, sich selbst zu verstehen, seine Existenz und das Leben zu schätzen. Und vielleicht auch zu erkennen, wie einzigartig und unentbehrlich unser Heimatplanet ist.