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Woraus besteht die Welt?

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Felicitas Mokler

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Ian Andrews

 

Strahlung aus dem All

Die ganze Zeit landen hochenergetische Teilchen auf der Erde: kosmische Strahlung. Woher genau sie kommt, ist ein Rätsel. Wissenschaftler:innen versuchen, ihm an ungewöhnlichen Orten auf den Grund zu gehen.

In jedem Augenblick erreicht kosmische Strahlung die Erde: Darunter verstehen Astrophysiker:innen zum einen hochenergetische Teilchen, zum anderen Gammastrahlung – die energiereichste elektromagnetische Strahlung, die wir kennen. Dank der Erdatmosphäre sind wir jedoch am Boden davor gut geschützt.

Die kosmische Teilchenstrahlung besteht vorwiegend aus Protonen und Elektronen, teilweise aber auch aus geladenen Atomkernen. Ein Großteil dieser Teilchen stammt von der Sonne oder aus dem Zentrum unserer Galaxis. Hinzu kommen energiereichere Teilchen von anderen Objekten aus den Tiefen des Kosmos. Woher genau die energiereichsten Teilchen kommen, ist allerdings noch nicht hinreichend geklärt.

Trifft diese energiereiche Teilchenstrahlung auf die Erdatmosphäre, löst sie eine Kettenreaktion aus: Die geladenen Teilchen aus dem All kicken Elektronen aus den Hüllen der Atome in der Atmosphäre – die Strahlung ionisiert die Atome. Die Energien dieser Elektronen sind so hoch, dass auch sie wiederum Elektronen aus den Atomhüllen kicken. In diesem Prozess entstehen außerdem neue Teilchen, die ihrerseits die Atmosphäre weiter ionisieren. Ähnliches geschieht, wenn Gammastrahlung auf die Erdatmosphäre trifft. In diesen Teilchenkaskaden entstehen auch Lichtblitze, sogenanntes Tscherenkow-Licht.

Diese Lichtblitze lassen sich mit Detektoren vom Erdboden aus registrieren, etwa mit den MAGIC-Teleskopen auf La Palma, den H.E.S.S.-Teleskopen in Namibia und dem Auger-Observatorium in Argentinien.

Foto: Genevieve Martin/ORNL
Wenn ein Neutrino mit einem Wasserstoffatom interagiert, entstehen neue Elementarteilchen: Elektronen oder Myonen. Diese breiten sich durch Wasser und Eis schneller aus als Licht und erzeugen dabei Lichtblitze, das sogenannte Tscherenkow-Licht. Hier sieht man die blaue Tscherenkow-Strahlung in einem Forschungsreaktor in den USA. Foto: Genevieve Martin/ORNL

Allerdings lassen sich die Spuren der kosmischen Teilchen kaum zu ihrem Ursprungsorten im All zurückverfolgen. Da die Teilchen geladen sind, werden sie auf dem Weg zu uns mehrfach abgelenkt, etwa durch kosmische Magnetfelder oder Materie. Das macht die Suche nach der Quelle der Teilchen so schwierig. Bei der Spurensuchen helfen Astrophysiker:innen ausgerechnet die Teilchen weiter, die kaum mit anderen Teilchen interagieren und sich deshalb nur schwer nachweisen lassen: Neutrinos.

Die Masse von Neutrinos ist so gering, dass sie sich nur schwer messen lässt. Nach aktuellstem Stand beträgt sie höchstens ein Millionstel der Masse eines Elektrons. Außerdem tragen Neutrinos keine elektrische Ladung. Deshalb wechselwirken sie nur extrem selten mit Materie und bewegen sich quasi unbehelligt durch das Universum.

Mit diesen Eigenschaften haben Neutrinos gegenüber den geladenen Teilchen der kosmischen Strahlung einen wesentlichen Vorteil: Sie lassen sich nicht durch Magnetfelder im All ablenken, und so erreichen sie uns schnurstracks von ihrem Entstehungsort aus. Das macht sie für die Spurensuche nach den Quellen extrem energiereicher kosmischer Teilchenstrahlung so attraktiv.

Denn auch wenn sie so schwer zu fassen sind: Gelegentlich kommt es dennoch vor, dass Neutrinos mit Materie reagieren. Mit Detektoren eingelassen in das Eis der Antarktis oder in den Tiefen des Mittelmeers suchen Astrophysiker:innen nach den Spuren von Kollisionen zwischen Neutrinos und Materie. Wenn ein Neutrino etwa mit einem Wasserstoffatom wechselwirkt, entstehen neue Elementarteilchen, entweder ein Elektron oder dessen schwereres Gegenstück, ein Myon. Diese Elektronen oder Myonen bewegen sich durch Wasser oder Eis schneller als sich Licht in diesen Medien ausbreitet. Die schnellen Teilchen erzeugen Lichtblitze.

Am Experiment IceCube am Südpol suchen Physiker:innen seit 2010 nach solchen Neutrino-Reaktionen. Aus Muster und Intensität der von den Teilchen erzeugten Lichtspur können sie auf die Energie und Herkunftsrichtung der Neutrinos schließen.

Am Südpol steht das IceCube-Neutrino-Observatorium. Hier forschen rund 450 Wissenschaftler:innen an großen Fragen der Physik, unter anderem beobachten sie die kosmische Strahlung. Foto: Martin Wolf, IceCube/NSF

Das IceCube-Experiment umfasst ein Volumen von einem Kubikkilometer Eis. Darin wurden Löcher gebohrt und 86 Kabel eingelassen. An diesen Kabeln sind Sensoren befestigt, die die Spuren von Neutrinos registrieren können, wenn sie mit Materie wechselwirken. Um ein Loch zu bohren, musste jedoch erst ein Bohrturm errichtet werden. Foto: Jeff Cherwinka, IceCube/NSF

 

Nach jeder Bohrung wurde der Turm verschoben. Damit ein kontinuierlicher Ablauf garantiert war, verfügte die Station über zwei Türme und die dazugehörigen Geräte. Foto: IceCube/NSF

Im Durchschnitt brauchte es 48 Stunden, um ein Loch für ein Kabel zu bohren. Bei der Bohrung kam unter anderem heißes Wasser zum Einsatz. Foto: Forest Banks, IceCube/NSF

An den Kabeln wurden Sensoren befestigt, sogenannte digitale optische Module. Sie enthalten extrem empfindliche Lichtdetektoren sowie Minicomputer, die Daten an die Oberfläche weiterleiten. Foto: Jim Haugen, IceCube/NSF

Hier wurde ein Sensor in das Eis abgesenkt. Insgesamt befinden sich 5.160 dieser Sensoren im Eis der Antarktis. Foto: Mark Krasberg, IceCube/NSF

Kabel verbinden die Sensoren im Eis mit den Computern des IceCube-Labors und übertragen die Daten aus der Tiefe. Foto: Freija Descamps, IceCube/NSF

Die meisten Neutrinos, deren Spuren die irdischen Detektoren einfangen, sind ein Nebenprodukt der kosmischen Strahlung. Sie entstehen in den Teilchenschauern, wenn kosmische Strahlung auf die Atome der Erdatmosphäre trifft. Ein weiterer großer Anteil stammt von der Kernfusion der Sonne oder anderer Sterne. Auch bei Supernova-Explosionen, also Explosionen von massereichen Sternen am Ende ihres Lebenszyklus, treten Neutrinos auf.

Die energiereichsten Neutrinos hingegen haben einen anderen Ursprung. Die Suche danach führt vermutlich zu den gewaltigsten Teilchenbeschleunigern, die es im Universum gibt. Die extremen Energien dieser Neutrinos legen nahe, dass sie von Materiejets spezieller aktiver Galaxien stammen. Das Schwarze Loch im Zentrum einer solchen Galaxie zieht mit seiner Schwerkraft Materie in seinen Bann. Bevor diese Materie aber vollends in das Schwarze Loch hineinstürzt, umkreist sie es und heizt sich dabei auf. So bringt die Materie die Umgebung des Schwarzen Lochs zum Leuchten. Ein Teil der Materie verschwindet im Schwarzen Loch. Doch ein anderer Teil wird durch das zentrale Magnetfeld der Galaxie vom Schwarzen Loch weggelenkt und als Materiejet weit in den Weltraum hinausgeschleudert.

Solche Materiejets sind die gewaltigsten Teilchenbeschleuniger im All, die wir kennen. Geladene Teilchen werden darin auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Diese Jets senden auch elektromagnetische Strahlung aus: Sie leuchten im optischen Bereich des elektromagnetischen Spektrums, aber auch im Radio-, im Röntgen- und im Gammawellenbereich. Außerdem entstehen in diesen Jets neue Elementarteilchen, darunter auch extrem energiereiche Neutrinos.

Einige solcher Hochenergie-Neutrinos hat das Experiment IceCube mittlerweile registriert. Doch stammen sie wirklich aus dem Kern einer aktiven Galaxie? Im Jahr 2017 konnten Wissenschaftler:innen erstmals einen direkten Bezug zu einer solchen Quelle herstellen: Am IceCube-Experiment war ihnen ein Hochenergieneutrino mit einer Energie von 290 Teraelektronvolt ins Netz gegangen. Es erhielt den Namen IceCube-170922A – dieser Code enthält schlicht die Bezeichnung des Experiments und das Datum, an dem das Teilchen registriert wurde.

Anhand der Spur des Lichtblitzes konnten die Forscher:innen die Richtung am Himmel ausmachen, aus der es gekommen sein musste. Sie richteten weitere Teleskope, darunter den Gammasatelliten Fermi und die MAGIC-Teleskope auf La Palma auf die betreffende Stelle am Himmel. Dort leuchtete eine ferne aktive Galaxie im Gammalicht besonders hell auf, wie es für Strahlungsausbrüche mit Materiejets bei solchen Objekten typisch ist. Das energiereiche IceCube-Neutrino entstammte offensichtlich dem Ausbruch einer aktiven Galaxie mit der Bezeichnung TXS 0506+056. Die Zahlen in diesem Namenscode stehen für die Himmelskoordinaten.

Mittlerweile konnten Wissenschaftler:innen für weitere, mit IceCube registrierte Hochenergie-Neutrinos aktive Galaxien als Quellen zuordnen.

Als Ergänzung zu IceCube entsteht derzeit ein neues Experiment auf der Nordhalbkugel: Es trägt den Namen KM3NeT, kurz für Kubikkilometer-Neutrino-Teleskop. Der dazugehörige Detektor vor der Küste Siziliens hat im Jahr 2023 das bisher energiereichste Neutrino gemessen. Es trägt den Namen KM3-230213A und war zirka 750-mal energiereicher als IceCube-170922A.

Auch wenn sich seine Ursprungsquelle bisher nicht identifizieren ließ: Es ist der erste Beweis dafür, dass solche hochenergetischen Neutrinos überhaupt entstehen können. Und auch dafür, dass dies nur im All möglich ist: Die Energie von KM3-230213A ist 16.000-mal größer als die stärkste Energie, mit der Teilchenkollisionen am Large Hadron Collider des CERN, dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Erde, erzeugt werden können.

Erschienen am 3. Juli 2025

Quellennachweise

  • KATRIN Collaboration† et al. Direct neutrino-mass measurement based on 259 days of KATRIN data. Science 2025, 388:180-185. DOI:1126/science.adq9592.
  • The IceCube Collaboration et al. Multimessenger observations of a flaring blazar coincident with high-energy neutrino IceCube-170922A. Science 2018, DOI:10.1126/science.aat1378.
  • Sara Buson et al. Beginning a Journey Across the Universe: The Discovery of Extragalactic Neutrino Factories. ApJL 2022, 933. DOI:3847/2041-8213/ac7d5b.

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