
Sie haben das Unmögliche gesehen
Vor knapp zwei Jahren entdeckten Teilchenphysiker:innen ein Objekt, das es eigentlich nicht geben dürfte. Was verrät es uns über die Welt?
Es ist der 4. Juli 2012, als ein winziges Objekt die Weltbühne betritt. Nicht nur unter Naturwissenschaftler:innen wird es bejubelt und gefeiert, Journalist:innen bezeichnen es als »Gottesteilchen« und erzählen von einer »neuen Ära der Elementarteilchenforschung«. Das Higgs-Boson ist das zuletzt gefundene Elementarteilchen, einer der kleinsten Bausteine der Welt. Es liefert die bisher neuesten Erkenntnisse auf die Frage: Woraus besteht die Welt?
Dabei ist ein anderes Teilchen mindestens genauso spannend, findet der Physiker Christian Schwanenberger. Seit dem Beginn seiner Karriere widmet er sich vor allem einem – wie er sagt – »fast noch krasseren« Elementarteilchen, dem in der Öffentlichkeit weit weniger Beachtung geschenkt wird, obwohl sein Name eigentlich das Gegenteil vermuten ließe: dem Top Quark.
»Das Top Quark sieht so aus, als wäre es ein ganz normales Teilchen. Es ist winzig, hat keine Ausdehnung, und ist doch schwerer als ein Goldatom«, sagt Schwanenberger. Ein Goldatom besteht immerhin aus 79 Protonen. Das Top Quark hingegen besteht aus keinen weiteren Teilchen. Aber es ist das schwerste Elementarteilchen. »Und da fragt man sich halt: Ist es doch nicht so normal?«, sagt Schwanenberger.
Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler:innen erforscht er das Top Quark ganz genau und machte dabei eine Entdeckung, die in die Lehrbücher eingehen könnte. Denn eigentlich sollte das, was die Forscher:innen beobachtet haben, unmöglich sein. Dieser schwerste Baustein der Welt, der eigentlich innerhalb von Sekundenbruchteilen zerfällt, könnte eine Bindung eingehen – und ein neues Objekt würde entstehen: Toponium. Was also bedeutet diese Entdeckung? Und geben die Forschungsergebnisse weitere Antworten auf die Frage, woraus die Welt besteht?
Um das zu verstehen, braucht es ein paar Schritte zurück.
Die Bausteine der Welt
Die Suche nach etwas, aus dem alles andere entstanden ist, begann wohl im alten Griechenland. Dort suchten die ersten Philosophen nach der Ursubstanz der Welt. Thales von Milet zum Beispiel glaubte, der Ursprung von allem sei das Wasser, Anaximander vermutete, es sei das Unbegrenzte. Und dem Philosophen Leukipp und seinem Schüler Demokrit zufolge müsste alle Materie aus kleinsten unteilbaren Teilchen bestehen, den Atomen. Mittlerweile ist klar: Atome lassen sich teilen und bestehen aus noch viel kleineren Teilchen, den Elementarteilchen.
Obwohl es im Universum riesige Mengen von Neutrinos gibt und Milliarden von ihnen jede Sekunde unsere Körper durchqueren, leben sie fast unbemerkt ein Schattendasein.
Woraus die Welt besteht, könnte man sich vorstellen wie eine Großfamilie, deren Mitglieder lustige Namen tragen: Da ist die Familie der Quarks mit den Pärchen up und down, charm und strange, top und bottom. Die Familie der Leptonen mit Elektron, dem schnelllebigen Myon, das eine Lebensdauer von zwei Millionstel Sekunden hat, dem noch instabileren Tauon. Und dann gehören in diese Familie noch ihre geisterhaften Geschwisterchen, die sich so gut wie nie blicken lassen: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Neutrinos sind nicht elektrisch geladen und interagieren nur dann mit anderen Teilchen, wenn sie auf einen Atomkern treffen. Obwohl es im Universum riesige Mengen von Neutrinos gibt und Milliarden von ihnen jede Sekunde unsere Körper durchqueren, leben sie fast unbemerkt ein Schattendasein – es sei denn sie treffen auf sehr große Detektoren.´
Zwischen den Teilchen wirken fundamentale Kräfte: die elektromagnetische Wechselwirkung, die schwache Wechselwirkung und die starke Wechselwirkung. Diese Kräfte werden durch andere Teilchen vermittelt: durch die Familie der Eichbosonen. Da sind etwa das Photon, also das Lichtteilchen, das sich masselos und mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Und das Gluon, das – wie der Name »glue« schon sagt – die Quarks zusammenhält.
Ein wenig abseits, weil es nirgends so richtig dazugehört, aber überall mit reinspielt, steht noch: das Higgs-Boson. Es gehört zur Gruppe der Skalarbosonen – wobei Gruppe das falsche Wort ist, denn noch steht es eben ganz allein da.
Die Großfamilie der Elementarteilchen ist festgehalten im Standardmodell der Teilchenphysik. Diese Theorie wurde in den 1970er-Jahren entwickelt und soll erklären, wie die Elementarteilchen mit den fundamentalen Kräften (also der elektromagnetischen, der starken und der schwachen Wechselwirkung) zusammenhängen. Man kann es sich vorstellen wie eine Ahnengalerie, nur dass keine Bilder der Familienmitglieder dort zu sehen sind, sondern Abkürzungen: u für up, d für down, γ für Photon, τ für Tauon. Und es stehen Zahlen dabei, die ihre Eigenschaften beschreiben: Masse, Ladung und Spin, also der Eigendrehimpuls.

Doch das ist noch nicht alles: Zu jedem Quark und jedem Lepton gibt es auch ein passendes Antiteilchen, das fast genau dieselben Eigenschaften hat – nur eben die gegensätzliche Ladung. So ist etwa das Antiteilchen des Elektrons ein Positron. Und das Antiteilchen des Top Quarks ist das Antitop-Quark. Kommen Teilchen und Antiteilchen zusammen, vernichten sie sich gegenseitig und es entsteht Energie.
Die Welt um uns herum setzt sich vor allem aus den leichtesten Quarks zusammen: Up und Down. Und natürlich aus Elektronen. Wenn Gluonen, die Klebeteilchen, Up- und Down-Quarks zusammenhalten, entstehen positiv geladene Protonen und ungeladene Neutronen. Wenn sie Protonen und Neutronen zusammenhalten, bilden sich Atomkerne. Und wenn um diese Atomkerne negativ geladene Elektronen kreisen, dann haben wir ein Atom.
Mithilfe des größten Teilchenbeschleunigers kann simuliert werden, was in den unvorstellbaren 10-15 Sekunden nach dem Urknall passiert ist.
»Das Standardmodell fasst eigentlich das ganze Wissen mehr oder weniger zusammen, das wir von dieser mikroskopisch kleinen Welt der Elementarteilchen haben«, sagt der Teilchenphysiker Christian Schwanenberger. Es kann sogar erklären, wie wir entstanden sind: Mithilfe des größten Teilchenbeschleunigers kann simuliert werden, was in den unvorstellbaren 10-15 Sekunden nach dem Urknall passiert ist. Ein Milliardstel einer Millionstel Sekunde nach dem Urknall schwammen Quarks und Gluonen frei in einer Ursuppe umher. Schwanenberger erklärt: »Als sich das Universum weiter ausgedehnt und abgekühlt hatte, haben sich jeweils drei Quarks zu Protonen und Neutronen zusammengefunden. Und die Protonen und Neutronen zu Kernen, und die Kerne haben dann irgendwann die Elektronen eingefangen, um Atome zu bilden. Und dann ging das seinen Lauf: Die Atome haben sich dann zu Molekülen zusammengefügt, und dann gab es Galaxien, Planetensysteme, Sonnensysteme, letztendlich uns.«
Doch es gibt einige Fragen, die das Standardmodell nicht beantworten kann. Zum Beispiel:
- Wie hängen die Teilchen mit der vierten fundamentalen Kraft zusammen, der Gravitation? Gibt es ein weiteres Teilchen, ein Graviton, das diese Kraft vermittelt?
- Wenn es im Universum genauso viel Materie wie Antimaterie gäbe, dann würden wir permanent zerstrahlen und wieder neu erzeugt werden. Wurde also signifikant mehr Materie als Antimaterie produziert – und warum sollte das so sein?
- Und die wohl prominenteste: Nur fünf Prozent der Materie im Universum besteht aus den Teilchen des Standardmodells. 27 Prozent sind Dunkle Materie und 68 Prozent Dunkle Energie. Besteht auch Dunkle Materie aus Teilchen? Und was ist Dunkle Materie überhaupt?
Um diese Fragen zu beantworten und die Welt noch besser verstehen zu können, suchen Physiker:innen nach unbekannten entfernten Verwandten der Elementarteilchen-Familie. Auch Christian Schwanenberger.
Wenn Schwanenberger über seine Forschung spricht, dann klingt er wie ein begeisterter Professor, dessen größtes Ziel es ist, seinen Zuhörer:innen verständlich und klar zu vermitteln, welch ein Privileg es ist, an den Grundbausteinen der Welt forschen zu dürfen, und wie schön mathematische Gleichungen sind. Und er ist tatsächlich Professor, an der Uni Hamburg nämlich. Doch seine Jobbeschreibung beinhaltet noch viel mehr. Sie liest sich wie ein Code, der erstmal entschlüsselt werden will: leitender Wissenschaftler bei DESY, Mitglied beim CMS-Experiment am LHC am CERN in Genf und am D0-Experiment am Tevatron-Beschleuniger in Chicago.
Hier die Übersetzung:
- DESY ist das Deutsche Elektronen-Synchrotron in Hamburg, eines der größten deutschen Forschungszentren.
Briefmarke der Deutschen Post 25 Jahre DESY. Bild: Deutsche Bundespost - LHC bedeutet Large Hadron Collider – das ist der größte und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der je gebaut wurde. Er besteht aus einem Ring, in dem Protonen beschleunigt und aufeinander geschossen werden. An vier Orten im Ring prallen die Protonen zusammen – dort stehen vier Detektoren. Einer davon ist CMS. Die Abkürzung steht für Compact Muon Solenoid und beschreibt einen Detektor, der um einen riesigen Magneten gebaut ist.
- CERN ist die Europäische Organisation für Kernforschung mit Sitz in Genf.
- Tevatron war der größte Teilchenbeschleuniger, bis der LHC gebaut wurde, und D0 (oft geschrieben DØ, um zu verdeutlichen, dass er „DNull“ heißt) ist ein Detektor am Tevatron.
Zudem könnte in Schwanenbergers Jobbeschreibung auch stehen: Detektiv. Denn was er macht, wenn er an Top Quarks forscht, ist vor allem: Spurensuche.
Wenn Protonen kollidieren
Weil sie schwer sind, zerfallen Teilchen wie das Higgs-Boson oder Objekte wie Toponium zu schnell, als dass man sie einfach so in der Umwelt entdecken könnte. Physiker:innen müssen also erst produzieren, was sie entdecken wollen – dazu nutzen sie die größten Teilchenbeschleuniger der Welt.
Der Large Hadron Collider des CERN liegt nördlich von Genf, im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz. Hier, ungefähr hundert Meter unterhalb der Erdoberfläche, fliegen Protonen durch einen 27 Kilometer langen Ring. Der Large Hadron Collider ist nicht umsonst so »large«: Größere, längere Beschleuniger können höhere Energien erzeugen und dadurch lassen sich schwerere Teilchen erzeugen und entdecken. Das hat mit Einstein zu tun, erklärt Christian Schwanenberger: E=mc2. Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. »Masse ist eine Form von Energie«, sagt Christian Schwanenberger. Das bedeutet, dass Masse sich in Energie umwandeln kann und umgekehrt: Höhere Energien können also höhere Massen erzeugen.

Im LHC beschleunigen elektromagnetische Felder die Teilchen, bis sie fast mit Lichtgeschwindigkeit in der Mitte des Detektors aufeinandertreffen. Wenn sie kollidieren, zerfallen sie in winzige Bruchstücke. In sehr viele winzige Bruchstücke, denn am LHC werden so viele Protonen aufeinander geschossen, dass sie pro Sekunde ungefähr eine Milliarde Teilchenkollisionen erzeugen. In diesem Kollisionschaos versuchen die Physiker:innen unter anderem, neue Teilchen zu finden.
Doch es gibt eine Schwierigkeit: Wenn in einer Kollision ein Higgs-Boson oder ein Top Quark entstanden ist, dann kann der Detektor es nicht direkt sehen – eben, weil es zu schnell in andere Teilchen zerfällt. Darum schauen sich die Physiker:innen in den Daten, die die Detektoren aufgezeichnet haben, die Zerfallsprodukte und deren Eigenschaften an, also das, was übrig bleibt, wenn alle schweren Teilchen in leichtere zerfallen sind – ihre Ladung etwa, ihre Masse, ihren Spin und ihre Geschwindigkeit. Und sie versuchen daraus Rückschlüsse zu ziehen, welche Teilchen sich wie umgewandelt haben.
2012, als das Higgs-Boson entdeckt wurde, maßen die Wissenschaftler:innen die Eigenschaften aller Zerfallsprodukte und berechneten daraus die Gesamtenergie, die sogenannte »invariante Masse«. Dann stellten sie die Daten in einem Koordinatensystem dar: Auf der einen Achse liest man die Anzahl der Teilchenkollisionen ab, auf der anderen die invariante Masse von Photonenpaaren, in die das Higgs-Teilchen zerfallen ist. Aus den eingetragenen Punkten ergibt sich eine Kurve, die leicht gebogen von oben links nach unten rechts führt. Und fast in der Mitte der Kurve – bei einer Masse von 125 Gigaelektronenvolt – ist eine kleine Wölbung zu erkennen, eine Abweichung. Der Bump, der in die Geschichte eingeht.

Genau danach suchen Physiker:innen, sagt Christian Schwanenberger: »Wir vergleichen die Daten mit der Theorie. Und, wenn wir eine Abweichung sehen, dann werden wir hellhörig: Entweder habe ich was an der Analyse nicht verstanden oder die Theorie ist falsch oder zumindest unvollständig.«
Doch wenn Physiker:innen die Daten aus dem Large Hadron Collider aufzeichnen, sieht man darin immer wieder kleinere Unebenheiten – kleinere Bumps, die etwa statistische Schwankungen oder Hintergrundrauschen sein können. Wie also können Physiker:innen sich sicher sein, dass es sich um ein neues Phänomen handelt?
Dazu braucht es genügend Daten, in denen sich genau diese Anomalie zeigt.
Um das zu verstehen, so steht es auf der Webseite des CERN, können wir uns ein Würfelspiel vorstellen: Wenn wir einmal würfeln und der Würfel landet auf der Zwei, dann kann dieses Ergebnis bloßer Zufall sein. Doch je öfter wir würfeln und immer wieder dieselbe Zahl erhalten, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Würfel gewichtet ist. »Nach etwa achtmaligem Erreichen der gleichen Zahl kann man sich ziemlich sicher sein, dass sie gewichtet ist«, schreibt das CERN.
Was die Teilchenphysik angeht, gibt es eine andere Schwelle, Physiker:innen sprechen von fünf Sigma. Sigma ist ein Maß für die Abweichung der Datenpunkte vom Mittelwert. Bei fünf Sigma ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich nicht um eine statistische Schwankung handelt, sondern um ein neues Phänomen.

Ein neues Higgs-Boson?
Seit der Entdeckung des Higgs-Bosons vermuten Physiker:innen, dass es noch mehr Higgs-Bosonen geben könnte – schwerere, die im Standardmodell der Teilchenphysik noch fehlen. Auch Alexander Grohsjean, Wissenschaftler bei der Uni Hamburg, Afiq Anuar, Postdoc am CERN und am DESY, Laurids Jeppe, Doktorand am DESY, und Christian Schwanenberger suchten vor knapp zwei Jahren nach weiteren Higgs-Bosonen – also eigentlich nach deren Zerfallsprodukten, weil man so schwere Teilchen ja nicht entdecken kann. Und weil sie nach besonders schweren Higgs-Bosonen suchten, hielten sie Ausschau nach den schwersten Teilchen, in die ein solches Higgs-Boson zerfallen kann: Top Quarks. Dazu analysierten sie die Daten aus dem CMS-Detektor von 2016 bis 2018 – und fanden darin einen Überschuss an Top-Antitop-Quark-Paaren, einen Bump. Der Überschuss liegt bei zirka 345 Gigaelektronenvolt.
Was diese Wölbung bedeutet, das ist nicht so eindeutig, sagt Schwanenberger und erzählt von einer Spurensuche, die allen möglichen Hinweisen nachgeht, Hypothesen aufstellt und testet.
Hypothese 1: Dieser Überschuss könnte sein, wonach die Physiker:innen gesucht haben: ein schweres Higgs-Boson. Christian Schwanenberger sagt: »Entweder ist es ein Higgs-Boson, was eben gerade diese 345 GeV hat oder irgendein anderer Effekt, den wir nicht verstehen.«
Um mehr über die Natur des möglichen Higgs-Bosons zu erfahren, machen die Physiker:innen verschiedene Analysen und untersuchen das Teilchen nach bestimmten Eigenschaften. Doch was sie bisher herausgefunden haben, passt nicht zu den Eigenschaften des Higgs-Bosons, das 2012 entdeckt wurde. Es müsste sich deshalb um ein neuartiges Higgs-Boson handeln mit anderen Eigenschaften – oder um etwas anderes.
Fast entschuldigend sagt Christian Schwanenberger: »Das ist aber auch das letzte Schwierige, was ich dazu sage.« Dann erklärt er: »Teilchen und Antiteilchen können eine anziehende Kraft aufeinander ausüben. Also zum Beispiel können ein Elektron und sein Antiteilchen, das Positron, einen Bindungszustand eingehen: Wir nennen den Positronium.« Und wenn es einen solchen Bindungszustand auch zwischen dem schwersten Teilchen und seinem Antiteilchen gäbe, also eine Bindung zwischen Top- und Antitop-Quark, dann – so sagt es das Standardmodell vorher – würde er genau die Eigenschaften haben, die die Analyse zeigte.
Hypothese 2 ist also: Der Überschuss ist ein Bindungszustand aus Top- und Antitop-Quark, den die Physiker:innen Toponium nennen. Schwanenberger erzählt, wie sein Kollege über diese Erklärung sagte: »Es sieht aus wie eine Ente, es läuft wie eine Ente, es quakt wie eine Ente – was also könnte es anderes sein als eine Ente?«
Doch eigentlich sollte dieser Bindungszustand aus Top- und Antitop-Quark gar nicht existieren können, weil die einzelnen Teilchen gar nicht so lange bestehen bleiben können. Die Bindung löst sich extrem schnell, weil eines der Teilchen zerfällt. Schwanenberger spricht deswegen von einem Quasibindungszustand. Er sagt aber auch dazu: »Wir können das nicht so richtig unterscheiden, ob es jetzt ein Toponium ist oder ob es dieses Higgs-Boson ist. Die Theorie, also das Standardmodell der Teilchenphysik, würde ein Toponium vorhersagen und wir messen es. Wenn wir annehmen, dass es ein Toponium ist, dann brauchen wir kein weiteres Higgs-Boson, um diesen Überschuss zu erklären. Wenn es ein Higgs-Boson wäre, dann müssten wir sagen: Okay, das Standardmodell muss erweitert werden um weitere Higgs-Teilchen.«
Teilchenphysik ist ein Vergleichen von Theorie und Experiment, ein ständiges Hypothesen-Testen und ein Versuch, offen zu bleiben, für alle möglichen Ergebnisse.
Ein zweites Experiment am LHC, das ATLAS-Experiment, überprüft die Ergebnisse von Schwanenberger und seinem Team. Erst wenn dieses zweite, unabhängige Experiment dieselben Ergebnisse liefert, wäre das der Beweis für die Toponium-Hypothese. Doch auch dann bleibt Schwanenberger vorsichtig: »Diese theoretischen Kalkulationen sind sehr, sehr schwierig. Es könnte theoretisch auch sein, dass morgen ein Theoretiker oder eine Theoretikerin kommt und sagt: Das stimmt alles nicht, das kann es nicht geben. Und dann hätten wir den Überschuss immer noch.«
Was also sagt der Bump am Ende aus? Er zeigt vor allem eines: wie Teilchenphysik funktioniert. Es ist ein Vergleichen von Theorie und Experiment, ein ständiges Hypothesen-Testen und ein Versuch, offen zu bleiben, für alle möglichen Ergebnisse. Schwanenberger sagt: »Wenn man ein Experiment macht, muss man diesem Experiment erlauben, dass es auch in die andere Richtung ausgehen kann.«
Die Weltformel
Als die Physiker:innen am CERN am 4. Juli 2012 die Entdeckung des Higgs-Teilchens verkündeten, wischte sich Peter Higgs Tränen von den Augen. Higgs hatte bereits 1964 das Higgs-Feld vorhergesagt. Dieses Feld, so vermutete Higgs, durchdringt den leeren Raum und umgibt die masselosen Elementarteilchen wie eine Hülle. Fast 50 Jahre vergingen, bis die Physiker:innen dann den Bump in den Daten entdeckten und fanden, wonach sie gesucht hatten.
Die Entdeckung des Higgs-Bosons ist ein erster Schritt, um einer der großen Fragen der Physik näherzukommen: Elementarteilchen sind so winzig, dass sie keine Ausdehnung haben, dennoch besitzen sie eine Masse – wie kann das sein? Diese Frage wird vermutlich erst in Jahrzehnten abschließend beantwortet sein, denn der Higgs-Mechanismus, also die Art, wie genau die Teilchen ihre Masse bekommen, ist noch nicht bewiesen.
»Ich denke, wie die Wissenschaft funktioniert, ist wie eine Erweiterung. Also man verschiebt die Grenzen des Nichtwissens.«
Christian Schwanenberger
»Wenn es das Higgs-Boson nicht geben würde, das wäre eigentlich der spannendere Fall gewesen«, sagt Christian Schwanenberger. »Dann hätten wir dieses Standardmodell der Teilchenphysik wirklich in den Papierkorb schmeißen müssen.« Denn ohne das Higgs-Teilchen und das dazugehörige Higgs-Feld kann das Standardmodell nicht erklären, warum diese winzigen Elementarteilchen Masse haben.
»Ich denke, wie die Wissenschaft funktioniert, ist wie eine Erweiterung. Also man verschiebt die Grenzen des Nichtwissens«, sagt Christian Schwanenberger. Und er holt weit aus, um zu erklären, was er meint: »Die klassische Mechanik, also der Apfel fällt vom Baum zum Beispiel, das wurde erklärt durch die Newtonsche Gravitationskraft. Und das Newtonsche Gesetz funktioniert ja wunderbar, wenn die Effekte nicht zu schnell und nicht zu schwer werden. Will man aber Schwarze Löcher oder andere Ereignisse im Universum erklären, dann muss ich das Gesetz erweitern um die Relativitätstheorie. Und wenn ich mir jetzt andererseits den Mikrokosmos anschaue, dann kann ich nicht erklären, wie die kleinsten Teilchen mit der Kraft der Gravitation zusammenhängen. Das heißt, da ist sozusagen die Grenze unseres Wissens. Also wir suchen nach einer Theorie, die die Gravitation einschließen kann, aber natürlich nicht alles komplett über den Haufen wirft, was wir etwa vom Standardmodell wissen. Sonst gäbe es ja plötzlich einen Widerspruch zu ganz, ganz vielen experimentellen Daten. Es kann aber auch sein, dass das Standardmodell das gar nicht erklären kann und vielleicht gibt es eine komplett andere Theorie. Aber diese neue Theorie, die muss natürlich das, was man alles schon gemessen hat, miterklären können.«
Dass sich Christian Schwanenberger mal mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigen wird, hatte er selbst nicht vorhergesehen. Eigentlich wollte er Umwelttechnologie studieren, erzählt er: »Doch damals wusste man noch nicht, ob es sowas wirklich braucht.« Also hat ihm eine Berufsberaterin empfohlen, Umweltphysik in Heidelberg zu studieren, denn Physiker:innen brauche es allemal. Er besuchte einige Vorlesungen zur Umweltphysik, blieb dann aber bei den Kursen zur Teilchenphysik hängen. Weil diese Fragen nach der Ursubstanz schon seit Jahrhunderten immer wieder durch die Gehirne von Menschen jagen. Und weil auch ihn die Neugierde antreibt.
Er sagt: »Ich kann nicht versprechen, dass wir bald ein Döschen mit Toponium haben, das Krebs heilen kann. Aber es ist eben auf lange Sicht auch wichtig, an diesen wissenschaftlich interessanten Fragen zu forschen.« An den Grundlagen.
Mithilfe von Grundlagenforschung haben Physiker:innen Gesetzmäßigkeiten in der Welt gefunden, die universell funktionieren, die uns sogar erlauben, Vorhersagen zu machen. Dank dieser Vorhersagen können wir Handys benutzen, mit Satelliten kommunizieren, unseren Standort sehr genau überprüfen, wir können auf den Mond fliegen, die Wärme auf der Oberfläche der Sonne berechnen, wir können Körper und antike Schriftrollen durchleuchten und diesen Text lesen.
Doch was wir physikalisch erklären können, wird immer eine Grenze haben. Und darüber hinaus können wir nicht gehen. »Alle Theorien sind nur auf einer gewissen Skala gültig«, sagt Schwanenberger. »Es wird nie so sein, dass wir irgendwann sagen können: Okay, jetzt ist alles erklärt.«
Das klingt nach einem Rückschlag. Doch Schwanenberger wirkt nicht wie jemand, der deswegen den Sinn der Physik in Frage stellt. Vielmehr sagt er begeistert: »Es ist schon verrückt, dass wir die Welt mit wenigen Formeln letzten Endes so weit erklären können.«
Erschienen am 3. Juli 2025
Quellennachweise
- CMS Collaboration. Observation of a pseudoscalar excess at the top quark pair production threshold 2025. https://doi.org/10.48550/arXiv.2503.22382.
- CERN: https://home.cern/science/physics.
- Education, Communications and Outreach Group: CERN-Brochure-2021-004-Eng 2021.
- CERN. The Higgs Discovery Explained: https://www.youtube.com/watch?v=so2nCu2Jkbc&list=PLAk-9e5KQYEqvdBn_fSMsuVPt-qOBhEEv.
Newsletter
Jeden Monat ein Thema. Unseren Newsletter kannst du hier kostenfrei abonnieren: