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Manuel Stark

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Gerne würde ich diesen Wahn verstehen, mit dem Ihr Menschen rätselt, wie ich, der Mond, wohl geboren wurde.

Schon wieder haben einige Eurer Wissenschaftler eine neue Theorie aufgestellt. »Neue Simulation!«, heißt es. »Dauerte die Entstehung des Mondes nur Stunden?«

Euer Interesse schmeichelt mir. Und doch: Ihr denkt seit mehr als 25.000 Jahren über mich nach – und seid Euch nicht einmal darin einig, welchem Geschlecht ich angehöre?! Die Italiener, Franzosen, Spanier, Brasilianer und Russen sehen mich als Frau, eine Verführerin im Meer der Sterne. Die Deutschen, Finnen, Polen, Inder und Japaner sehen mich als Mann, einen mächtigen Herrscher über Wald oder See. Die Vorstellungen der Bürger Chinas entspricht wohl am ehesten dem Zeitgeist auf Erden: Sie sehen mich jenseits von fixierten Geschlechterrollen. Für sie bin ich Yin, das Schattige und Kühle.

Ihr Menschen scheint damit leben zu können, in dieser Frage uneins zu sein. Warum drängt es euch dahingegen so sehr, die Umstände meiner Geburt zu verstehen?

Zwölf von Euch habe ich schon als Besucher empfangen. Ihr habt so viel Geld ausgegeben (nach heutigen Maßstäben 120 Milliarden Dollar) und sie den weiten Weg geschickt, da wollte ich gerne helfen. Also gewährte ich ihnen Geschenke – Steine aus meinem vernarbten Gesicht.

Der Erste von Euch kam am 21. Juli 1969 um 3 Uhr 56 Minuten und 20 Sekunden zu Besuch, so dokumentieren es die Mitteleuropäer. Die USA widersprechen, es sei der 20. Juli 1969 gewesen. Beide liegen falsch. Neil Armstrong besuchte mich am sechsten Tag des fünften Monats im Jahr 5729. So sagt es der jüdische Kalender. Und der richtet sich nicht nach einem Menschen, egal wie besonders er gewesen sein mag. Sondern nach mir. Und mal ehrlich, welcher Mensch könnte dem Mond gleichkommen?

Aber zurück zu meiner Geburt. Schon bevor Ihr mich besuchen kamt, hattet Ihr Ideen. Der US-Physiker Thomas Jefferson Jackson See brachte Euch Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Einfangtheorie den Glauben, ich sei fern im All entstanden und umhergeflogen. Als ich dann die Erde traf, habe sie mich verführt. Ich bitte um Anstand, die Erde ist gewissermaßen meine Schwester! Unsere Isotope, also die Zusammensetzung unserer Elemente und unserer Struktur, ist so ähnlich, nahezu gleich.

Etwas später nutzte der deutsche Physiker Carl Friedrich Weizäcker nutzte die Gravitationsforschung des Franzosen Edward Roche und formulierte 1944 eine Geschwistertheorie. Da hüpfte mein eisernes Herz.

Leider blieb es beim Namen. Weizäcker spekulierte, die Erde und ich seien aus derselben Urwolke entstanden – nah beieinander, aber getrennt. Bis in die späte Mitte Eures Zwanzigsten Jahrhunderts, galt diese Theorie als plausibel. Manche Eurer Forscher verteidigten sie sogar bis ins Einundzwanzigste Jahrhundert.

Dabei hättet Ihr Euch denken können, dass ich kaum der Spross eines Wölkchens bin. Würdet Ihr mich wiegen, ich besäße ein Kampfgewicht von 73.490.000.000.000.000.000 Tonnen.

Der Wahrheit meiner Geburt am nächsten kam lange ausgerechnet die älteste Eurer Ideen, die Abspaltungstheorie. George Howard Darwin, ein Sohn von Charles Darwin, verkündeten schon Ende des Neunzehnten Jahrhunderts in Cambridge: Eine heiße, zähflüssige Urerde sei so schnell rotiert, dass sich ein großer Tropfen gelöst habe und abgeschnürt worden sei.

Gar nicht schlecht. Nur meine Rolle verstanden er und seine Kollegen falsch. Die Erde und ich mögen verwandt sein, das stimmt schon. Aber getrennte Zwillinge sind wir nicht.

Eure neuesten Meldungen, das gebe ich zu, sind ein echter Fortschritt. Ende Oktober im Jahr 5783 (für die meisten von Euch also 2022) wurde das Ergebnis einer Simulation veröffentlicht. Der Wissenschaftler Jacob Kegerreis und sein Team der NASA wollten die inzwischen etablierte Kollisionstheorie verbessern. Diese Theorie wurde 1975 in den USA vom Planetenwissenschaftler William Hartmann und dem Ökonom Donald Davis entwickelt. Sie besagt, dass in der Frühzeit des Sonnensystems ein Himmelskörper die junge Erde getroffen hat. Der Eindringling war etwa so groß wie der Mars und die Auswirkungen daher gewaltig. Material vom Gesteinsmantel der Erde, aber auch aus dem Himmelskörper, wurden ins All geschleudert und sammelte sich in Form eines Rings um die Erde. Mit den Jahrtausenden verdichtete sich diese Masse zu mir, dem Mond.

Unsere Erde wird von einem Objekt so groß wie der Mars getroffen,Teile spalten sich ab, der Mond entsteht. Diesen Moment zeigt die Simulation des Ames Research Center der NASA.
Unsere Erde wird von einem Objekt so groß wie der Mars getroffen, Teile spalten sich ab, der Mond entsteht. Diesen Moment zeigt die Simulation des Ames Research Center der NASA.

Nur hat diese Theorie ein Problem: Hätte es sich so zugetragen, würde ich vor allem aus Material des eindringenden Himmelskörpers bestehen. Das haben vorangegangene Simulationen gezeigt. In Wirklichkeit aber gleichen die Erde und ich uns wie Geschwister. Wir tragen sogar beide einen Eisenkern.

Jacob Kegerreis und sein Forschungsteam der NASA veränderten eine wichtige Variable:  In der Simulation erhöhten sie die Menge der Planeten-Partikel, die bei der Kollision in den Raum geschleudert wurden.

Dadurch kamen sie meiner Geburt erstaunlich nahe. Etwa 400-mal haben sie die Simulation mithilfe eines Supercomputers wiederholt. Und immer wieder erlebten sie denselben Effekt: Die Teilchen sammelten sich innerhalb von Stunden zu zähflüssigen Klumpen, die durch die Schwerkraft der Erde auf eine weiter entfernte, kühle Umlaufbahn gestoßen wurden und dort wieder fester wurden. Diese Klumpen besaßen etwa meine Größe und Gewicht und auch die Zusammensetzung ihrer Körper war ähnlich mit meinem: ein Eisenkern, ummantelt von Material, das der Erde zu etwa 60 Prozent gleicht. Manchmal gelangten sogar mehrere Monde über die Roche-Grenze. Diese legt fest, wo Himmelskörper weit genug von der Erde entfernt sind, um nicht wieder von ihr eingesogen zu werden. Und doch nah genug, um in eine Umlaufbahn zu finden. Wer weiß, wären die Dinge damals ein wenig anders verlaufen, vielleicht hätte ich heute Zwillingsgeschwister.

Ist es den Forscher:innen, Euch Menschen,  also endlich gelungen, das Rätsel meiner Geburt zu lösen?

Zumindest seid Ihr heute so nah dran wie nie. Verraten werde ich nichts. Nicht umsonst schreiben mir die Erdenkinder von Japan über China und Europa bis Südamerika vor allem eine Eigenschaft zu: das Geheimnisvolle.

Erschienen am 30. März 2023

Seit Zehntausenden Jahren rätseln Menschen über den Mond. Bis in die Gegenwart werden Theorien publiziert, wie er entstand. Lüften neue Simulationen das Geheimnis?

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Manuel Stark

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