Eine der meistzitierten Reisevokabeln erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie möchte etwas klarstellen.

Text
Nelly Ritz

Illustration
Joseph Klingenberg
Sebastian Obermeyer
Website

Hey, ich bin Wanda.

Du kennst mich vielleicht aus Instagram. Fremde verlinken mich auf Fotos. Reisende schreiben Blogs, die nach mir benannt sind. Du findest Magazine, Filme und Yoga-Kurse, die so heißen wie ich: Wanderlust. Da fängt das Problem an: Viele Leute reduzieren mich auf die Lust am Reisen, »a desire to travel«. Dabei bin ich viel mehr!

Geboren in Deutschland, habe ich mich schnell in Texten eingelebt. Die früheste Zeitschrift, in der man heute einen Beleg von mir findet, ist die »Allgemeine deutsche Bibliothek« von 1770. Darin ist die Rede von »Pfälzern«, die in der »Erndtezeit« nach Bayern wanderten. Im 18. Jahrhundert reisten die Menschen nur gezwungenermaßen zu Fuß, zum Beispiel für die Arbeit. Von mir sprachen sie damals nur im Kontext von Arbeitsmigration.

1835 tuckerte die erste Dampflok durch Deutschland. Das Laufen diente jetzt dem Spaß. Noch heute bin ich mit dieser Bedeutung im Duden verewigt: »Lust, Freude am Wandern«. Das 19. Jahrhundert war eine stressige Zeit für mich. In der Literatur priesen Wandernde die Natur und Schriftsteller:innen machten Gebrauch von mir. Ich musste auch für die Auswanderungsbewegung herhalten. Man könnte denken, mit ihnen sei ich ins Englische gereist. Melani Schröter vermutet etwas anderes. Sie ist Linguistin an der Universität in Reading, Großbritannien. Sie glaubt: »Wanderlust kam in einem gebildeten Kontext ins Englische.« Ich machte es mir wohl nicht im Gepäck der Immigrant:innen, sondern in der Fachliteratur gemütlich. Die ersten dokumentierten Spuren meiner Reise stammen aus einem britischen Literaturmagazin und einer psychologischen Studie von 1902.

Wenn ich im Englischen unterwegs bin, dann meist mit Freund:innen wie restlessness (Rastlosigkeit), incurable (unheilbar), insatiable (unstillbar). Das können Wissenschaftler:innen anhand von riesigen Textsammlungen herausfinden. Darin wühlen sie in meiner Vergangenheit und Gegenwart, klicken und stupsen mich an. Dadurch wissen sie, dass ich im Deutschen mit anderen Begriffen abhänge als im Englischen. Meine deutschen Kolleg:innen sind Radfahrverein, Reisemagazin und FC Wanderlust. Während ich im Englischen weiter für das »desire to travel« stehe, bin ich im Deutschen bloß noch ein Label.

Es kommt noch dreister: Die Deutschen haben mich ersetzt! Ihren Drang, unterwegs zu sein, nennen sie jetzt Fernweh. In der Textsammlung ist es fast fünfmal so oft vertreten wie ich. Ratet mal, mit wem: packen, Abenteuerlust, Freiheit.

Nur das Englische ist mir treu. Man muss nur das Fernweh übersetzen, dann stehe ich parat: Fernweh (deutsch) = Wanderlust (englisch). Ha!

Und Good Old Germany? Ach, wer weiß, vielleicht reise ich ja irgendwann mal wieder zurück.

Liebe Grüße in die Heimat

Wanda

Erschienen am 7. April 2022

Text
Nelly Ritz

Illustration
Joseph Klingenberg
Sebastian Obermeyer
Website