Annäherungen an ein unversöhnliches Verhältnis.
Playlist: Wildnis

Text
Markus Gottschling

Wie klingt Wildnis? Nach Blätterrauschen, Löwengebrüll, Wüstenwind, Eispressungen? Oder nach Motorsägen und Büchsenknallen, Betonschluchten und Todesschluchzen? Und wie das aufschreiben, wiedergeben, in einen Sound fassen? Wildnis ist ein Motor menschlicher Imagination, ungezählte Romane, Kunstwerke, Filme und Songs handeln von Aufbrüchen und Schiffbrüchen, Abenteuern und bitteren Enttäuschungen in die beziehungsweise in der Wildnis. Oft wiederholen sie historische Eroberungen und zeigen so: Im menschengemachten Begriff für das menschenlose Naturphänomen »Wildnis« steckt immer auch, dass sie angeeignet und somit vernichtet wird. Wir Zivilisierten stehen, selbst wenn wir die besten Absichten hegen, der Wildnis unversöhnlich gegenüber. Indem wir sie kartieren, betreten, filmen, malen, fotografieren, besingen oder erklingen lassen, vernichten wir sie – oder werden von ihr verschluckt. Ein schwieriges Verhältnis. Dem Sound der Wildnis nähert man sich darum am besten aus unterschiedlichen Positionen und Perspektiven.

1 – Auf Abwegen

Aus Werner Herzogs Antarktisfilm Encounters at the End of the World bleibt ein herzzerreißendes Bild im Gedächtnis: Ein desorientierter Pinguin watschelt unaufhaltsam ins Landesinnere. Für seine Kolonie ist er verloren. Selbst wenn er wieder eingefangen und zurückgebracht würde, so erläutert Herzog in seinem typischen, unbeschreiblichen Herzogsound, »he would immediately head right back for the mountains. But why?«. Die Frage nach den Gründen für einen Aufbruch aus der Zivilisation, den Tod in der Einsamkeit der Wüsten, Wälder und Meere einkalkulierend, stellt Herzog durch den Pinguin auch an den Menschen. Denn immer wieder führt der menschliche Eroberungsdrang – der Philosoph Hans Blumenberg nannte das curiositas – zu immer gewagteren Expeditionen ins Unbekannte. Meist waren es irdische oder himmlische Reichtümer, die Forscher, Glücksritter und Missionare in die Wildnis lockten. Oft genug gingen die explorer jedoch auf ihren Reisen in der Wildnis verloren. So erging es etwa den drei Schiffen der Expedition auf der Suche nach der arktischen Northwest Passage unter der Leitung von Kapitän John Franklin. Im Gegenzug wurden die spurlos Verschwundenen nicht nur von nachfahrenden Expeditionen gesucht, sondern auch sehnsuchtsvoll beschrieben und besungen. Im Fall der Franklin-Expedition gesellt sich zu Romanen, Sachbüchern und der jüngsten TV-Serie auch der Folksänger Stan Rogers, der die im Eis Verlorenen a capella zurück ins Leben singen möchte.

2 – Die Suchenden

Was in der Wildnis verloren ist, muss gefunden, zivilisiert, vermessen, beschrieben, vertont werden. Das Verschwinden von Expeditionen Into the Wilderness, wie die Burning Hearts sie besingen, führt zu neuen Expeditionen. Diese fanden in der Realität ebenso statt wie in den Geschichten, die man sich über die Verschwundenen erzählt – was sich etwa in der wundersamen Wiederauffindung des in Afrika verschollenen David Livingstone zeigt. Livingstone war auf Missionsreise in Zentralafrika verlorengegangen. Nach mehrjähriger Suche aber stöberte ihn Henry Morton Stanley in der Nähe des Tanganjikasees auf und begrüßte ihn der Legende nach mit den lakonischen Worten: »Dr. Livingstone, I presume?« The Moody Blues haben, den Ausspruch wiederholend, der Faszination der Suche nach den Verschollenen ein Denkmal gesetzt: »We’re all looking for someone«, heißt es da. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben das Verhältnis von Wildnis und Zivilisation als Prozess perspektivischer Aneignung beschrieben, wobei die Wildnis – Deleuze und Guattari bezeichnen diese als »glatten« Raum, in dem sich nur Nomaden zurechtfänden – ständig von der Verwandlung in einen »gekerbten« Raum durch zivilisierende Menschen bedroht ist. Eine solche Einkerbung der Wildnis als Zivilisationsmaßnahme kann, muss aber nicht mit Landnahme, Grenzziehung oder Ackerbau einhergehen. Auch Koordinatensysteme oder Luftbildfotografien und sogar Schrift und Musik können Mittel kerbender Aneignung sein – oder eine wilde Kombination aus allen diesen Zutaten wie im Song Map Ref 41°N 93°W der Post-Punker von Wire.

3 — Der Schnitt

Freilich war Livingstone nur aus europäischer Kolonialperspektive in der Wildnis Afrikas verschwunden, er selbst führte als Fußgänger die zivilisierende Arbeit on the ground fort – nur eben, ohne wahrnehmbare Spuren zu hinterlassen. Es kommt hinsichtlich der Aneignung der Wildnis darum entscheidend auf die Positionen der Betrachter:innen an. Besonders vielschichtig zeigt sich dies in der Pseudodokumentation Man of Aran des Regisseurs Robert Flaherty von 1935. Der Film inszeniert den ewigen Kampf des Menschen gegen die Wildnis der irischen Aran Islands romantisch im Leben einer Kernfamilie. Doch die gezeigte Wildnis ist durch die Mittel des Films konstruiert, was sich besonders in einem langen Schwenk über die scheinbar unzivilisierte Insel zeigt. Ein Schnitt erfolgt, kurz bevor die Filmkamera ein Fischerdorf hätte zeigen müssen, das in der Realität dort auch heute noch steht. Dieser Filmschnitt inszeniert einen Wildnisraum, zivilisiert ihn aber auch sofort wieder. Denn Kamerabild und Schnitt bringen uns in die Position, die konstruierte Wildnis durch unseren Blick erneut zu erobern, sozusagen eine Aneignung zweiter Ordnung durchzuführen. Eine authentische literarische, filmische oder musikalische Darstellung von Wildnis ist darum nicht möglich: No Man is an Archipelago, so formuliert das die Post-Rock-Band The British Sea Power als doppelt augenzwinkerndes Zitat auf ihrer Version des Soundtracks zum Film, 65 Jahre nach dessen Erscheinen. Der Mensch, indem er die Wildnis zur Wildnis erklärt, hat sie immer schon eingebunden in ein Spiel von Ursprünglichkeit und Aneignung, von Original und Referenz.

4 — Eine Landpartie

Die Bestimmung von Wildnis löst also eine Reihe von Fragen nach dem Standpunkt der Betrachter:innen aus: Wo hört Landschaft auf, wo fängt Wildnis an? Sind nicht die von Kate Bush nach Romanvorlage besungenen wilden englischen Moore um Wuthering Heights – in denen die verstorbene Cathy als Geist ihren begehrten Heathcliff heimsucht – aufgrund ihrer gespenstischen Qualitäten schon Wildnis? Und was ist mit der Countryside – mithin ein gemachter Kulturraum –, die von Bow Wow Wow in Go Wild in the Country zur Wildnis als hedonistischem Eskapismusziel erklärt werden? Wahrscheinlich ist letztere am besten mit der Positionierung gegen die Großstadt London und ihrer öden Reihenhausvorstädte zu erklären. Da wird die Wildnis zur herbeigesehnten Gegenwelt. Dazu erklingen der von afrikanischen Rhythmen entwendete Burundi Beat, der musikalisch den Ausbruch herbeitrommeln soll: raus aus der Stadt, ab aufs Land und am besten gleich ganz in den Urwald.

5 — Welcome to the Jungle

Der hat mit seinen Lianen, Raubtieren und – wieder aus der kolonisierenden Position der Europäer gesprochen – Wilden schon immer als Metapher des Gefährlichen und Undurchdringlichen herhalten müssen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert zeigten die in satten Farben gehaltenen Urwaldgemälde Henri Rousseaus Panther, Affen und Eingeborene als geheimnisvoll dunkel aus dem grünen Dschungel herausstechende, exotische Fremdkörper. Dass diese Bilder jedoch nicht der eigenen Anschauung entsprangen, sondern teils durch Kinderbücher inspiriert wurden, passt ins Konzept europäischer Wildnisfaszination – man denke an Karl May – als wiederum einer Aneignung zweiter Ordnung. Auch heute noch ziehen gefährliche Tiere wie Wildcat und Anaconda als bisweilen phallische Exotismen durch die Popmusik, etwa bei Ratatat und Nicki Minaj. Das in Analogie zur Verschlungenheit des Urwalds gebildete musikalische Genre Jungle, etwa Incredible von M-Beat feat. General Levy, betont dagegen, dass auch die Großstadt durchaus Perspektiven der Wildnis bietet.

6 — Zurück zum Beton

Der Concrete Jungle, wie ihn beispielsweise The Specials besingen, ist gewissermaßen als Topos in urbanem Baustoff erstarrt. Das Überleben in der Großstadt mit ihren Betonschluchten, ameisenwimmelnden Menschenmengen, kreischenden Reifen und sich aus dem Untergrund schlängelnden Gleisen ist in dieser Denkart dem im Dschungel gleichzusetzen. Sich zu Fuß in London zu bewegen, so notiert es der Psychogeograf Iain Sinclair, entspräche einer Bewegung durch »lucid wilderness«. Und wie die grüne, so wird auch die graue Wildnis zur Projektionsfläche der Selbstvergewisserung. Die affirmative Großstadtmusik will – wie etwa am Beispiel der Punker von S.Y.P.H. – eben nicht raus aufs Land, sondern Zurück zum Beton und sich auch in der Schäbigkeit der U-Bahnschächte behaglich einrichten. In einer Metropole, so schreiben auch Gilles Deleuze und Félix Guattari, könne man durchaus »als Nomade oder Höhlenbewohner« hausen und so die Stadt für sich als glatten Raum, als Wildnis erzeugen. Sicherlich kein besonders angenehmes Leben – aber eins, das die aneignende Zivilisierung radikal umkehrt.

7 — Alles Abfackeln

Es seien nur 4 Degrees, so beziffert AHNONI, die es an Temperaturanstieg bedürfe, bis sich eine weitere radikale Umkehr durchsetze und das Anthropozän zum Pyrozän werde, die Welt also endgültig anfange, zu brennen. »I wanna see the animals die in the trees«, hofft die Sängerin und verlängert die Kette des Verhältnisses von Zivilisation und Wildnis um ein weiteres Glied, den Zivilisationsschock. Dessen künstlerische Umsetzung freilich ist die Paradedisziplin der Spezialeffektapokalyptiker, von Renaissancemaler Pieter Bruegel dem Älteren bis hin zu Katastrophenregisseur Roland Emmerich, dem Get Well Soon mit Roland, I Feel You einen »apocalypso beat« widmete: »The whole world is going to hell«; auch PJ Harvey sieht in Written on the Forehead überall nur »blood and fire«. In der Endzeit steht der Mensch auf verlorenem Posten gegenüber der Wildnis – »A lotta people won’t get no supper tonight«, so heißt es in Armagideon Time von The Clash. Wenn die Wildnis übernimmt, dann wird der Mensch untergehen – oder zumindest sie nicht mehr zivilisieren können.

8 — Ein Königreich für einen Rasenmäher

Was folgt auf das Ende der Zivilisation? Wie sieht der Neuanfang aus? Einer der Klassiker apokalyptischer Literatur, Richard Jeffries’ After London von 1885, beschreibt die Neugeburt der Menschheit als Verwilderung – Wälder greifen um sich, Städte werden überwuchert, London versinkt in toxischem Sumpfland und die Menschen werden wieder zu Nomaden. In der popmusikalischen Aktualisierung des Romans imaginiert sich David Byrne mit den Talking Heads in der Wildnis nach dem großen Zusammenbruch, in dem (Nothing but) Flowers zu sehen sind. Die zum Abendessen gefangene Klapperschlange scheint dabei noch zu den okayeren Begleiterscheinungen zu gehören. Allerdings wünscht sich Byrne für den ganzen Wildwuchs im Verlauf des Songs immer dringender einen Rasenmäher herbei, das Ende des Songs wird zum Flehen: »Don’t leave me standing here, I can’t get used to this lifestyle.« In Byrnes halb ironischer, halb existenzieller Verzweiflung hallt die im Angesicht eines sich watschelnd für immer entfernenden Pinguins gestellte Frage Werner Herzogs nach: »But why?« Das unbehauste Nomadenleben in der Wildnis – zumal ohne Werkzeug der Kerbung wie den benzinbetriebenen Rasenmäher – bietet am Ende also auch keine bessere Option als der zivilisationsmüde Pinguingang in das eigene Verschwinden.

Was aber, wenn dieses Verschwinden in der Wildnis gar nicht das eigene Ableben bedeutet, sondern eine Befreiung darstellt? Wenn der Tod durch Verlorengehen, wie Blumfeld in Strobohobo singen, nur ein Trick ist, um endlich »raus zum Rhododendron und zu den Orchideen« zu kommen? Wir Zivilisierten können noch Geschichten von den Verschwundenen erzählen, wir können Lieder über sie singen, sehen können wir sie nicht mehr. Vielleicht sind sie ja angekommen in der Wildnis.

Playlist

Raus zum Rhododendron
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Stan Rogers:
Northwest Passage Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Burning Hearts:
Into the Wilderness Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

The Moody Blues:
Dr. Livingstone, I Pressume Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Wire:
Map Ref 41°N 93°W Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

British Sea Power:
No Man is an Archilelago Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Kate Bush:
Wuthering Heights Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Bow Wow Wow:
Go Wild in the Country Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Ratatat:
Wild Cat Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Nicki Minaj:
Anaconda Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

M-Beat feat. General Levy:
Incredible Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

The Specials:
Concrete Jungle Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

S.Y.P.H.:
Zurück zum Beton Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

AHNONI:
4 Degrees Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Get Well Soon:
Roland, I Feel You Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

PJ Harvey:
Written on the Forehead Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

The Clash:
Armagideon Time Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Talking Heads:
(Nothing But) Flowers Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Blumfeld:
Strobohobo Auf Spotify anhören Auf YouTube anhören

Text
Markus Gottschling