Der Klimawandel bedroht zunehmend das Leben der Kraniche. Was bedeutet das für den einzelnen Vogel? Wir folgen dem Kranichmännchen Trana auf seinem Weg ins Erwachsenwerden.

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Eva Hoffmann

Als Großstadtkind hat Eva Hoffmann von der Natur eher wenig mitbekommen. Mittlerweile lebt sie auf dem Land. So richtig auf dem Land. Im Herbst wird man vom Geschrei der Kraniche geweckt, die übers Haus ziehen. Sie wollte wissen, wohin ihre Reise geht. Späte Faszination also.

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Joseph Klingenberg
Sebastian Obermeyer
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1 Glück gehabt
28.08.2013. ID: DEH-2013-08-28-02. Koordinaten: 53.095-13.879 Ort: Brandenburg, Steinhöfel. Alter: Nestling, nicht voll flugfähig

Wie ein Glücksvogel sieht das strubbelige Küken nicht aus. Beate Blahy fotografiert es im Juni 2013 im hohen Gras ihres Gartens, kurz nachdem es bei ihr abgegeben wurde. Das cremefarbene Gefieder ist aufgeplustert, die langen Beine ragen staksig aus der Wiese. »Trana« nennt sie den Vogel, »Kranich« auf Schwedisch. In den ersten Wochen füttert Blahy das männliche Küken alle zehn Minuten. Erst mit selbst zerstampften Schneckenhäusern und Insekten, später mit Hühnerherzen und dem, was bei ihr selbst auf den Teller kommt. Innerhalb von zehn Wochen wächst das Küken auf anderthalb Meter heran.
Als Trana zwei Monate in seinem neuen Zuhause zugebracht hat, wirft ihm ein Kollege Blahys ein Tuch über den Kopf. Das beruhigt Trana kurz, sodass eine Helferin dem Tier verschiedene Ringe am Bein anbringen kann. Eine individuelle Kombination, die Trana auf der ganzen Welt nachverfolgbar macht. So ist es möglich, dass Beate Blahy und ihr Mann Eberhard Henne den Vogel auch die kommenden Jahre verfolgen können. Blahy macht nun Tranas ersten Eintrag im ICORA-Programm, dem internationalen Online-Archiv der Kranichbeobachter:innen: Nestling, nicht voll flugfähig.

»Man lebt eben so mit ihnen, als sei man selbst ein Kranich.« Beate Blahy

Beate Blahy nennt sich selbst einen »leidenschaftlichen Kranichfan«, dafür sei sie bekannt in der Region. Wenn ein Jägershund ein Nest ausnimmt, Menschen die Küken unwissend anfassen oder andere Fressfeinde wie Marder und Wildschwein die Nester der Vögel ausnehmen, klingelt bei Blahy und ihrem Mann das Telefon. Seit mehr als 20 Jahren nehmen sie auf ihrem Hof am Usedom-Radweg pro Saison mindestens ein Küken auf.

»Als Kind kannte ich den Kranich nur von der Briefmarke«, erinnert sich Beate Blahy. Brutplätze wurden in der DDR geheim gehalten, weil der Vogel so selten war. Vor der Wende arbeitete Blahy als Tierärztin, genau wie ihr Mann. Beide sind beim Kranichschutz Deutschland aktiv. Als Rentner hätten sie nun Zeit, sich ganz dem Kranich zu widmen. »Manche finden uns völlig spinnerig«, sagt Henne. Und Blahy ergänzt: »Man lebt eben so mit ihnen, als sei man selbst ein Kranich.«


Als Symbol der Wachsamkeit und des Glücks gilt der Kranich, als »Sonnenvogel«. Er tritt im alten Ägypten, in der griechischen Mythologie und auch in japanischen Legenden auf. Er wird bis zu 30, in Gefangenschaft sogar 40 Jahre alt. Trana gehört zur verbreitetsten Art in Europa, dem Grus grus, dem Grauen Kranich. 14 weitere Arten gibt es weltweit. Für manche kam der Naturschutz beinahe zu spät: Die imposanten Federn des weißen Schreikranichs waren bis zum 2. Weltkrieg ein beliebtes Modeaccessoire an der US-amerikanischen Ostküste. Das Resultat: Nach 1945 war diese Kranichart fast ausgestorben, mittlerweile gibt es wieder mehr als 500 Exemplare. In Deutschland wurden im Jahr 2020 circa 7.500 Brutpaare gezählt. Der Kranich steht hier unter Naturschutz. Trotzdem werden jedes Jahr Küken wie Trana bei Beate Blahy abgegeben. Die Folgen des Klimawandels wirken sich auf den sonst so verlässlichen Zyklus der Kraniche aus, vor allem auf die Brut. Trana wird lernen müssen, flexibel zu sein.

2 Winterpause
17.11.2019. ID: DEH-2013-08-28-02. France, Centre, Nohant-en-Goût. Koordinaten: 47.077 2.575 Truppgröße: 6.000. Familiengröße: unbekannt

»An einem Morgen im November ist Trana einfach losgeflogen«, erinnert sich Beate Blahy. Immer wieder ist sie auf dem Feld vor dem Jungtier hergelaufen, hat dabei mit den Armen gerudert, wie auch die Alttiere es ihren Jungen vormachen. Abgehoben hat Blahy im November 2013 zwar nicht mit ihrem Geflatter. Aber scheinbar hat Trana etwas gelernt.

Acht Jahre nach seinen ersten Flugversuchen kann Blahy im ICORA-System nachschauen: In der Loire-Region in Frankreich hat ein Beobachter Trana Ende 2019 in einer Gruppe von mehr als 6.000 Kranichen an seinen Beinringen erkannt.

Kraniche sind Kurzstreckenzieher. Im Herbst, wenn die Jungen großgezogen sind, verlassen sie die Kleinfamilie und sammeln sich in großen Gruppen, die sich jedes Jahr neu zusammensetzen. Milena Kreiling, die im Nationalpark Unteres Odertal als Rangerin arbeitet, beobachtet das Spektakel jedes Jahr. Was dem Vogel den Impuls gibt, das Revier zu verlassen, ist in der Forschung noch unklar: »Vermutlich ist es eine Mischung aus innerer Uhr und Wetterfühligkeit«, sagt sie. Auch Vögel wie Trana, die nicht in der Gruppe aufgewachsen sind, würden diesen Zug spüren. Eine sich anbahnende Kaltwetterfront kann ein Auslöser sein. Mit lauten Rufen, den Hals nach vorne gereckt, mit den Flügeln rudernd, bilden die Kraniche am Himmel lange Linien und V-Formationen. Sie brechen auf in den Süden und kommen erst im Frühjahr wieder. Mit bis zu 130 Kilometern pro Stunde fliegen die Gruppen teilweise 24 Stunden am Stück, bis sie ihr Ziel erreichen.
Forscher:innen gehen davon aus, dass Kraniche prägnante Architektur, Küstenstreifen oder Flussläufe als visuelle Wegmarken nutzen. Zudem orientieren sich die Tiere tagsüber an der Sonne, nachts an den Sternen. Doch wie kann es sein, dass sie auch bei schlechter Sicht zielstrebig der immer gleichen Route folgen? Einige Forscher:innen vermuten, dass eisenhaltige Partikel im Schnabel sich wie Kompassnadeln zum Magnetfeld der Erde ausrichten und somit als Magnetsensoren funktionieren. Andere nehmen an, Eiweißmoleküle auf der Netzhaut würden die Vögel lenken.

»Wenn dann andere Zugvögel aus dem Norden kommen, um hier zu überwintern, kann es knapp werden mit dem Futter und guten Schlafplätzen.« Milena Kreiling

Mit dem Klimawandel jedoch gerät der Flugrhythmus der Tiere durcheinander. Wenn der Sommer karg ist und die Felder in den Brutgebieten erst spät bestellt werden, verzögert sich die Abreise. Die Vögel sind angewiesen auf die Ernte, damit sie sich genug Energiereserven für den Flug anfressen können. Rangerin Kreiling beobachtet im Nationalpark, dass einige Tiere auch gar nicht mehr ziehen: »Im Winter 2020/21 hatten wir rund 100 Kraniche hier. Wenn dann andere Zugvögel aus dem Norden kommen, um hier zu überwintern, kann es knapp werden mit dem Futter und guten Schlafplätzen.«

Die Fähigkeit, flexibel neue Quartiere zu erschließen – es kann sein, dass derselbe Kranich in einem Jahr nach Äthiopien fliegt, im anderen aber nach Frankreich – ist eine Ausnahme in der Vogelwelt. Vielleicht wäre Trana vor 20 Jahren noch nach Spanien oder sogar über die Ostroute nach Nordafrika, Israel oder Äthiopien gezogen. Doch die steigenden Temperaturen ermöglichen ein Überwintern in Südfrankreich. In dieser Hinsicht profitiert der Kranich vom Klimawandel, als einer der wenigen: Laut einer Studie von BirdLife International werden 24 Prozent der 570 weltweit untersuchten Vogelarten negativ und nur 13 Prozent positiv vom Klimawandel beeinflusst. Bei der Rückkehr, die mittlerweile mehrere Wochen später als noch vor 20 Jahren stattfindet, trifft aber auch der Kranich auf klimabedingte Herausforderungen.

3 Reviersuche
12.03.2020 ID: DEH-2013-08-28-02. Deutschland, Brandenburg, Voßberg. Koordinaten: 53.143 13.818. Truppgröße: 4. Familiengröße: Paar ohne Junge
Während Beate Blahy in ihrem Wohnzimmer erzählt, wie Trana es in die Wildnis geschafft hat, ertönt von draußen ein lauter, röhrender Ruf. Cully, einer der Kraniche, die aktuell auf dem Hof sind, wolle Aufmerksamkeit, sagt sie. An der Stimme können selbst Laien den Kranich erkennen. Durch die 1,30 Meter lange Luftröhre erschallt ein einzigartiges Trompeten. Es kann warnen, flirten oder das Revier abstecken. Im Frühjahr dann wird es rund um den Hof von Blahy und Henne richtig laut. Die Balz beginnt.

Die Balz ist ein Spektakel: Die Kraniche umschreiten sich, springen in die Luft, ducken sich, recken den Hals, breiten die Flügel aus.

Auch Trana findet sein Glück. Im Frühling 2020 hat sich unweit des Hofes in der Uckermark, wo das Küken aufgezogen wurde, ein Kranichpaar niedergelassen. Blahy schaut mit dem Fernglas nach: Einer der Vögel ist Trana.

Die Balz ist ein Spektakel: Die Kraniche umschreiten sich, springen in die Luft, ducken sich, recken den Hals, breiten die Flügel aus. Kein Tanz gleicht dem anderen. Die sogenannten Duettrufe sind weit über die Felder zu hören. Gehen zwei Kraniche eine Liaison ein, muss schnell ein Revier besetzt werden. Die Konkurrenz schläft nicht. Gesucht wird: ein feuchtes Nistgebiet, eine große Wiese in der Nachbarschaft, wo sie später die Jungen ausführen können, und ausreichend Abstand zu Straßen und Wegen. Graue Kraniche sind Bodennister. Ihre Krallen sind zu lang, um auf Ästen zu stehen. Sie brüten deshalb an wasserreichen Stellen, in Mooren oder Erlenbrüchen, wo sie vor Nestplünderern sicher sind. Bis zu dreißig Tagen kann die Brut andauern. Diese Verstecke benötigen die Vögel nicht nur für ihre Brut, rund alle drei Jahre werden sie auch für den ausgewachsenen Kranich selbst überlebenswichtig. Dann verliert er sein gesamtes Gefieder, auch die Flugfedern. Mit der Mauser wirft der Vogel abgenutztes und ausgeblichenes Fluggefieder ab. Meistens nach der Brutzeit und vor der nächsten großen Reise. Mit dieser Rundumerneuerung stellt er sicher, dass er auch beim nächsten Ziehen mithalten kann und vor Sonneneinstrahlung oder Kälte geschützt bleibt. In dieser Zeit kann er nicht fliegen und ist leichte Beute für Raubtiere. Darum ist er in diesen sechs Wochen auf Feuchtgebiete angewiesen. Doch die trocknen in Ostbrandenburg und der Uckermark zunehmend aus. Viele Feuchtgebiete wurden von Landwirt:innen entwässert, um Ackerflächen zu schaffen. Damit gehen nicht nur wichtige CO-Speicher verloren, sondern auch die Brutgebiete der Kraniche. Erbitterte Revierkämpfe sind das Resultat, einige Kraniche brechen sogar die Brut ab und lassen ihre Eier zurück. Die trockeneren Sommer in Brandenburg machen es Raubtieren leicht, die Kraniche zu stören.

Beate Blahy beobachtet den Rückgang der Brut mit Sorge: »In unserem Beobachtungsgebiet brüteten nur 15 Paare. Im Jahr davor waren es 25. Zwei Vögel wurden mitsamt Nachwuchs von Prädatoren gerissen.« Daneben sind weitere sechs brutfähige Altvögel Fraßfeinden zum Opfer gefallen. Aus den Daten, die Blahy und Henne von beringten Kranichen im Jahr 2019 ablesen können, schließen sie: Der Aufzuchterfolg liegt bei 0,25 Jungtieren pro Paar; in den Jahren davor waren es dreimal so viele. So hohe Verluste in ihrem Beobachtungsgebiet lassen auch für den Gesamtbestand in Nordostbrandenburg keine gute Prognose zu. Blahy kritisiert den Wasser- und Bodenverband der Region dafür, dass er Dämme in der Region öffnen ließe und so die Entwässerung weiter vorantreibt: »Niemand ist hier von Überflutung bedroht, im Gegenteil. Wir geben unsere wertvollste Ressource weg” – das Wasser, ein Schlüssel zur Biodiversität. Haben die Kraniche sich einmal für ein Revier entschieden, bleiben sie dort die ganze Saison über. Setzt dann eine akute Trockenheit ein oder wird Wasser abgezogen, seien sie gefährdet.

Auch Tranas Versuch, Nachwuchs zu bekommen, scheitert im heißen Sommer 2020. Das Wasser in seinem Brutgebiet verdunstet, das Kranichpaar bricht die Brut ab.

4 Familientreffen
18.10.2020 ID: DEH-2013-08-28-02. Deutschland, Niedersachsen, Düdinghausen. Koordinaten: 52.566 8.951, Truppgröße: 135, Familiengröße: ein Altvogel

Mit der Dämmerung geht das Geschrei los. Tausende Kraniche ziehen im Oktober dicht über den schmalen Deich an der Oder. Tagsüber fressen sie sich – zum Ärger der Landwirt:innen – auf den Feldern in der Umgebung satt, nachts schlafen sie im Schilf auf der polnischen Uferseite. Und jede Menge Tourist:innen schauen zu. Jedes Jahr im Oktober sind »Kranichwochen« im Oderbruch. Dann sammeln sich die Kraniche kurz vor ihrem Aufbruch in die Wintergebiete in Gruppen mit bis zu 200 Tieren. Auch Trana ist dort.

Der Kranich hat seine jungen Jahre im unteren Odertal verbracht, sich gemausert und ist in die Ferne gezogen. Später, mit der Geschlechtsreife, ist er an den Ort zurückgekehrt, an dem ihn seine Menscheneltern aufgezogen haben. Im November 2020 lesen Beate Blahy und Eberhard Henne dann im ICORA-Programm:

12.11.2020 ID: DEH-2013-08-28-02. France, Aquitaine, Lubbon, Koordinaten: 44.098 0.063, Truppgröße: 1-10. Familiengröße: unbekannt

Trana ist im Süden angekommen.

Erschienen am 7. April 2022

Text
Eva Hoffmann

Als Großstadtkind hat Eva Hoffmann von der Natur eher wenig mitbekommen. Mittlerweile lebt sie auf dem Land. So richtig auf dem Land. Im Herbst wird man vom Geschrei der Kraniche geweckt, die übers Haus ziehen. Sie wollte wissen, wohin ihre Reise geht. Späte Faszination also.

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Joseph Klingenberg
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