Wie retten wir unsere nächsten Verwandten vor uns selbst? Sollten wir ihnen besser fernbleiben? Oder zu ihnen aufbrechen? Ein Schimpansen-Forscher glaubt, die Antwort zu kennen.

Illustration
Joseph Klingenberg
Sebastian Obermeyer
Website

Text
Martin Jahrfeld

Martin Jahrfeld ist freier Journalist in Berlin. Wie sehr Affen zur Plage werden können, hat er auf Reisen schon häufiger erlebt – etwa wenn es galt, eine über das Fenster eingebrochene Primatenfamilie aus dem Hotelzimmer zu vertreiben. Dass der Homo sapiens seine Umgebung weitaus schrecklicher plagt, weiß der Autor jedoch nicht erst seit seinen Recherchen über die Schimpansen der Elfenbeinküste.

 

Wenn der Mensch in den Rückspiegel der Evolution schaut, schaut es von dort mitunter schaurig zurück. Besonders, wenn die engste Verwandtschaft in den Blick rückt. Schimpansen gelten als fiese Typen. Gewalttätig und hinterhältig. In regelrechten Todesschwadronen überfallen sie benachbarte Territorien, massakrieren gruppenfremde Männchen und manchmal selbst deren Nachwuchs. Der Mensch müsste bei diesem Blick in den Rückspiegel furchtbar erschrecken, eigentlich. Würde er das alles nicht von seinesgleichen kennen. Objects in the mirror are closer than they appear.

Der Mensch könnte noch genauer hinschauen. Er könnte in ein Flugzeug steigen und lange Stunden an die Elfenbeinküste nach Abidjan fliegen, einen Wagen mieten und Richtung Westen eine Küstenstraße nehmen, die umso löchriger wird, je länger die Fahrt dauert. Er könnte in dunkler Nacht übermüdet in einem Camp am Rande des Taï-Nationalparks eintreffen, in dem Gelbfieber und Malaria drohen. So wie das immer mehr seiner Artgenossen machen. Aber warum? Warum etwas besichtigen, was uns doch offenbar so ähnlich ist?

Weil Reisen im Idealfall nicht nur bildet, sondern auch Demut lehrt. Weil der Mensch Tiere besser verstehen kann, wenn er sie in Freiheit erlebt. Weil man hier mit etwas Glück Leute wie Christophe Boesch trifft, die erläutern, warum die Story von der äffischen Mordlust kaum mehr ist als Viertelwahrheit – Ausdruck anthropozentrischer Hybris, mit der der Mensch gern alles Tierische denunziert und herabsetzt. Der französisch-schweizerische Biologe hat sein Berufsleben nahezu komplett mit der Erforschung westafrikanischer Schimpansen verbracht und zeichnet ein deutlich komplexeres Bild. Der Forscher berichtet von Schimpansen, die ihren Artgenossen die von Raubkatzen geschlagenen Wunden lecken, fürsorglichen Alphamännern, die Waisenkinder adoptieren, cleveren Weibchen, die ihren Nachwuchs mit Werkzeugen das Nüsseknacken lehren.

 

Frustration statt Fortschritt

Wenn der Wissenschaftler nicht durch den Dschungel der Elfenbeinküste streift, trifft man ihn meist in einem kleinen Büro des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Boesch arbeitet hier seit 1997, inzwischen ist er emeritierter Direktor des Hauses. Im Arbeitszimmer des Forschers stapeln sich an diesem Vormittag zahllose Schuhkartons mit Wanderstiefeln, die auf den Weitertransport nach Afrika warten. Sie werden von Boeschs Mitarbeiter:innen in der Elfenbeinküste bereits erwartet. Wer mit Schimpansen im Dschungel Schritt halten will, geht besser mit gutem Schuhwerk an den Start.

Den Primaten physisch näherzukommen sei ziemlich mühsam, sagt Boesch, jedoch nicht so mühsam, wie Westlern das Wesen des Dschungels zu erklären. »Europäer haben in der Regel nicht die geringste Vorstellung davon, was einen Urwald ausmacht. Der Charakter eines tropischen Regenwaldes lässt sich mittels Büchern kaum vermitteln. Auch Filme taugen wenig, weil die Zuschauer außer Blättern und Nebel nicht viel sehen.«

Echte Erkenntnis bietet der Feldversuch: rein in den Dschungel, den Spuren folgen. Boesch hat das in vierzig Jahren etliche Male auf sich genommen, mit stoischer Geduld. Bevor Schimpansen eine forschungsrelevante Nähe zulassen, vergehen fünf bis zehn Jahre, sagt Boesch. Weil die Tiere bis heute von den Menschen bejagt werden, ergreifen sie beim leisesten Anschein menschlicher Gegenwart die Flucht. Der Abstand lässt sich nur in vorsichtigen, winzigen Schritten verkleinern. »Das kann frustrierend sein«, sagt Boesch. »In den ersten Jahren kommt man ihnen überhaupt nicht näher. Sie sind stets außer Sichtweite.«

Die Tourist:innen im Taï-Nationalpark hingegen dürfen den über Jahrzehnte errungenen Fortschritt im Super-Zeitraffer erleben. Nach zwanzig Jahren Arbeit sind inzwischen einige Schimpansen-Gruppen an Menschen gewöhnt. Bei den Wanderungen können die Tourist:innen den Tieren auf bis zu sieben Meter nahe kommen, erzählt Boesch – Primatenbeobachtung unter forschungsnahen Bedingungen.

Aber: Passt das denn überhaupt zusammen, Urlaub und Wissenschaft?

Christophe Boesch stand der touristischen Vermarktung seiner Forschungsarbeit lange ablehnend gegenüber. Inzwischen hat er seine Meinung jedoch geändert. Er vermutet, dass noch etwa 500 Schimpansen im Park leben. In einer perfekten Welt würde man die wohl sich selbst überlassen, doch das 21. Jahrhundert erfordere andere Konzepte, findet Boesch. Die Mitarbeiter:innen seiner World Chimpanzee Foundation (WCF) kooperieren mit Touristikfirmen wie dem Leipziger Veranstalter Akwaba Afrika, der zweiwöchige Reisen an die Elfenbeinküste inklusive Schimpansen-Beobachtungen ab 4.500 Euro anbietet. Boesch sieht die kommerzielle Vermarktung seines Lebenswerks bei dem Leipziger Unternehmen gut aufgehoben. Die Eigentümer sind studierte Afrikanisten und – so glaubt Boesch – kennen viele ökologische Probleme auf dem Kontinent aus allernächster Nähe. Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit rangieren auf der Unternehmensagenda weit oben.

Wer als touristischer Dienstleister ökologisch glaubwürdig sein will, darf der Kundschaft einiges abverlangen. Um die Affen zu schützen, darf der Park von Tourist:innen nur mit Masken und Schutzkleidung betreten werden, nicht erst seit der Coronapandemie. Es gilt, die Wildnis vor den Menschen zu verteidigen, nicht umgekehrt. Spucken, Urinieren oder gar Essensreste zu hinterlassen sind ebenso streng verboten wie die Annäherung an die Tiere auf weniger als sieben Meter. Menschliche Keime können für Affen rasch gefährlich werden. Als die Schutzmaßnahmen noch weniger streng waren, litten viele Tiere unter Atemwegserkrankungen. Seit auf Masken, spezielle Kleidung, Abstand und Schnelltests geachtet wird, sind die Primaten gesünder.

Ohne Wald keine Schimpansen

Aber wäre es nicht sinnvoller, die Emissionen der Langstreckenflüge zu vermeiden, die Tiere über Dschungel-Webcams zu bestaunen und reiche Europäer:innen zu Spenden aufzufordern? So einfach sei es leider nicht, sagt Boesch. Langfristigen Schutz für Nationalpark und Schimpansen könne es nur geben, wenn auch die Menschen vor Ort eingebunden seien – zum Beispiel durch Tourismus. Mit Sorge blickt der Forscher auf die umfangreichen Rodungen, die in weiten Teilen der Elfenbeinküste stattfinden. Mittels großräumiger Kakao-, Kaffee- und Palmölplantagen setzt das Land auf Agrarexport in großem Stil – eine Entwicklung, die in vierzig Jahren mindestens 70 Prozent des Urwalds vernichtet hat und zu Bodenerosion und Wassermangel führt.

Boesch und sein Institut setzen auf Bündnisse mit der Bevölkerung. »Die Menschen erleben seit vierzig Jahren, wie sich die Verhältnisse stetig verschlechtern. Sie haben gelernt, längerfristig zu denken. Wenn man als Umweltschützer mit guten Argumenten an sie herantritt, wird man auch angehört und verstanden«.

Den Bürokrat:innen in der Hauptstadt hingegen seien ökologische Zusammenhänge nur schwer zu vermitteln. Weil sich die Politik nur für Zahlen und Wachstumsdaten interessiere, müsse die Bedeutung des Nationalparks als Wirtschaftsfaktor klar werden. »Naturnaher Tourismus unter wissenschaftlicher Begleitung ist der richtige Weg, weil wir auf diese Weise viele Jobs für Menschen in entlegenen Dörfern schaffen. Je mehr Touristen wir haben, desto mehr Unterstützung erhalten wir von der Regierung«, erklärt Boesch und verweist auf Entwicklungen in Ländern wie Uganda. Die touristische Vermarktung, die Ugandas Berggorillas seit vielen Jahren erleben, hat nicht nur die Region stabilisiert. Sie brachte der einheimischen Bevölkerung auch das Kapital und die Motivation, um intensive Konservierungsmaßnahmen voranzutreiben oder zu unterstützen. Die Population der Gorillas in der Region, die auch Teile Ruandas und des Kongos umfasst, ist damit gewachsen: von 680 im Jahr 2008 auf rund 1.000 Tiere. Angesichts dieses Erfolges empfehlen Organisationen wie der World Wide Fund For Nature (WWF) Ugandas Tourismusstrategie als Modell für andere Nationalparks. Auch in Ländern wie Gabu oder dem Kongo könnten gefährdete Primatenpopulationen mittels touristischer Projekte geschützt werden, betont der WWF. Und im Taï-Nationalpark der Elfenbeinküste.

Und was sieht Affenforscher Boesch beim Blick in den menschlichen Rückspiegel? Er macht sich wenig Illusionen: »Der Mensch ist ein Tier wie alle anderen. Das heißt, er ist Egoist. In der Hauptsache interessiert er sich für sich selbst. Aber vieles wäre schon gewonnen, wenn wir uns nicht für besser halten würden als die Schimpansen.«

Erschienen am 7. April 2022

Illustration
Joseph Klingenberg
Sebastian Obermeyer
Website

Text
Martin Jahrfeld

Martin Jahrfeld ist freier Journalist in Berlin. Wie sehr Affen zur Plage werden können, hat er auf Reisen schon häufiger erlebt – etwa wenn es galt, eine über das Fenster eingebrochene Primatenfamilie aus dem Hotelzimmer zu vertreiben. Dass der Homo sapiens seine Umgebung weitaus schrecklicher plagt, weiß der Autor jedoch nicht erst seit seinen Recherchen über die Schimpansen der Elfenbeinküste.