Cyborgs bevölkern die Science-Fiction. Doch Hybride aus Fleisch und Technik kommen in der Realität an. Was ist schon möglich – was bleibt Zukunftsmusik?

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Manuela Lenzen

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MED-EL Elektromedizinische Geräte Gesellschaft m.b.H.

Der Mensch will besser werden. Soweit die Zeugnisse der Geschichte zurückreichen, bastelt er an sich herum, trainiert, kleidet und schmückt sich, behilft sich mit Waffen und Werkzeugen. Lange wurde er deswegen als Mängelwesen bezeichnet. „Mein Auto ist ein Mängelwesen, ich bin ein Entwicklungswesen“, sagt dagegen Helge Ritter, Professor für Neuroinformatik an der Universität Bielefeld. Er erforscht die Steuerung von Händen: Menschenhänden und Roboterhänden. Und bringt auf den Punkt, was den Menschen wirklich ausmacht: der Drang, es immer besser zu machen, auch mithilfe der Technik. Cyborg, cybernetic organism, nennt die Science-Fiction die Kombination von Organismus und Technik. Die Wissenschaft hält zu diesem Begriff gerne Distanz, schiebt ihn lieber denen zu, die den Menschen nicht heilen, sondern verbessern wollen. Doch langsam, aber sicher holt die Wissenschaft die Science-Fiction ein und der Mensch die Technik in seine Kleidung, auf seine Haut, in seinen Körper. Um verloren gegangene Fähigkeiten zu ersetzen, die vorhandenen zu verbessern oder auch, um ganz neue zu schaffen.

RFID: Der kanadische Biohacker Amal Graafstra hat sich zwei der Sender-Empfänger-Systeme eingesetzt. Damit öffnet er Türen, loggt sich in seinen Computer ein und startet sein Motorrad.

Sie sind längst unter uns

Bezeichnet man auch Menschen mit einem aktiven Implantat als Cyborgs, einem, das im Körper selbstetwas tut, sind sie längst unter uns: Menschen mit Herzschrittmacher, weltweit etwa 300 000 Personen mit einem Cochlea-Implantat, das die Hörfähigkeit verbessert, um die 150 000 Menschen mit implantiertem Tiefenhirn- und 45 000 mit einem Vagus-Nerv-Stimulator. Dazu kommen eine schwer abschätzbare Anzahl von Personen mit intelligenten Prothesen, von Patienten, die in vorklinischen und klinischen Studien ganz neue Implantate erproben und eine ebenfalls unbekannte Anzahl von Do-it-yourself-Bastlern, die weder auf die CE-Zeichen der Prüfanstalten warten, noch sich auf die Wiederherstellung verloren gegangener Körperfunktionen beschränken möchten: Sie nehmen selbst Skalpell, Nadel und Faden zur Hand, um sich Magnete oder RFID-Chips zu implantieren. Im Oktober 2016 sind Menschen mit technischen Assistenzsystemen erstmals in einem Sportwettkampf gegeneinander angetreten: dem von der ETH Zürich organisierten Cybathlon.
Bei den meisten der im Körper getragenen technischen Systeme geht es um die Stimulation von Nerven oder das Messen ihrer Aktivität. Einige solcher Systeme sind bereits zugelassen, viele andere werden gerade entwickelt. „Wenn es irgendwo im Körper einen Nerv gibt, den man kontaktieren kann, versucht sicher irgendwo auf der Welt ein Forscher, etwas damit zu machen“, sagt Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik an der Universität Freiburg.

Quer durch den Körper der Zukunft

Cochlea-Implantat: Die Hörprothese stimuliert direkt den Hörnerv.

Ließe sich ein Mensch mit all diesen Systemen ausstatten und würden wir uns Röntgenbilder davon ansehen, wären an den verschiedensten Stellen seines Körpers Strukturen zu entdecken, die sich deutlich von der biologischen Materie abheben: Schauen wir von Kopf bis Fuß auf den Cyborg der Zukunft.
Ganz oben im Kopf, auf oder unter der Hirnhaut oder auch ein Stück weit im Gehirngewebe sehen wir das erste Röntgenbild: flexible, mit Elektroden bestückte Folien. „Diese Implantate sehen aus wie kleine Nadelkissen, sind aber extrem dünn, weniger als ein Zehntel eines Haardurchmessers, das ist nur minimal invasiv für das Gehirn“, erklärt Maurits Ortmanns, der an der Universität Ulm das Institut für Mikroelektrotechnik leitet. Dort arbeiten die Forscher daran, die Elektronik für aktive Implantate zu verbessern. Diese Miniaturnadelkissen sind Teil einer Hirn-Computer-Schnittstelle. Sie können die neuronale Aktivität registrieren und zum Teil auch stimulieren. Mit ihrer Hilfe können gelähmte Menschen zum Beispiel einen Roboterarm oder ein Computerprogramm steuern.

„Das Ziel wäre ein System, das selbststätig erkennt, wenn sich ein epileptischer Anfall im Gehirn aufbaut und mit einer gezielten Stimulation der betroffenen Region den Ausbruch des Anfalls verhindert“

Die ins Gehirn führenden Elektroden für die Tiefenhirnstimulation, deren elektrische Pulse das Gehirn aus festgefahrenen Mustern aufstören sollen, präsentieren sich als dünne, gerade Linien. Die Tiefenhirnstimulation ist in Deutschland für die Behandlung der Parkinson-Erkrankung, von Zwangsstörungen und Epilepsie zugelassen, weitere Einsatzmöglichkeiten werden untersucht. Für die Behandlung von Epilepsie wünschen sich die Forscher ein sogenanntes geschlossenes System: „Das Ziel wäre ein System, das selbststätig erkennt, wenn sich ein epileptischer Anfall im Gehirn aufbaut und mit einer gezielten Stimulation der betroffenen Region den Ausbruch des Anfalls verhindert“, erklärt Stieglitz. Ein erstes Gerät dieser Art ist in den USA bereits zugelassen, allerdings reagiert es nicht nur auf sich entwickelnde Anfälle, sondern stimuliert fast die ganze Zeit.
Wandern wir außen am Schädel ein Stück Richtung Ohr, zeichnet sich das Cochlea-Implantat ab, das akustische Reize direkt an den Hörnerv übermittelt. Der Weg führt weiter in Richtung Auge, hier erscheint das Retina-Implantat als heller Streifen, von dem aus ein Kabel zu einem Viereck im Hinterkopf führt. Für ein Retina-Implantat werden Sensoren, verpackt in eine Art Frischhaltefolie, auf oder unter die Netzhaut gelegt. Sie wandeln die Reize, die sie aufnehmen, in Signale um, die an intakte Nervenzellen weitergeleitet werden. Dies ermöglicht manchen blinden Menschen visuelle Orientierung „Die besten können Landschaften erkennen und auch, ob sie Fanta oder Cola im Glas haben“, erläutert Stieglitz. Nun verlassen wir den Schädel und schon im Nacken begegnen uns weitere Drähte: wir folgen ihnen den Hals hinunter bis unter das Schlüsselbein. Dort sitzt der Impulsgeber für den Vagus-Nerv-Stimulator. Stimulationen dieses großen Hirnnervs, der zu den Organen in Brust und Bauch führt, senken die Häufigkeit von Anfällen bei Epilepsie, den Blutdruck und wirken wahrscheinlich auch auf das Immunsystem.
Dem Herzschrittmacher als altem Bekannten schenken wir nur einen flüchtigen Blick und sehen erst wieder genau hin bei zwei Kabeln, die die Wirbelsäule entlanglaufen und in einem Kästchen über dem Hüftknochen verschwinden: Elektrische Stimulationen des Rückenmarks werden gegen chronische Schmerzen eingesetzt. Forscher konnten damit auch erste Erfolge bei der Therapie von Menschen mit Querschnittslähmung erzielen: Versuchspersonen konnten ihre Beine wieder ein wenig bewegen.

Retina-Implantat: Das Gerät übernimmt bei Patienten der degenerativen Augenerkrankung Retinopathia pigmentosa die Funktion der Netzhaut.

„Intelligent“ oder „aktiv“ genannte Hand-, Arm- oder Fußprothesen sind auch ohne Röntgenbild zu erkennen. Wir können allerdings betrachten, wie ein Kabel an einem funktionsfähigen Nerv im Amputationsstumpf befestigt ist und durch die Haut nach außen verschwindet. Dieser Nerv hat zum Beispiel einmal in den Mittelfinger geführt: Das kann der Patient angeben, wenn das Nervenende vorsichtig gereizt wird. Draußen kommt ein Stecker an das Kabel und in den Stecker das Kabel eines Drucksensors im Mittelfinger einer Prothese. So nimmt der Patient die Reizung des Drucksensors im künstlichen Mittelfinger tatsächlich im Mittelfinger wahr. Solche berührungssensitive Prothesen sind ein großer Fortschritt, aber: „Letztlich ist das ein Behelf. Wir hätten es lieber, wenn Prothese und Stumpf drahtlos kommunizieren könnten“, beschreibt Stieglitz ein Forschungsziel. Dann könnte der Patient seine Prothese anziehen und alles Weitere geschähe automatisch, durch die Haut hindurch.
Der Cyborg der Zukunft könnte darüber hinaus noch zahlreiche andere Implantate beherbergen. Eine Kontaktlinse, die den Blutzuckergehalt kontrolliert, Kapseln, die Medikamente abgeben, einen Chip, der über Jahre die Verhütung regelt, ein Zahnimplantat, das die Feuchtigkeit in der Mundhöhle misst und die Speichelproduktion stimuliert, injizierbare Sensoren, die Tumore überwachen. Die schwedische Bahngesellschaft hat jüngst beschlossen, dass man mit unter der Haut getragenen RFID Chips Fahrkarten bezahlen können soll. Das spare den Umweg über das Handy.

Immer kleiner, leistungsfähiger, stabiler

Bevor all das realisierbar ist, haben die Forscher allerdings noch einige praktische Probleme zu lösen, denn der Organismus ist für Elektronik eine lebensfeindliche Umgebung. Der Körper neigt dazu, Implantate aufzuessen“, sagt Stieglitz. Wenn Bindegewebszellen, die elektrisch sehr gut isolieren, um die Implantate herumwachsen, ist es um die Signalübertragung geschehen. Also müssen die Implantate winzig sein und die Materialien, in die sie verpackt sind, zugleich verträglich und dicht genug, um die Elektronik vor Feuchtigkeit zu schützen. „Der Medianus-Nerv im menschlichen Arm zum Beispiel hat drei Millimeter Durchmesser. Unsere Elektroden haben 20 Mikrometer, das ist etwa ein Viertel des menschlichen Haars, und sie sind 0,2 Millimeter breit“, berichtet Stieglitz.

Die Forscher gehen davon aus, dass der Cyborg der Zukunft durchaus mehrere Implantate zugleich im Körper tragen könnte.

Ebenso schwierig: Die Reize, die die Elektroden messen sollen, sind sehr schwach. „Hier geht es um Millionstel Volt“, sagt der Ulmer Professor Ortmanns. Sollen sie aber Nerven stimulieren, benötigen sie viel mehr Kraft: „Dazu braucht man einige Volt, dazwischen liegen etwa sieben Größenordnungen. Das macht es technisch für uns sehr spannend.“ Zudem müssen die Implantate zuverlässig mit Energie versorgt werden, dürfen sich nicht erwärmen und müssen große Datenmengen nach außen transportieren. „Schnittstellenelektronik ist anspruchsvoll“, stellt Ortmanns lakonisch fest. Man könnte auch sagen, es ist Hochleistungssport für Hightech-Tüftler.
Die Forscher gehen davon aus, dass der Cyborg der Zukunft durchaus mehrere Implantate zugleich im Körper tragen könnte. Zuerst ist allerdings zu klären, wie diese zusammen oder nebeneinander arbeiten können, ohne sich zu stören. Besonders in der Brustmuskulatur könnte es eng werden. Dort werden die Impulsgeber der Stimulatoren gern untergebracht. Ideal für Menschen mit Querschnittslähmungen etwa wäre ein System, das die Signale des motorischen Cortex im Gehirn verwenden kann, um Bewegungen der Extremitäten zu steuern. „Sie können aber in einem gelähmten Menschen keinen Kabelbaum verlegen“, sagt Ortmanns. „Praktikabler dürfte sein, dass ein Implantat im Gehirn die Signale aufnimmt und diese dann über ein drahtloses System zu Implantaten in den Muskeln weiterleitet, die diese dann stimulieren.“ Aber das ist Zukunftsmusik.

Können wir künstlichen Instinkt implantieren?

Oder Sinn für Kunst? Die Künstlerin Susanna Hertrich verfolgt noch einen anderen Gedanken: Unsere Welt ist so komplex geworden, dass wir mit unseren Sinnesorganen und Denkweisen nicht mehr gut zurechtkommen. Warum etwa fürchten die meisten Menschen Flugzeugabstürze mehr als das viel größere Risiko einer Autobahnfahrt? Mit Erklärungen allein ist dem offenbar nicht beizukommen. Man muss ein Risiko fühlen, um es ernst zu nehmen. „Wir haben die Technologie, um mit solchen Problemen umzugehen. Da wäre es doch schön, wenn man die nutzen könnte, um ein künstliches Instinktverhalten zu schaffen“, sagt Hertrich. Als Künstlerin geht es ihr um Bilder und Ideen, nicht um Implantate und Start-ups. Doch sie arbeitet immer wieder mit Wissenschaftlern zusammen, die sich etwa damit befassen, wie Emotionen über die Stimulation der Haut ausgelöst werden können oder wie man Menschen mit einem Sinn für elektrische Felder ausstatten könnte.
Doch trotz faszinierender Technik bleibt es dabei: Ein Implantat ist ein Fremdkörper im Organismus, und jede Operation birgt ein Risiko. Schon deshalb machen Ärzte niemanden ohne Not zum Cyborg. Und längst nicht jeder Patient kann sich mit der Devise „am besten alles unter Putz“ anfreunden. Viele greifen, wenn möglich, lieber auf nicht-invasive Verfahren zurück. Roboterarme und Computerprogramme lassen sich, wenn auch nicht so präzise, über ein außen am Kopf getragenes EEG-Gerät steuern und auch die Nervenaktivität in der Muskulatur kann man über an Arm oder Bein getragene Manschetten nicht-invasiv ableiten.
„Letztlich geht es darum, wie wir uns im 21. Jahrhundert als Menschen definieren“, sagt die Künstlerin Hertrich. Wahrscheinlich immer noch als Entwicklungswesen, trotz einiger Technik unter der Haut.

Erschienen am 18. März 2018 

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