Schöner, schlauer, fitter und gesünder durch Beeren und Blätter aus fernen Ländern? Schön wär’s – Superfoods sind auch nur Essen. Und super gesunde Sachen wachsen auch bei uns.

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Bertram Weiß

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Andreas Martini

 

Mein Nachbar brachte mir neulich ein kleines Pflänzchen. Ziemlich unscheinbar wirkten die grünen, spitzen Blättchen in ihrem viel zu großen Topf. Seine Tante schwöre darauf, sagte der Nachbar. Deshalb solle ich auch einen Ableger haben. Es komme irgendwo aus Japan, raunte er, und mache unsterblich. „Ein echtes Superfood.“ Da war es also wieder: dieses Wort, dem man heute in nahezu jedem Lebensmittelladen begegnet, in Büchern, auf Blogs und in Zeitschriften. Dieses Wort, das auf Verpackungen von Chia-Samen und Goji-Beeren steht, von Alfalfa-Sprossen und Maca-Pulver. Und es schreit: Hier bekommst Du nicht nur etwas Gesundes zu essen – hier gibt’s noch viel mehr!

Aber was man da bekommt, ist gar nicht so einfach zu sagen. Nirgends ist klar definiert, welche Kriterien eine Frucht oder ein Gemüse, ein grünes Blättchen oder ein bräunliches Körnchen erfüllen muss, um „super“ zu sein. Es gibt keine rechtliche Festschreibung des Begriffs, keinen wissenschaftlichen Konsens über seine Bedeutung. Ob Journalist, Blogger, Ernährungsberater: Jeder kann den Begriff auslegen, wie es ihm gerade passt.

Doch wenn man die Angebote betrachtet, haben die meisten sogenannten Superfoods offenbar zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Exotisch muss es klingen. Acai, Amaranth und Teff, Aronia, Spirulina und Quinoa. Allein die Namen verwandeln eine Mahlzeit in etwas Magisches. Noch besser, wenn die Wunderbeere oder das Zauberkorn schon seit Jahrtausenden die Bewohner ferner Länder beglückt, von Azteken, Inkas oder alten Ägyptern verspeist wurde.

Und zweitens, meist noch wichtiger: Das Superfood muss eine Nährstoffbombe sein, es muss nicht nur satt machen und schmecken, sondern auch außergewöhnlich gesund sein; etwa vor Herzinfarkt bewahren, vor Krebs, Schlaganfall, Demenz, Impotenz, Depression.

Die Heilsversprechen der Anbieter locken dankbare Verbraucher. Denn längst dient Ernährung vielen nicht mehr nur der Sättigung oder dem Genuss. Sie muss zugleich Krankheiten fernhalten und die Leistung steigern. Nahrungsmittel sollen Prophylaxe und Therapie zugleich sein, Doping und Heilmittel. Gegessen wird, was produktiver macht, erholsamen Schlaf fördert, die Konzentration steigert. Kurz: Ernährung muss optimieren.

Essen als Mittel der Selbstentfaltung
Dieser Drang gilt Wissenschaftlern längst als Symptom eines tief greifenden Wandels in den westlichen Gesellschaften: Mehr denn je muss der Einzelne dafür sorgen, klüger, schöner, gesünder und erfolgreicher zu werden. Oder, wie es die israelische Soziologin Eva Illouz ausdrückt: „Die Selbsthilfe ist nicht nur ein Marktsegment, sondern ein völlig neuer kultureller Modus“.

Aber können Nahrungsmittel tatsächlich derartige Superkräfte entfalten? Gibt es Knollen, Beeren oder Nüsse, die so reich an besonders wohltuenden Substanzen sind, dass sie uns zu einem besseren Leben verhelfen?

Kein Löffel Chia-Samen verhindert einen Herzinfarkt, keine Handvoll Goji-Beeren bewahrt vor einem Tumor. Und es gibt kein Nahrungsmittel, das eine lebensnotwendige Substanz exklusiv enthält. Allerdings gehen viele Behauptungen der Superfood-Enthusiasten durchaus auf Studien seriöser Wissenschaftler zurück. Doch die Forscher formulieren ihre Schlussfolgerungen meist erheblich zurückhaltender als jene, die ihr Geschäft darauf bauen. Denn wenn die Wissenschaftler eine bestimmte Substanz in besonders großer Menge in einem Nahrungsmittel finden und Analysen zugleich zeigen, dass diese Substanz eine bestimmte Wirkung haben kann, so ist noch keineswegs klar, ob sich diese auch in dem äußerst komplexen Gefüge des menschlichen Körpers entfaltet.

Zudem beruhen viele wissenschaftliche Erkenntnisse auf Tierversuchen oder Laborexperimenten, die sich nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen lassen. Und selbst wenn die Wissenschaftler menschlichen Probanden Lebensmittel verabreichen, so sind die Ergebnisse nicht unbedingt eindeutig. Zum Beispiel kann die Auswahl der Teilnehmer zu gering sein, um ein repräsentatives Ergebnis zu erzielen. Eine wissenschaftlich überzeugende Aussage über die Wirkung eines ganz bestimmten Nahrungsmittels lässt sich daher meist nur dann treffen, wenn die Ergebnisse einer Vielzahl von Studien berücksichtigt werden.

Auch auf heimischen Äckern wachsen Superfoods
Für viele Lebensmittel gibt es immerhin vielversprechende Hinweise darauf, dass sie uns in besonderem Maße nutzen. Viele davon müssten nicht teuer importiert werden. Man findet sie schon seit Langem in Deutschland. Zu dumm nur, dass sie nur halb so magisch klingen wie die Superfood-Exoten. Da ist zum Beispiel: Kohl. Alle Sorten des Blattgemüses sind voll von Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen, lebensnotwendigen Spurenelementen und Substanzen, die vor verschiedenen Zivilisationsleiden bewahren.

Gesundheitsbewusste Selbstoptimierer haben vor allem den Grünkohl für sich entdeckt. Zwar mögen sie vielleicht nicht die Variante mit Pinkel, umso mehr aber Salate, Suppen oder Smoothies. Auch Weißkohl ist ein heimisches Superfood, vor allem in einer bestimmten Form: als Sauerkraut. Alle gesunden Nährstoffe sind darin für Monate optimal konserviert, etwa der hohe Gehalt an Vitamin C. Die Milchsäurebakterien, die bei der Herstellung die fein geschnittenen Kohlblätter fermentieren, stimulieren obendrein das Immunsystem und wirken sich positiv auf die Darmflora aus.

Ein anderes, oft vergessenes Superfood sind Nüsse. Sie gehören zu den fett- und kalorienreichsten Lebensmitteln überhaupt. Das klingt erst einmal nicht so gut. Dennoch sind sie überaus gesund. Denn ein großer Anteil des Fetts besteht aus ungesättigten Fettsäuren, die die Funktion-
der Gefäße verbessern und so Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen.

Die Liste könnte man lange weiterführen: Heidelbeeren liefern Anthocyane, die Entzündungen im Körper hemmen und Zellen vor Schäden bewahren; Rote Bete, die so viele verschmähen, bietet neben reichlich Vitaminen und Mineralstoffen auch Folsäure, die die Bildung von Körperzellen unterstützt und eine wichtige Rolle für die Erbsubstanz spielt.

Und so manches exotische Superfood lässt sich für wenig Geld durch ein heimisches Produkt ersetzen. Chia-Samen zum Beispiel: Vor wenigen Jahren wurden nur 20 Kilogramm der Wunderkörnchen nach Deutschland importiert, zwei Jahre später waren es mehr als 664 Tonnen. Da scheinen wahrhaftige Superkräfte des Lebensmittelmarketings am Werk zu sein. Denn an den Samen allein kann es nicht liegen. Die werden vor allem wegen ihres hohen Anteils an mehrfach ungesättigten Fettsäuren gepriesen. Aber die stecken auch reichlich in profanen Leinsamen.

Heimlicher Wunsch: Absolution für die kleinen Sünden
Eine Handvoll Leinsamen auf dem Müsli also, ein Kohl-Smoothie, ein Rote-Bete-Salat – und alles wird gut. Herrlich, dann sind auch Fastfood und Fertiggerichte, Rauchen und Alkohol weniger schlimm. Ist es so einfach, Thomas Elrott?

„Superfoods sind Ausdruck für den Wunsch, mit nur einem Nahrungsmittel alle anderen Sünden ausgleichen zu können“, sagt der Ernährungspsychologe von der Georg-August-Universität Göttingen. „Aber viele Menschen vergessen schnell, dass nicht ein einzelnes Lebensmittel für Gesundheit sorgen kann, sondern nur die komplette Ernährung, ja der komplette Lebenswandel.“

Bevor wir zu Superfoods greifen, ob zur heimischen Heidelbeere oder der Acai-Beere aus Übersee, sollten wir also den Verstand einschalten, die Versprechen der Produzenten hinterfragen, überlegen, ob exotische Superfoods den meist hohen Preis und die schlechte Ökobilianz wirklich wert sind. Und, noch wichtiger: Uns um eine dauerhaft vielseitige Ernährung mit reichlich frischem Obst, Gemüse und Vollkornprodukten bemühen.

Doch das ist kompliziert. Und das geht nicht, zumindest nicht in einem Leben, das ohne unser Zutun immer komplizierter, immer anspruchsvoller, immer schneller zu werden droht. Kein Wunder also, dass manche Ernährungsenthusiasten schon an einer neuen Generation von Superfoods arbeiten: Einer Nahrung, die nicht nur supergesund, sondern auch noch supersimpel ist und alles enthält, was der Körper braucht.

Der Softwarespezialist Rob Rhinehart etwa hat die Idee der boomenden Smoothie-Kultur konsequent weitergedacht. Wie wäre es, wenn ein einziger Shake jegliches weitere Essen ersetzen könnte? Wenn eine Flüssigkeit einem alles böte, was man braucht? Mit einem millionenschweren Unternehmen hat Rhinehart das Pulver „Soylent“ entwickelt. Der Name ist eine Worterfindung aus soy (engl. für Soja) und lentil (engl. für Linse). Aber auf morbide
Weise erinnert er auch an den Science-Fiction-Film „Soylent Green“, in dem Menschen getötet und zu einer Art Kraftfutter verarbeitet werden.

Längst ist Rhinehart nicht mehr der Einzige, der an der Optimierung einer Art Muttermilch für Erwachsene arbeitet. Und schon sind andere einen Schritt weiter: Manche Techniker arbeiten an 3D-Druckern, in die man genau solche Superpulver einfüllt – und dann seine Mahlzeit ausdruckt. Ernährung, so viel scheint mir eindeutig, enthält die Superkraft, die Gedanken fliegen zu lassen.

Und so träumte auch ich beim Anblick des Pflänzchens meines Nachbarn schon von einer Entdeckung, von einem neuen, exotischen Superfood, von Online-Shops und Pop-up-Stores in Einkaufscentern. Ich hegte die Blättchen, düngte, goss. Und während das Gewächs rasend schnell größer wurde, suchte ich nach Informationen.

Das Ergebnis: Es erfüllt alle Kriterien eines Superfoods. Sein Name klingt unwiderstehlich exotisch und es gilt als sagenhaft gesund. Jiaogulan, sprich Dschiau-gu-lan, soll die Durchblutung stärken und die Blutbildung unterstützen, das Immunsystem stimulieren, Übergewicht reduzieren, Diabetes verhindern, Krebs hemmen, Stress abbauen.

Nichts, was dieses Wunderkraut nicht können soll. Ärgerlich nur, dass viele Superfood-Fans es schon vor mir entdeckt haben.

Erschienen am 18. März 2018 

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Bertram Weiß

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