Die Frauen hierzulande sprechen heute mit viel tieferer Stimme als in früheren Jahrzehnten. Ist das nun Emanzipation – oder gerade das Gegenteil davon?
160 bis 170 Hertz? Für die mittlere Sprechstimme der Frauen? Das konnte eigentlich nicht sein. Der Wert war sehr viel niedriger, als er in den Lehrbüchern steht. »Wir haben einen richtigen Schreck gekriegt«, erinnert sich Michael Fuchs vom Universitätsklinikum Leipzig an den Moment vor gut fünf Jahren, als er die Ergebnisse das erste Mal sah. Fuchs und seine Kolleginnen hatten rund 2.500 Frauen und Männer zwischen 40 und 79 Jahren aus der Region Leipzig im Studio einsprechen lassen: Alle sollten von 21 an aufwärts zählen, die Forscherinnen maßen anschließend die Sprechfrequenz – so bezeichnet man die Anzahl der Schwingungen der Stimmlippen pro Sekunde. Je mehr, desto höher ist der Ton. Gemessen wird das in Hertz.
Die Ergebnisse: 100 bis 120 Hertz für die Männer, das war genau wie erwartet. Die Tonhöhe der Frauen sollte, so die Lehrmeinung, zwischen 200 und 220 Hertz liegen. Doch die Werte von Fuchs lagen eine halbe Oktave niedriger. Ein Messfehler, dachte er und überprüfte die Ergebnisse noch mal. Und noch mal. Und noch mal. Aber es blieb. Er folgerte daraus: Frauen sprechen heute im Durchschnitt mit einer deutlich tieferen Stimme als noch vor 20, 30 Jahren. Eine kleine Sensation.
»Die Tonhöhe der Frauen sollte, so die Lehrmeinung, zwischen 200 und 220 Hertz liegen. Doch die gemessenen Werte lagen eine halbe Oktave niedriger.«
Unsere Stimme ist etwas sehr Individuelles. Sie überschlägt sich, wenn wir aufgeregt sind oder klingt brüchig, wenn wir emotional mitgenommen sind. So spiegelt die Stimme unsere Stimmung wider. Auch sprechen wir je nach Situation unterschiedlich, mit einem kleinen Kind etwa viel höher als mit einem Erwachsenen. Selbst wenn wir nur ein bisschen lauter reden, steigt unsere Tonhöhe um ein paar Hertz. Wir variieren unsere Stimmlage also ständig. Doch jeder Mensch hat biologische Faktoren, welche die Bandbreite dafür festlegen.
Die Tonhöhe ist in erster Linie abhängig von den Stimmlippen im Kehlkopf, umgangssprachlich heißen sie auch Stimmbänder. Wenn wir Luft durch sie pressen, bringen wir sie zum Schwingen – und erzeugen so einen Ton. Und der ist umso tiefer, je länger und dicker die Stimmlippen sind. Im Kindesalter gibt es keine großen Unterschiede zwischen Mädchen- und Jungenstimmen. Das ändert sich, wenn in der Pubertät die Produktion des Hormons Testosteron bei Jungen sehr viel stärker zunimmt als bei Mädchen. Testosteron lässt Kehlkopf und Stimmlippen wachsen. Das macht sich als Stimmbruch bemerkbar. Es gibt ihn bei beiden Geschlechtern, bei Jungen ist er sehr viel ausgeprägter.
Auch in späteren Jahren kann die Stimme noch tiefer werden. Rauchen etwa erzeugt eine chronische Entzündung der Stimmlippen. Sie lagern Wasser ein und schwingen dadurch anders. Sie klingen tiefer, heiserer. Deshalb hat Michael Fuchs nachgeschaut, ob seine Probandinnen überdurchschnittlich viel rauchen. Das war nicht der Fall. Auch evolutionäre Entwicklungen, etwa dass sich die Kehlköpfe der Frauen verändert haben, schließt er aus: »So etwas dauert Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende.« Den Hormonstatus seiner Probandinnen hat er ebenfalls überprüft. Auch hier keine Auffälligkeiten.
»Wir passen unsere Stimme den Erwartungen der Gesellschaft an.«
Dass er neben den Stimmaufzeichnungen über solche Gesundheitsdaten verfügt, nennt Fuchs einen Glücksfall. »Unsere Forschung ist Teil einer umfassenden Langzeitstudie zu Zivilisationskrankheiten«, sagt er. Er untersucht, inwieweit sich Erkrankungen wie Depressionen oder Demenz auch an der Stimme erkennen lassen. Eigentlich wollte er mit der Messung der Tonhöhe nur eine Bandbreite für die gesunde Stimmlage bei Männern und Frauen ermitteln. Denn die braucht man, um krankhafte Veränderungen feststellen zu können. Aber dann kam die Überraschung – und die ließ ihm keine Ruhe.
Deshalb ließ er erneut Probandinnen einsprechen, dieses Mal ab der Pubertät bis 40 Jahre. Und siehe da: Die durchschnittliche Tonhöhe der jüngeren Frauen lag höher als die der älteren. Etwa ab dem 25. Lebensjahr beginnt die Stimmlage zu sinken, bis sie mit 40 Jahren auf dem Niveau ankommt, das die ersten Auswertungen gezeigt hatten. Die Ergebnisse publizierten Fuchs und seine Kolleginnen Ende 2020. Weil die Forscherinnen biologische und evolutionäre Faktoren ausschließen konnten, blieb nur eine Erklärung: Die Frauen von heute wählen eine tiefere Sprechstimme, weil es vorteilhaft für sie ist. Soziophonie nennt man das. Wir passen unsere Stimme – bewusst oder unbewusst – den Erwartungen der Gesellschaft an.
Denn zu jeder Rolle gehört auch eine bestimmte Tonlage. Was wäre Marylin Monroe ohne ihre hohe, fast piepsige Stimme? Ihr Gesang war oft eher ein Flüstern, ein Hauch von einer Stimme, passend zu den leicht transparenten Kleidern, die sie dazu trug. Ganz anders Angela Merkel, die mit sachlich-tiefer Stimme und schlichtem Hosenanzug Politik machte. Auftreten und Tonhöhe müssen zusammenpassen, sonst »stimmt« es für uns nicht. Eine Weltpolitikerin mit hoher Pieps-Stimme? Schwer vorstellbar. Aber warum ist das so?
Von hohen und tiefen Tönen, von Mäusen und Säbelzahntigern
Forscherinnen gehen davon aus, dass wir mit einer tiefen Stimmlage Autorität und Selbstsicherheit signalisieren, mit hohen Stimmen hingegen Schutzbedürftigkeit und Unsicherheit. Diese Assoziationen stammen noch aus der Zeit, als wir in Höhlen hausten und uns vor Säbelzahntigern in Acht nehmen mussten, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Markus Brückl von der Technischen Universität Berlin. Denn tiefe Töne gehen in der Regel von großen Körpern aus – Tiger, Löwen, Elefanten. »Die können uns gefährlich werden, die müssen wir ernst nehmen«, sagt Brückl. Hohe Töne stammen hingegen von kleinen Körpern – Mäuse, Vögel, kleine Kinder. Wenn wir mit hoher Stimme zu Kindern sprechen, zeigen wir unbewusst, dass wir nichts Böses wollen.
Wer mit tiefer Stimme spricht, kommt überzeugend rüber, verkörpert eine gewisse Autorität. Deshalb sprechen Menschen in leitender Funktion eher tief. Daneben wählen auch Politikerinnen oder Journalistinnen eine niedrige Tonhöhe, wenn sie in den Medien sachlich-überzeugend rüberkommen wollen. Oft trainieren sie dafür sogar. Die ehemalige britische Premierministerin Margret Thatcher etwa hat sich über mehrere Jahre mit einem Coach die bisweilen schrill-hohe Stimme abtrainiert.
Allerdings sind Chefinnen, Politikerinnen, Journalistinnen zahlenmäßig keine besonders große Gruppe. Sie allein hätten die durchschnittliche Tonhöhe der Frauen in der Leipziger Studie nicht so stark senken können. Dass Frauen in einigen Berufen recht tief sprechen, war bekannt. Aber eine solch tiefe weibliche Tonlage in der breiten Bevölkerung? Das fand Michael Fuchs erstaunlich.
Hörbare Emanzipation?
Es muss noch eine andere Erklärung geben. Für Ulrike Kaunzner, Professorin für Sprachwissenschaft an der italienischen Universität Modena, ist die tiefere Stimmlage der Frauen ein Indiz für ein geändertes Rollenbild in unserer Gesellschaft. Sie hat in einer Studie Werbespots aus den 1950er- bis 1970er-Jahren mit denen aus den 2010ern verglichen. Die Tonhöhen in den Spots ermittelte ein Computerprogramm. Aber auch Probandinnen beurteilten die Frauenstimmen in den historischen Spots als sehr hoch, während sie die Stimmen der Männer vergleichsweise als sehr tief wahrnahmen. Das passt zum damaligen Rollenverständnis: Hier der selbstbewusste Mann, der das Geld verdient, und dort die von ihm abhängige Frau.
Solche Rollenvorstellungen können uns ein Leben lang prägen. Noch heute nimmt Kaunzner bei einigen älteren Damen eine auffällig hohe, fast mädchenhafte Stimme wahr. Bei den Spots aus den 2010er-Jahren empfanden die Probandinnen sowohl die Männer- als auch die Frauenstimmen als tief. Das wertet sie als Indiz für unser heutiges verändertes Rollenverständnis, das sich in der Werbung widerspiegelt.
Die tieferen Frauenstimmen sind also Ausdruck der Gleichberechtigung, eine Art »hörbare« Emanzipation, sagt Michael Fuchs. Wobei sich allerdings nur die Frauen den Männern stimmlich angenähert haben. Wäre es denkbar, dass die Männer künftig mit höherer Tonlage sprechen, wenn sie sich zunehmend um Haushalt und Kinder kümmern? Bei dem Gedanken müssen sie alle schmunzeln, Fuchs, Brückl und Kaunzner. Aber vielleicht wird das ja die nächste Überraschung.
Erschienen am 1. September 2022