Ellie hat Vaginismus und das Gefühl, etwas nicht zu können, was angeblich normal ist: Sex. Schließlich gibt es in der Gesellschaft klare Vorstellungen, wie der zu sein hat. Zeit für einen Perspektivwechsel.

Text
Isolde Sellin

Bild
Hélène Baum-Owoyele
Website
Instagram

 

*Name von der Redaktion geändert

Es war der »Tamponmoment«, sagt Ellie*. Der Moment, in dem sie merkt, dass etwas anders ist bei ihr, ihr Körper nicht das macht, was sie erwartet. Andere Mädchen gewöhnen sich an das Tragen von Tampons. Ellie nicht. Als sie zum ersten Mal einen Tampon einführt, ist das nicht bloß unangenehm – sie hat Schmerzen. Zwei Stunden und viele tiefe Atemzüge später holt sie den Tampon raus. 

Als ihre Freundinnen das erste Mal mit einem Jungen schlafen, ist sie der Überzeugung, dass sie ihren ersten Sex nicht so schnell erleben wird. Wenn sie schon keinen Tampon ohne Schmerzen einführen kann, dann doch erst recht keinen Penis. Ellie glaubt, etwas nicht zu können, was angeblich so normal, so natürlich, so schön ist: Sex.

Es gibt einen Moment, in dem sie merkt, dass etwas anders ist bei ihr, ihr Körper nicht das macht, was sie erwartet.

Etwa zwei Jahre später schaut Ellie, sie ist inzwischen 17 Jahre alt, die gerade veröffentlichte Serie »Sex Education«. Die britische Netflix-Produktion dreht sich um die Schülerinnen einer High School und ihre Fragen, Wünsche und Probleme rund um Sex: Der 16-jährige Otis ist Sohn der Sexualtherapeutin Jean Milburn und konnte einiges an Wissen über Sex ansammeln, das er nutzt, um amateurhafte Sexualtherapie für seine Mitschülerinnen anzubieten. Die Serienfigur Lily möchte seit Folge 1 unbedingt mit einem Jungen schlafen. Doch so, wie Lily sich ihr erstes Mal vorstellt, wird es nicht. Etwas funktioniert nicht. Als der Junge in sie eindringen möchte, schreit sie. Lily fordert ihn auf, es noch einmal zu tun, doch ihre Schmerzen sind zu stark. Am nächsten Tag geht sie zu Otis: »My vagina has betrayed me« – meine Vagina hat mich verraten. Ein paar Szenen später erklärt Otis ihr, sie habe »Vaginismus«.

Ellie erkennt sich in Lily. Sie findet das Wort, das sie betrifft, das dieses Phänomen ihres Körpers beschreibt: Vaginismus bezeichnet die Verkrampfung des Beckenbodens beim Eindringen eines Körperteils oder Gegenstands – sei es Tampon, Penis, Finger oder Vibrator. Nicht alle von Vaginismus Betroffenen verkrampfen bei allem. Einige können einen Finger einführen. Doch das Eindringen eines Penis ist meist nicht möglich. Verlässliche Aussagen über die Zahl der Betroffenen gibt es nicht. Viele Angaben liegen bei rund zehn Prozent aller Frauen, doch oftmals sind sogar Zahlen in Studien vage. So schätzt eine kanadische Studie den Anteil auf sieben bis neunzehn Prozent aller Frauen. Andere gehen von mehr aus. 

Seit der Veröffentlichung von »Sex Education« sind zwei Jahre vergangen. Auch wenn Ellie nun ein Wort für ihre Schmerzen hat, spricht sie nur selten über das Thema. In ihrem Umfeld wissen nur wenige enge Freundinnen Bescheid. Eigentlich sei sie sehr »offen und sexpositiv«, möchte also frei mit ihrer Sexualität umgehen. Doch für ihren Vaginismus schämt sie sich. »Und das finde ich superärgerlich«, sagt sie. Weil es ihren Idealen entgegensteht, sich von normativen Vorgaben einschränken zu lassen. Es nervt sie, dass über Vaginismus so wenig gesprochen wird und dass auf diesem Phänomen ein so großes Tabu liegt. Gleichzeitig merkt sie, wie schwer es ihr selbst fällt, offen damit umzugehen.

Es war schon immer so

Wenn Ellie doch erzählt, dass sie Vaginismus hat, lässt eine Frage nicht lange auf sich warten: ob irgendetwas passiert sei, ein traumatisches Erlebnis, sexualisierte Gewalt oder so. Ellie winkt dann ab: »Nein, mir ist nichts passiert. Es war einfach schon immer so.« Ellie hat primären Vaginismus. Eine Zeit, in der die Verkrampfungen nicht auftraten, gibt es nicht. Im Gegensatz zum sekundären Vaginismus, bei dem Betroffene bis zu einem bestimmten Punkt hin ohne das Phänomen lebten.

Von einer sexuellen Funktionsstörung spricht man dann, wenn Betroffene unter den Verkrampfungen leiden. Weitere formale Kriterien sind, dass diese seit mindestens sechs Monaten und bei 75 Prozent der sexuellen Interaktionen auftreten. Therapiert werden kann Vaginismus zum Beispiel durch eine Psycho- oder Physiotherapie – oder beides. Andere Möglichkeiten sind Dilatatoren in verschiedenen Größen, also medizinische Dildos. Mit ihnen können sich Betroffene an das Einführen von Gegenständen gewöhnen. Oft werden sie als einfaches Heilmittel angepriesen – doch häufig ist das nicht viel mehr als eine Verkaufsstrategie. Erfolgreiche Therapien kombinieren meist verschiedene Möglichkeiten. 

Ellie möchte gar keine Therapie. Sie ist in einer heterosexuellen Beziehung, ihr Sex und vor allem sie selbst leiden aber nicht unter dem Vaginismus. Sie sagt: »Eine Therapie ist anstrengend, tut weh und ist unangenehm. Warum soll ich das machen? Ich habe ein gutes Sexleben und gute Orgasmen.«  Ellie will ihren Körper und ihre Sexualität akzeptieren – und damit auch ihren Vaginismus.

Wenn über Vaginismus – in den Medien und in der Forschung – gesprochen wird, ist meist eine Frage zentral: Wie werden ihn Betroffene am schnellsten los? Mandy Mangler, Professorin und Chefärztin für Gynäkologie im Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin, sieht darin eine Fixierung auf penetrative Sexualität. Die spielt sich hauptsächlich zwischen Vagina und Penis ab. Das originäre Sexualorgan der Frau, die Klitoris, ist dabei nicht direkt involviert. »Frauen sollen penetrierbar sein«, sagt Mangler. »Es wird nicht hinterfragt, ob die Penetration wirklich das richtige sexuelle Konzept für diese Person ist.« 

Die Macht der Perspektive

Was als Störung oder als Krankheit klassifiziert wird, ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Normen. Darauf will Thula Koops vom Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie Hamburg aufmerksam machen. Das Verständnis von »Normalität«, mit dessen Hilfe Abweichungen in sexuellen Erfahrungen als Störung identifiziert werden, sei Koops zufolge sozial konstruiert – und demnach relativ. Phänomene würden durch eine »diagnostische Brille« betrachtet. Eine Brille mit Gläsern, die von der Gesellschaft geschliffen wurden. Die Macht einer solchen »Brille«, die Macht der Perspektiven, wird auch in der Debatte rund um die Bezeichnung und Klassifizierung von Vaginismus deutlich.  

Seit 2010 wird Vaginismus im DSM-5, dem weltweit dominierenden psychiatrischen Klassifikationssystem aus den USA, nicht mehr als isolierte Diagnose geführt. Zusammen mit Dyspareunie, einer sexuellen Funktionsstörung, bei der Betroffene während oder nach dem Sex brennende Schmerzen im Genitalbereich spüren, wird Vaginismus zusammengefasst unter dem Begriff »genitopelvine Schmerz-Penetrationsstörung« (kurz: GPPPD). Die Begründung: Die Symptomatiken beider Phänomene seien, schlecht zu unterscheiden. 

Koops sieht das kritisch: Ist Patientinnen und Behandelnden wirklich geholfen, wenn Muskelverspannung, Schmerz und Angst nicht mehr abgegrenzt werden müssen, um zu einer Diagnose zu kommen? Die Betroffenen und ihre genauen Empfindungen, so scheint es, werden hier nicht ernst genommen.

»Der Mann gilt als Standard. Wir Frauen müssen mitspielen in einem Spiel, dessen Regeln wir nicht geschaffen haben.« Mandy Mangel

Vor allem aber der Begriff der »Penetrationsstörung« löst in Wissenschaftlerinnen wie Thula Koops Unbehagen aus. In dem Buchkapitel »Die diagnostische Brille« schreibt sie:»Statt das Erleben der Frau in den Fokus zu nehmen, wird die Perspektive des Mannes gewählt, dessen Versuch zur Penetration gestört wird.« Die Penetration des Mannes wird gestört – und die Frau für gestört erklärt. Es gehe allein um die Frage, »warum da jetzt nichts reingeht«, sagt Koops – eine Frage, die von den festverankerten Vorstellungen der Gesellschaft geprägt ist.

Penetrierbar sein oder nicht sein

Normal ist, penetriert werden zu können. Was auch bedeutet: Die Frau wird penetriert, sie ist passiv. Der Mann penetriert, dringt ein, ist aktiv. Im Feminismus wird der Begriff der Penetration schon länger kritisiert und nach einer neuen Bezeichnung gesucht, die auch das Denken über Sex verändern könnte: Immer öfter wird von »zirklusivem« statt »penetrativem« Sex gesprochen. Der Begriff beinhaltet das lateinische »circum«, also »um« oder »herum«, und »cludere« für »schließen«. Wenn Sex zirklusiv ist, bleibt die Vagina nicht mehr bloß passiv. Sie wird zur Akteurin im Sex: Nicht mehr der Penis penetriert die Vagina, sondern die Vagina umschließt den Penis. Auch Thula Koops verwendet in ihren Publikationen den Begriff der »circlusion« – aktuell noch eine Seltenheit in der Forschung zu Vaginismus.

»Wir Frauen sind ständig damit konfrontiert, dass irgendjemand etwas in uns reinstecken möchte.« Mandy Mangler

Ellie braucht aktuell keinen zirklusiven Sex. Dennoch bleibt ein leichtes Unbehagen, wenn sie an ihr zukünftiges Sexleben denkt. Ellie spricht nicht zuletzt deswegen selten über ihren Vaginismus, weil sie befürchtet, potentielle Partnerinnen oder Partner abzuschrecken. Bei einem One-Night-Stand würde es ihr der Vaginismus schwerer machen, ihre Sexualität vollkommen frei und ungezwungen auszuleben. Frei von Erwartungen, die Menschen mit Penis an sie stellen könnten.

Auch in anderen Situationen wird ihr der Vaginismus bewusst – und bewusst gemacht. Ihr erster Besuch bei einer Frauenärztin bleibt auch vorerst ihr einziger: Die Ärztin will damals ihre Vulva und Vagina untersuchen. Als sie Ellies Verkrampfung spürt, ist ihr Ratschlag, sie solle sich »einfach entspannen«.

»Wir Frauen sind ständig damit konfrontiert, dass irgendjemand etwas in uns reinstecken möchte«, sagt Mandy Mangler. Im Gegensatz zu Penis und Tampon ist das Spekulum, ein Untersuchungsinstrument für Vagina und Vulva, zumindest etwas, das im Laufe eines Lebens unerlässlich wird. Wenn Mangler Patientinnen mit Vaginismus untersucht, versucht sie mit viel Geduld und Zeit, gemeinsam mit den Frauen eine Lösung zu finden – etwa, dass sie die Instrumente selbst einführen. 

Wenn man Berichte von Betroffenen liest, wird deutlich, dass viele andere Frauenärztinnen oft einen weniger sensiblen Umgang mit dem Thema haben. Viele wissen zu wenig oder gar nichts über Vaginismus. Betroffene berichten von Ärztinnen, die ihnen sagen, sie sollten sich auch beim Sex einfach entspannen. Oder vorher Alkohol trinken. Von Ärztinnen, die darauf verweisen, dass sie vielleicht einfach nicht den richtigen Partner haben. Oder darauf beharren, es müsse ein traumatisches Erlebnis gegeben haben – was bei sekundärem Vaginismus zwar der Fall sein kann, aber nicht muss. 

Wer macht die Regeln?

Wie bei so vielem, wenn es um Geschlecht, Sexualität und Körper geht, wird auch hier eine Machtstruktur deutlich: »Wir leben in einer männerdominierten und -orientierten Gesellschaft. Der Mann gilt als Standard. Wir Frauen müssen mitspielen in einem Spiel, dessen Regeln wir nicht geschaffen haben.«, sagt Mangler. 

Auch Ellie sagt, dass sie sich eine Gesellschaft herbeisehnt, die nicht nur den »Male-Gaze-Mist« repräsentiert. Dass Themen wie Vaginismus eine Plattform bekommen – und zwar nicht nur, um darüber zu sprechen, wie sehr Betroffene in ihrem Sexleben eingeschränkt seien. Sondern um zu zeigen, dass auch heterosexueller Sex und Beziehungen ohne Zirklusion auskommen. 

Ellie will nicht denken, dass ihre Vagina sie verraten hat – so wie die Serienfigur Lily. Ist es denn nicht vielmehr die Gesellschaft, die sie verraten und unter Druck gesetzt hat? Durch Normen, die nur zirklusiven Sex als normal, natürlich und schön darstellen?

Jean Milburn sagt in »Sex Education«: »Sex doesn’t make us whole, so how could you ever be broken?« Ellie und die vielen anderen Betroffenen können nicht alle Erwartungen erfüllen, die man an sie heranträgt. Sie sind aber deswegen nicht »broken«, nicht kaputt, nicht weniger vollständig. Und ihr Sex muss nicht weniger normal, nicht weniger natürlich sein. Und vor allem nicht weniger schön.

Erschienen am 1. September 2022

Text
Isolde Sellin

Bild
Hélène Baum-Owoyele
Website
Instagram

 

*Name von der Redaktion geändert