
Was nicht da ist
Eine Frau hört Stimmen, die nicht da sind. Gemessen mit den Methoden der Hirnforschung sind diese Halluzinationen so real, wie Wahrnehmung sein kann. Was passiert in den Gehirnen von Schizophrenie-Patient:innen, dass sie Halluzination nicht von Realität unterscheiden können?
Worauf sie sich verlassen kann? Auf nicht mehr viel. Allerdings darauf, dass diese beiden bei ihr bleiben. Sie kommentieren jeden Handgriff, den sie tut, zwei ungebetene, ironische Stimmen aus dem Off. Lustig? Nein, lustig ist das nicht. Wobei, vielleicht manchmal, in der Nacht, wenn sonst eben die Einsamkeit zu laut würde. Immerhin schreien sie jetzt nicht mehr. Heike Klar sagt, sie habe gelernt, die Stimmen zwischen ihren Ohren »leiser zu drehen«.
Die Frau mit dem weißen Pagenschnitt hält sich an der Kaffeetasse fest und blickt vorsichtig auf. Lacht jetzt wieder jemand, weil sie ein Radio im Kopf hat? Natürlich nicht. Wie könnte man da auch lachen. Der 64-Jährigen ist die Anstrengung anzusehen, die sie jedes Wort kostet. Während sie erzählt, legt sie die Stirn in Falten und blickt auf einen Punkt vor sich auf dem Boden. Die Ärzte haben bei ihr Schizophrenie diagnostiziert. Das Wort bedeutet »gespaltener Geist«. Die Erkrankung verändert das Denken, Wahrnehmungen führen ein seltsames Eigenleben. Medikamente wie die sogenannten Neuroleptika sollen das wieder geraderücken, aber sie legen sich dabei wie ein Nebel auf die Sinne. Der Dauerdialog in ihrem Kopf, der sich ständig in ihre Gedanken drängt, er ist trotzdem da.

Heike Klar hört Stimmen – und sie redet darüber. Wenn sich andere Leute mit ihrem normalen, leisen Leben darüber lustig machen, dann ignoriert sie das eben genau so, wie sie gelernt hat, die beißenden Kommentare in ihrem Inneren zu überhören. Die Stimmen nicht vor der Welt zu verstecken, sondern öffentlich darüber zu reden, ist Teil eines Behandlungsprogramms, mit dem sie das Geflüster in ihrem Kopf im Zaum hält.
Sie spricht langsam und höchst konzentriert. Ihre Stimme zittert ein wenig. Halluzinationen zu haben, das ist etwas, das sich tief in einen eingräbt und alles verändert. Erst zerbricht das Gefühl, dass man sich auf seinen Kopf und seine Sinne verlassen kann. Dann bekommt das ganze Leben Risse.
Nun, nach 16 Jahren mit Hirngespinsten, ist nicht mehr viel übrig von der Heike Klar, die früher für einen Versicherungsmakler die gesamte Kundenkorrespondenz managte. Dass sie das plötzlich nicht mehr konnte, hat auch mit den Stimmen zu tun. »Versuchen Sie doch mal zu arbeiten, wenn aus der Wand neben ihnen einer unablässig redet«, sagt Thomas Bock, Professor für Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Klars Therapeut. »Das bringt jeden raus.«
Nach Bocks Erfahrung hört einer von drei Schizophreniepatient:innen trotz der Pillen weiter Stimmen. Ein Hinweis, dass sie mehr sind als ein Symptom: »Sie erzählen von dem, was den Menschen überhaupt erst ins Wanken gebracht hat«, sagt er. Die Stimmen sind Feinde mit intimem Wissen. »Da geht es um verdrängte Brüche in der Biographie, Scham, Verlust oder Gewalt – die wunden Punkte der Seele.« Schon als Berufseinsteiger vor fast 40 Jahren konnte Bock nicht verstehen, dass seine medizinischen Kolleg:innen zwar immer fragten, ob ihre Patient:innen Stimmen hörten. Aber dann nie mehr darüber wissen wollten: Wer dort sprach, was genau sie sagten. »Dabei müssen viele der Patienten ja lernen, mit diesen Stimmen ihr Leben lang zurechtzukommen«, sagt er.
Meistens beginnt es sachte, mit einem leisen Flüstern. Heike Klar erinnert sich heute, dass sie schon als kleines Mädchen wispernde Gefährten hatte. Tröstende Engelchen, die immer dann auftauchten, wenn sie sich vor den Wutanfällen der Mutter in ihr Zimmer flüchtete. Sie meint auch, dass sie diese sprechenden Geister nie ganz verließen. »Ich glaubte einfach, das wären meine Gedanken«, sagt sie. »Woher sollte ich denn wissen, dass andere Menschen in ihrem Kopf nichts hören können?«
Irgendwann wurden die Stimmen lauter. Wüster. Keine hilfreichen Engel mehr, sondern geifernde Teufel. Das war, als ihr Chef viele Kunden an die neuen Online-Portale verlor und sie ins Grübeln kam, ob der Job sie noch zur Rente bringen würde. Damals schlichen sich die Teufel in die Heizung und schrien, dass sie sich die Ohren zuhalten musste, meistens mit der Stimme des Nachbarn. Die Stimmen wussten Dinge über sie, die sie noch nie einem Menschen verraten hatte. Von denen sie selbst nicht wusste, ob sie stimmten. Die Angreifer brüllten, warfen mit Schimpfwörtern um sich und ließen ihr keinen ruhigen Moment. Schließlich wurden sie so unflätig, dass die aufgebrachte Frau eine Treppe höher zum Nachbarn stürmte und ihn zur Rede stellte. Was genau dort vorfiel, erklärt Klar nicht. Nur, dass sie vom Gericht eine Betreuerin zur Seite gestellt bekam und ausziehen musste, weil sie auf richterliche Anordnung in eine Klinik kam.
Während andere Veränderungen im Gehirn, wie im Falle einer Demenz oder bei Alkoholvergiftungen, eher visuelle Halluzinationen erzeugen, hören die meisten an Schizophrenie und der verwandten schizoaffektiven Störung Erkrankten etwas, das nicht da ist. Jedenfalls nicht außen, in der Welt, die andere Menschen wahrnehmen können. Aber, erklärt Jürgen Gallinat, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, ebenfalls am UKE, mit einem Hirnscanner kann man diesen unsichtbaren Wesen eben doch sichtbar machen, klar und deutlich.
Gemessen mit den Methoden der Hirnforschung sind verbale Halluzinationen so real, wie Wahrnehmung nur sein kann. Ein Muster aus elektrischen Impulsen – erzeugt und weitergereicht von Nervenzellnetzwerken. Im funktionellen Magnetresonanztomographen kann Gallinat anhand von Veränderungen in der Durchblutung ihre Spuren verfolgen. Auf Bildern dargestellt erinnern die Messergebnisse an rote Flammen, die durch die graue Hirnmasse züngeln. »Werden akut halluzinierende Patient:innen untersucht, sieht man in den sprachproduzierenden Arealen des Gehirns erhöhte Aktivität. In etwa so wie bei jemandem, der gerade selbst spricht – oder sich bewusst an etwas Sprachliches wie ein Gedicht erinnert«, erklärt Gallinat. 2012, als er noch in Berlin arbeitete, wertete er zusammen mit einer Kollegin zehn Studien mit solchen Bildern von 84 Patienten aus. Ihn beeindruckte, wie sehr sich die Flammenmuster während des Stimmenhörens bei unterschiedlichen Menschen glichen: Die wispernden Gespenster müssen etwas sein, das von der Struktur des menschlichen Gehirns begünstigt wird.
Das Gehirn macht mehr, als bloß die Signale aus dem Ohr aufzunehmen. Es ordnet ihnen eine Richtung zu und einen Sprecher, es gleicht die Laute mit den eigenen Spracharchiven ab. Die Erinnerung an früher Gehörtes läuft ständig mit, wie eine zweite Tonspur. Normalerweise unhörbar, aber bei verbalen Halluzinationen könnte es diese Erinnerungsspur sein, die ins Bewusstsein drängt. Warum? Vielleicht ein Sortierfehler. Eine Verwechslung von Gedankenfluss mit Redeschwall. Die kleine Heike hätte demnach vollkommen recht gehabt, ihre Engel für ihre Gedanken zu halten.
»Soweit wir wissen, hat das Gehirn einer Person, die Stimmen hört, dieselben Wahrnehmungen wie jeder Mensch. Es neigt nur dazu, was andere Menschen für ihr Innenleben halten würden, der Außenwelt zuzuordnen«, erklärt Gallinat.
Mit Sprecher:innen im Kopf leben ziemlich viele Menschen: 6 bis 16 Prozent sollen es je nach Befragung weltweit sein. Die meisten haben das, was Ärzt:innen als nicht-klinische Halluzination bezeichnen: Sie leben zwar mit den Stimmen oder anderen Höreindrücken wie Musik oder Geräuschen, bleiben aber trotzdem souverän. Sie können jederzeit selbst entscheiden, ob sie den Stimmen folgen – und sie wissen auch, es kann eigentlich nicht sein, dass sie jemanden hören, der nicht da zu sehen ist. Menschen mit Schizophrenie dagegen verlieren sich in dem Geflüster. Sie fühlen sich davon beherrscht. Die Stimmen neigen zu einem Befehlston, dem sie sich nur schwer verweigern können. Das Wissen, dass dieses Gerede unmöglich physisch existieren kann, bleibt den Kranken völlig unzugänglich.
»Das läuft außerhalb des Realitätschecks«, sagt Gallinat. »Eigentlich machen wir das automatisch: Uns fragen, ob das, was wir sehen, hören, spüren, so sein kann.« Warum höre ich gerade meine Mutter sprechen, obwohl sie hier nirgendwo zu sehen ist? »Bei Patient:innen mit Schizophrenie kommen solche Fragen nach der Plausibilität oft nicht auf.« Wenn die Ärztin oder der Arzt sie damit konfrontiert, reagieren sie gar nicht, es ist so, als wäre da ein blinder Fleck im Kopf.
Ein Forscherteam aus dem englischen Cambridge könnte den blinden Fleck gefunden haben: Es ist der fehlende Teil einer bestimmten Gehirnfurche, des sogenannten Sulcus paracingularis. Der Sulcus ist bei Menschen mit klinischen auditiven Halluzinationen deutlich kürzer als bei Menschen, die nicht von inneren Stimmen beeinflusst werden. Die zu kurze Falte liegt im präfrontalen Cortex. In diesem Bereich werden auf der Basis von Erfahrungen Entscheidungen getroffen. Schon etwas länger ist bekannt, dass manche Menschen diese Furche gar nicht haben: Sie können nicht unterscheiden zwischen erlebten Erinnerungen und Geschichten, die sie nur geträumt oder gelesen haben. »Auch Erinnerungen sind oft verbal«, sagt Gallinat. »Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Stimmen so oft etwas mit der Biographie der Patient:innen zu tun haben. Am eindrücklichsten ist ja das, was wir in der Jugend erlebt haben. Es prägt uns, es liegt sozusagen ganz oben im Archiv.«
Als sie sich auf richterliche Anordnung in der Klinik behandeln lassen musste, wusste Heike Klar nicht genau warum. Die Stimmen hatten sie jedoch inzwischen so vereinnahmt, dass sie kaum noch einen Schritt allein entscheiden konnte. »Ich blieb unter dem Türrahmen stehen, weil eine Stimme meinte, ich soll draußen bleiben, die andere, ich soll hineingehen«, sagt sie. »Das ist so dicht am Ohr, so in einem drin, da kann man nicht weghören!«
Es sind dieselben Stimmen, die immer noch mit ihr reden. Während der Therapie hat sie sie plötzlich wiedererkannt. Vielleicht haben sich aber auch da erst die Teufel in alte Bekannte verwandelt, die Erinnerungen an ihre vergangenen, bösen Halluzinationen sind bei Klar nur noch verschwommen. Die eine Stimme ist die der Betreuerin, die ihr das Gericht zur Seite stellte. Und die andere die des Ausbilders, bei dem sie ihren Beruf erlernte.
Klar hat gelernt, den ungebetenen Gästen die richtigen Fragen zu stellen. Reden da vielleicht auch Freunde mit? Jemand, der sie mag? »Eine Strategie kann dann sein, diese Helfer herbeizurufen«, sagt Bock. Oder er übt immer wieder den Realitätscheck und überlegt mit den Stimmenhörer:innen, ob es wirklich wahr sein und werden kann, was ihnen die Plagegeister vorhalten, all die Vorwürfe über angebliche Straftaten, all die Drohungen mit der Polizei. Mit viel Zeit und Geduld lernen die Patient:innen, solche Einwände ernst zu nehmen und die Stimmen damit zu konfrontieren. Es ist wie mit echten Erpresser:innen: Sie werden ganz kleinlaut, wenn man sie aus dem Schatten ins Licht zerrt. Plötzlich ist sie weg, ihre Macht.
Irgendwann im Laufe der Therapie wurden aus lauten Befehlen dringende Bitten, aus Bitten Empfehlungen. Heute hört Klar zwar noch leise ironische Kommentare zu jedem Schritt, den sie unternimmt. Das kostet Kraft. Die Stimmen haben aber keinen Einfluss mehr auf das, was sie tut. Sie laufen im Hintergrund mit, wie bei anderen Menschen der Fernseher beim Bügeln.
Was Klar »Schreien« und »Flüstern« nennt, bezeichnen Fachleute als die Intensität der Halluzination. Ihr Therapeut glaubt, das »Leisewerden« zeige, dass die Wahrnehmungsfilter wieder normaler arbeiten. Klar überhört ihre Hirngespinste einfach, wie die Bewohner:innen einer Einflugschneise den Flugzeuglärm. Auffällig ist: Sobald die Menschen verstehen, dass es nicht wahr sein kann, was sie da hören, wird das Phänomen erträglich. Es ist, als hätten sie den Realitätscheck wieder eingebaut, der ihnen im Laufe ihrer Erkrankung abhandengekommen ist.
Das menschliche Gehirn kann nicht nur Stimmen sprechen lassen. Es kann auch lernen, damit zurechtzukommen. »Heute lebe ich damit«, sagt Klar, »die beiden sind ein Bestandteil meiner Person. Kein angenehmer, aber wer mag schon alles an sich selbst gut leiden.«
Erschienen am 28. Februar 2019
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