Es gibt immer weniger Insekten – doch wir merken das kaum. Warum?
Es ist das Jahr 1976. Die unbemannte NASA-Sonde Viking 1 landet auf dem Mars; Steve Jobs und Steve Wozniak gründen eine Firma namens „Apple“; und in Großbritannien startet das UK Butterfly Monitoring Scheme – bis heute eines der weltweit am längsten aktiven Insekten-Monitoring-Programme.
Dave Goulson ist damals 11 Jahre alt. Er fängt Heuschrecken und beobachtet Hummeln beim Bestäubungsflug. Seine Liebe für Insekten wird geweckt.
47 Jahre später ist Goulson Professor der Biologie an der Universität Sussex, im Süden Englands. Vor einem Jahr erschien sein Buch „Stumme Erde“, in dem er den Rückgang der Insektenpopulationen beschreibt. Goulson versucht darin, nicht nur rationale Argumente für die Rettung der – auch für die Menschen – lebenswichtigen Insekten zu finden. Sondern auch, Faszination für die kleinen Wesen zu wecken.
Denn um genau diese Faszination macht er sich heute große Sorgen. „Mein jüngster Sohn ist jetzt 11“, sagt Goulson. „Als ich elf war, startete gerade das UK Butterfly Monitoring Scheme. Ich weiß deshalb, dass die Schmetterlingspopulationen seither um 50 Prozent geschrumpft sind“. Für seinen Sohn allerdings sei die Anzahl der Schmetterlinge völlig normal – genauso wie die geringe Häufigkeit von Bienen, Käfern, Ohrwürmern. „Und seine Kinder werden vielleicht in einer Welt ganz ohne Insekten leben und nie wissen, wie wunderschön ein Pfauenauge an einem Frühlingstag ist. Denn wie können wir etwas vermissen, das wir nicht kennen?“ sagt Goulson.
Die Zahl der Amphibien, Vögel, Pflanzenarten, vor allem aber der Insekten nimmt dramatisch ab. Das zeigte im Jahr 2017 unter anderem die Krefelder Studie, ein langjähriges Monitoring deutscher Hobby-Wissenschaftler:innen: 63 deutsche Naturschutzgebiete hatten die Insektenforscher:innen von 1989 bis 2016 untersucht. Die Masse der in Fallen gefangenen Fluginsekten hat in diesem Zeitraum um 75 Prozent abgenommen. Die Studie hat damit einen langen Trend mit harten Zahlen belegt.
Im Alltag bemerken wir diese Abnahme allerdings kaum – außer vielleicht daran, dass wir unsere Windschutzscheiben nicht mehr an jedem Tankstellenstopp von toten Tierchen befreien müssen. Schuld ist ein Phänomen, das der Meeresbiologe Daniel Pauly 1995 im Fachjournal Elsevier als „Shifting Baseline Syndrom“ benannte. Ihm war aufgefallen, dass jede Generation an Fischern ihre Fanggröße als normal, als Nulllinie betrachtete. Eine Art generationsbedingte Umweltamnäsie: Der triste Ist-Zustand wird nicht betrauert, sondern als normal begriffen.
Was aber bedeutet es, wenn unsere Kinder in dieser „neuen Normalität“ aufwachsen? In einer Welt mit weniger Tagpfauenaugen, Kuckucken, Rotbauchunken? Dave Goulson plädiert dafür, für die Erinnerung zu kämpfen, uns die Verluste des Summens, Zwitscherns, Quakens bewusst zu halten. Ein erster Schritt? Schulen mit Grünflächen, Versuchsbeeten und Becherlupen. So werden Kinder zumindest mit einigen Arten vertraut. Und setzen sich später vielleicht eher dafür ein, sie zu schützen – bevor die endgültigen Nulllinien erreicht sind.
Erschienen am 7. September 2023