Land- und Seekarten bilden Welt und Wahrheit ab. Selten machen wir uns bewusst, was hinter ihnen steckt: Messungen und Schätzungen, Interpretationen und der bloße Versuch, sich der Realität anzunähern. Wie subjektiv und konstruiert diese Wahrheiten sind, lehrt die Karte des polynesischen Navigators Tupaia.

 

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Bernd Eberhart

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Thomas Victor

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Tupaia konnte schwimmen, noch bevor ihn seine Beine über den Sand und durch die tropische Landschaft Raiateas trugen. Die Lagunen und Buchten der polynesischen Insel waren seine Welt; Meer und Land gleichwertige Teile davon.
Als Kind wurde er auserwählt als Arioi, einer Geheimgesellschaft, die dem höchsten Gott Oro diente. Dadurch genoss Tupaia eine Erziehung, wie sie nur wenigen Bewohnern Raiateas zuteilwurde: Er begleitete erfahrene Segler auf lange Reisen zwischen verstreuten Inseln; er wurde unterrichtet in den Geschichten über Gottheiten und Ahnen und erlernte die Gedichte und Gesänge des Ordens. Als Erwachsener trug er Tätowierungen – mit Kohle, der Tinte des Lichtnussbaumes und gespitzten Vogelknochen waren ihm gewundene Muster unter die Haut gestochen worden, die sich vom Rückgrat in  geschwungenen Linien über die Hüften zogen und ihn als Angehörigen der Arioi auszeichneten. Tupaia war Sänger, Gelehrter, Schauspieler, Erzähler. Und er bewegte sich mühelos zwischen den Inseln – ein Meisternavigator.
Im Jahr 1757 fielen feindliche Krieger der Nachbarinsel Bora-Bora ein. Tupaia, inzwischen etwa 30 Jahre alt, wurde dazu bestimmt, den Kult des Oro zu bewahren und dessen Heiligtümer an eine sichere Stätte zu bringen – nach Tahiti.
Jahre später ging dort, in der Matavai-Bucht, ein Schiff aus Europa vor Anker. So sollten im April des Jahres 1769 auf Tahiti zwei Meisternavigatoren aufeinandertreffen: Tupaia in seinem Exil; James Cook auf seiner ersten Südseereise an Bord der Endeavour.
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Jahrelang rätselten die Literaturwissenschaftler Anja Schwarz und Lars Eckstein über Tupaias Karte. Zunächst nur als ambitionierte Knobelei. Doch bald waren sie mit Haut und Haaren hinabgetaucht in die Welt des polynesischen Seefahrers. Erstmals bieten sie nun eine umfassende Lösung des Rätsels.

Just im Jahr 1769, ziemlich genau am gegenüberliegenden Punkt des Erdballs, vollendeten die Baumeister Friedrichs des Großen das Neue Palais, jenen barocken Gebäudekomplex, der heute einen Teil der Universität Potsdam beherbergt. Einen halben Kilometer abseits und rund 250 Jahre später sitzen die Literaturwissenschaftler Anja Schwarz und Lars Eckstein in ihrem Büro und beugen sich über den Laptop. Von der Grandeur des Parks Sanssouci ist hier wenig zu spüren – Gebäude 19 setzt auf betonierte Zweckmäßigkeit.

Der Bildschirm zeigt eine Seekarte. Oder vielmehr: verschiedene Abschriften einer Seekarte, die über die Jahrhunderte zum kartografischen Mythos gereift ist – die Karte von Tupaia. In drei Versionen ist sie heute noch erhalten. Eckstein und Schwarz scrollen durch verschiedene Teile, zoomen in Ausschnitte, legen unterschiedliche Versionen übereinander. Seit mehr als vier Jahren haben sich die beiden in diese Karte vertieft, ja, verbissen; sie sind hinabgetaucht in dieses Meer von auf Pergamentpapier getuschter Inseln. Generationen von Historikern, Geografinnen, Kartografinnen, Linguisten und Anthropologinnen hat sie Rätsel aufgegeben. Seit Jahrzehnten brennt ein Streit um die Karte, um ihre Deutung und ihre Bedeutung für die polynesische Kultur: Ist die Karte falsch oder nur unlesbar? Ist sie Zeugnis einer hochentwickelten polynesischen Erkenntnislehre, die parallel zu unseren europäischen Modellen der Weltanschauung funktionierte – oder ist sie Kristallisationspunkt einer romantisierenden Verklärung dieser vermeintlichen Wissenschaft? Hat Tupaia sich und seine Künste maßlos überschätzt oder hat er in einem geradezu genialen Akt die westliche und die polynesische Navigation vereint? War Tupaia tatsächlich ein Meisternavigator und begabter Kartograf – oder vielmehr ein begnadeter Erzähler und geschickter Blender?

In der British Library in London liegt die bekannteste Abschrift von Tupaias Karte. Vermutlich ist sie eine exakte Kopie jener Karte, die Tupaia 1770 als finale Version an Bord der Endeavour gezeichnet hatte.

„Tupaia hat ein neues kartografisches System erfunden“, sagt Lars Eckstein. „Und wir sind überzeugt: Die Karte funktioniert.“ Nach jahrelanger Arbeit hat er gemeinsam mit seiner Kollegin Anja Schwarz eine Theorie entwickelt. Sie haben einen Weg gefunden, diesen Plan zu entziffern, der einst unter Anweisung und Mithilfe des Polynesiers am Zeichentisch der Endeavour entstanden ist. Zum ersten Mal überhaupt, schreiben die beiden Forscher im renommierten Journal of Pacific History, würden sie eine wirklich umfassende Lesart für Tupaias Karte präsentieren.

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Zunächst knüpfte Tupaia Freundschaft mit Joseph Banks, einem Botaniker aus gutem Hause, der sich mit einer hübschen Summe in die Besatzung der Endeavour eingekauft hatte. Neugierig nahmen die Europäer Tupaia alsbald mit auf Erkundungsreise um Tahiti; in einem Gemenge aus englischer und polynesischer Sprache kamen sie stockend ins Gespräch. Schnell merkten die Briten, welches Geschick er bei Navigation und Orientierung an den Tag legte.
Ob es die reine Abenteuerlust war, die den Weitgereisten zu dieser Exkursion durch die Südsee bewegte? Ob er sich von britischen Kanonen und Musketen politischen Einfluss, ja gar die Rückeroberung seiner Heimatinsel Raiatea versprach? Den Briten jedenfalls dürfte ein orts- und sprachkundiges Besatzungsmitglied durchaus nützlich erschienen sein. Am 13. Juli 1769 stach Tupaia auf der Endeavour in See.
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Anja Schwarz und Lars Eckstein hatten eine Abschrift von Tupaias Karte immer wieder in ihren Vorlesungen behandelt. Beide sind Experten für postkoloniale Studien, und die Karte war ihnen ein griffiges Beispiel für alternative Wissenssysteme – ohne sie wirklich im Detail zu betrachten. „Wir wollten einfach zeigen, dass es andere Vorstellungen gibt von Subjektivität und Raum“, erklärt Eckstein. Doch durch Zufall erfuhren die beiden, dass die Karte von Tupaia auch im Braunschweiger Stadtarchiv zu finden ist, und zwar in einer Version, die sie noch nicht kannten. Diese, von dem deutschen Naturforscher Georg Forster angefertigte Kopie weckte die Neugier der Potsdamer Wissenschaftler. „Wir haben uns gesagt, schauen wir uns die Karte mal an und versuchen herauszufinden, was wir so herausfinden können“, erzählt Eckstein. Anja Schwarz lacht: „Wir dachten, es wäre einfacher.“

Ausschnitt der Karte aus der British Library. Norden ist zentral vermerkt als Eavatea, zu Deutsch „Mittag“.

Doch bald waren sie Tupaias Karte verfallen. Unzählige Stunden brüteten Schwarz und Eckstein fortan über historischen Insellisten, Seekarten und Tagebüchern, wochenlang verschwanden sie in Archiven und Bibliotheken; beide beantragten jeweils zwei Freisemester bei ihrer Universität, um sich ganz dem Studium Tupaias zu widmen. Von Vorteil war, dass sie auch hiesige Archive nutzen und deutsche Quellen auswerten konnten, etwa die Schriften Georg Forsters und seines Vaters Johann Reinhold Forster – in der anglophonen Wissenschaft waren diese lange unterrepräsentiert. In langer Fleißarbeit trugen sie minutiös Details zusammen, von denen einige bisher übersehen worden waren.

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Zunächst kreuzte die Endeavour durch die Inseln unter dem Wind, dem windabgewandten Teil der Gesellschaftsinseln im Zentrum Polynesiens. Wo auch immer sich das Schiff befand, zu jeder Tages- und Nachtzeit war Tupaia im Stande, ohne Zögern mit dem Finger in Richtung Tahiti zu deuten. Selbst der Kapitän war bald überzeugt von diesen Orientierungskünsten. Über vier Wochen hinweg überließ James Cook seinem Gast das Amt des Navigators. Der steuerte quer durch die Gesellschaftsinseln, dann gen Süden bis nach Rurutu. Noch wertvoller jedoch sollten sich seine Sprachkenntnis und sein diplomatisches Geschick für die Männer der Endeavour erweisen. In Tauschgeschäften mit den Bewohnern der Inseln erlangten sie Nahrung und Wasser.
Oft beobachtete und unterstützte Tupaia die Europäer beim Zeichnen von Karten; auch freundete er sich mit dem Maler Sydney Parkinson an, der ihn im Umgang mit Papier, Wasserfarben und Tusche unterrichtete. Irgendwann muss er dann seine ersten Schritte als Kartograf unternommen haben. War es seine eigene Idee? Oder eine Initiative James Cooks?
In dieser Zeit war Tupaia ein gefragter Mann auf der Endeavour. Von mehr als 130 Inseln konnte er berichten. Einige hatte er selbst bereist, viele mehr kannte er aus den Überlieferungen seiner Ahnen. Wie aber konnte er den Europäern sein Wissen auf eine Art beweisen, die sie verstanden? Vielleicht war es auch politisches Kalkül, dass er Cook dazu bewegen wollte, noch weiter durch Polynesien zu segeln, noch mehr jener Inseln anzusteuern, die alle Teil seiner Heimat waren.
Der Kapitän jedoch hatte eine geheime Order: für die britische Krone den sagenumwobenen Südkontinent zu entdecken, der Terra australis incognita genannt wurde, und der sich als nicht existent herausstellen sollte. Für weitere Exkursionen durch die polynesische Inselwelt fehlte die Zeit. James Cook, den eifernden Entdecker, mag die schiere Zahl an unbekannten Eilanden – zum Greifen nah, und doch nicht erreichbar – schlaflose Nächte in seiner Koje gekostet haben. Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit, dieses Wissen für spätere Entdeckungsreisen zu bewahren.
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Anja Schwarz ist überzeugt, dass alle Beteiligten um den Wert des jeweils anderen Wissens wussten: „Beide Seiten haben sich große Mühe gegeben, sich gegenseitig zu verstehen und ihre Erfahrungen zu teilen.“ Cook und seine Männer hätten Tupaia eigens Papier, Tinte und Personal zur Verfügung gestellt, erklärt Lars Eckstein. „Allein diese Tatsache zeigt: Die hatten echtes Interesse an seinem Wissen über die Inseln.“ James Cook stellte, so nehmen die Potsdamer an, seinen Leutnant Richard Pickersgill dazu ab, gemeinsam mit Tupaia eine Karte dieser Inseln anzufertigen – Tupaias Karte. Insgesamt drei Versionen entstanden mutmaßlich über ein starkes halbes Jahr hinweg aus den Kooperationen Tupaias mit verschiedenen Besatzungsmitgliedern. Im Original ist keine davon erhalten, doch es existieren drei bekannte Kopien.

Abschrift einer früheren Version von Tupaias Karte, gefertigt von Georg Forster. Verändert und reduziert von Lars Eckstein und Anja Schwarz. Winkelbestimmung anhand von Tupaias Karte: Von einem Ausgangspunkt (bspw. Raroton- ga)wird eine gedachte Linie zum Zentrum – also zum geografischen Norden – gezogen. Diese bildet einen Winkel mit einer zweiten Linie, vom Ziel (bspw. Niué) durch den Ausgangs- punkt. Im Uhrzeigersinn abgelesen gibt er den Kurs von Rarotonga nach Niué vor, in Graden wie auf einem Kompass ablesbar.

Keine einzige ist nach unseren Maßstäben lesbar. Die Inseln scheinen willkürlich über das Papier verteilt, weder die Größe der einzelnen Inseln noch ihre Position auf der Karte oder ihre Abstände zueinander stimmen mit heutigen Seekarten überein. Jahrhundertelang versuchten westliche Wissenschaftler, die Karte in ein Koordinatensystem einzupassen oder die Inseln zu verschieben und richtig zu verorten – ohne Erfolg. Nach und nach galt die Karte schlichtweg als falsch, Tupaia als Schwindler. „Es hat einfach niemand einen Weg gefunden, die Karte zu lesen“, sagt Erik Pearthree, der mit seiner Kollegin Anne Di Piazza seit vielen Jahren über die Besiedelung Polynesiens und traditionelle pazifische Techniken der Navigation forscht. „Mit der Zeit haben sich zwei Lager gebildet: Die einen dachten, die Karte sei nur ein wilder Mix verschiedener Inselnamen, der nicht auf tatsächlichem geografischen Wissen beruht.“ Die anderen dagegen hätten den Fehler bei den Europäern gesucht, erklärt Pearthree – denn die späteren Zeichner veränderten die Karte im Zuge ihrer Abschriften teilweise stark. Cook und seine Nachfolger, so lässt sich die Sichtweise zusammenfassen, hätten es wohl einfach verbockt.

Im April 1769 erreichte James Cook Tahiti. Von der Royal Society hatte er den Auftrag erhalten, dort am 3. Juni 1769 den Transit der Venus vor der Sonne zu beobachten. Die Endeavour lag in der Matavai-Bucht. Vier Jahre später ging Cook auf seiner zweiten Südseereise erneut in dieser Bucht vor Anker, mit den Schiffen Resolution und Adventure – als Gemälde festgehalten von William Hodges.

In Tupaias Karte wurde die Hoffnung gelegt, die Gültigkeit einer alternativen Wissenschaft – die Möglichkeit eines zwar anderen, aber keineswegs falschen Erkenntnissystems – zu beweisen. „Die Karte wurde zu einem wahren Artefakt polynesischer Navigation“, erklärt Pearthree. Es gab nur ein Problem: Wie ließen sich ihr diese Informationen entlocken?

In der westlichen Seefahrt kamen über die Jahrhunderte immer genauere Sextanten, Quadranten, Kompasse und später auch Chronometer zum Einsatz, um einen aktuellen Aufenthaltsort möglichst absolut und objektiv zu bestimmen. Auch unsere Land- und Seekarten zeigen ein scheinbar genaues Abbild der Welt, durch die wir uns hindurchbewegen – fahren wir mit dem Finger über eine Wanderkarte, können wir eine Route simulieren, wie wir sie am nächsten Tag begehen wollen. Die polynesische Seefahrt dagegen hat einen diametral entgegengesetzten Zugang zur Räumlichkeit: Nicht der Reisende bewegt sich durch eine fixe Welt – sondern eine dynamische Welt bewegt sich um das Individuum herum; Inseln etwa tauchen aus dem Meer auf und nähern sich einem Kanu, das im Zentrum der Wahrnehmung steht. Diese Denkweise lässt sich schlecht in starre Schemata zwängen. So beruht die polynesische Navigation nicht auf der absoluten Ortsbestimmung in einem feststehenden System. Vielmehr muss ein Segler laufend seine Umgebung neu bewerten, er muss immer wieder aufs Neue Sternfolgen über dem Horizont erkennen und die Winde, den Sonnenstand, Strömungen oder Wellen lesen, um den Status der Welt zu aktualisieren.

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Die Himmelskörper begleiten den Segler durch Tag und Nacht. Doch auch das Ziel der Reise selbst spricht zu ihm, ragt hervor aus den Weiten des Meeres, wächst heran wie ein ferner Gedanke. „Areare te tai, o Mo‘orea“ – die See gebiert die Insel Moorea; der Verlauf der Wellen, gebrochen an fernen Atollen, weist den Weg; die Vögel auf ihren Routen geben die Richtung vor, die helle Farbe des Wassers in seichten Lagunen spiegelt sich in den Wolken am Horizont – ein Kundiger weiß die Zeichen zu deuten. Er wird eins mit seinem Boot und der Umwelt, er fühlt das Meer, er spricht mit dem Wind.
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 In den 1990er-Jahren waren Anne Di Piazza und Erik Pearthree über zwei Jahre hinweg immer wieder in Segelkanus durch die Südsee geschippert, um die polynesische und die eng verwandte, aber besser erhaltene, mikronesische Kunst der Navigation zu erforschen und am eigenen Leib zu erfahren. Ihnen wurde deutlich: Tupaia musste es irgendwie geschafft haben, seinen selbstzentrierten, aus einer immerzu dynamischen Welt stammenden Zugang auf ein zweidimensionales, starres Blatt Papier zu bannen. Um mit ihrer Hilfe zu navigieren, so folgerten Di Piazza und Pearthree, muss auch der Lesende sich immer wieder neu auf der Karte verorten.

Anja Schwarz und Lars Eckstein griffen den Gedanken auf und ergänzten ihn um ein entscheidendes Konzept: den Norden. Den muss Tupaia genau im Zentrum verortet haben, wurde den Forschern im Laufe ihrer Studien klar. Er hat ihn sogar mittig auf den Karten vermerken lassen: als Eavatea, zu Deutsch „Mittag“, der durch die Position der Sonne an ihrem höchsten Punkt markiert ist – auf der Südhalbkugel also der geografische Norden. Um von einer der eingezeichneten Inseln – von einem der vielen subjektiven Ausgangspunkte also – zu einem gewünschten Ziel zu gelangen, muss die Leserin der Karte zunächst von dort aus eine gedachte Linie über den zentral eingezeichneten Norden ziehen. Eine zweite Peilung erfolgt gleichermaßen von der Ausgangsinsel zur Zielinsel. Und der Winkel zwischen beiden Linien ist nun in Graden ablesbar, ganz ähnlich, wie Tupaia sie auf Cooks Kompass kennengelernt hat. Er gibt den Kurs zum Ziel vor. Verglichen mit modernen Karten erweisen sich diese Winkel als erstaunlich präzise – meist betragen die Abweichungen weniger als fünf Grad.

Die Inseln im Zentrum stimmen weitgehend mit modernen Seekarten überein. Sie waren James Cook und seinen Männern bereits bekannt. Lars Eckstein und Anja Schwarz vermuten, dass sie diese in einem ersten Entwurf selbst eingezeichnet hatten – und dass Tupaia später die restlichen Inseln nach seinem System ergänzte. Die Reiserouten (siehe unten) vermerkten Eckstein und Schwarz zum besseren Verständnis.
Zum Vergleich: Eine moderne Mercator-Projektion jenes Gebiets im Südpazifik. Weder im Hinblick auf die absolute Lage der Inseln noch auf die Distanzen zwischen ihnen stimmt Tupaias Werk mit ihr überein. Dennoch wäre es möglich, anhand seiner Karte zu navigieren: Sie bildet mehrere Sequenzen von Inseln ab – genauso, wie sie ein polynesischer Seefahrer auf einer Reise eine nach der anderen erreicht hätte. Die jeweils einzuschlagende Richtung lässt sich aus Tupaias Karte erstaunlich exakt ablesen.

Auch für die ungewöhnliche Anordnung der Inseln haben Eckstein und Schwarz eine Erklärung. Monatelang studierten sie die Listen von Inselnamen, die Tupaia verschiedenen Passagieren der Endeavour diktiert hatte. In einem Fall stimmte deren Abfolge überein mit der Reihenfolge, in der die Inseln auf der Karte eingezeichnet sind. Die Karte zeigt keinen abstrakten Lageplan der Inseln, das wurde den Potsdamern immer deutlicher. Vielmehr ist sie das Abbild mehrerer Reisewege durch den Südpazifik – eine auf Papier gebannte Sequenz von Inseln, wie sie ein polynesischer Seefahrer, eine nach der anderen, von einem bestimmten Ausgangspunkt aus mit seinem Kanu abgesegelt hätte. Die Distanzen zwischen den Inseln finden sich nicht in der Karte. Doch die Winkel und die jeweils einzuschlagende Richtung lassen sich zuverlässig ablesen – jene Informationen also, die als Grundlage dienen für eine Reise, bei der so lange der Kurs überprüft und aufrechterhalten wird, bis das Ziel zu sehen ist.

Tupaia hat, das legt die Theorie nahe, tatsächlich eine Methode erfunden, die in Geschichten und Gesängen überlieferten Wegbeschreibungen polynesischer Meisternavigatoren in Form einer Karte zu notieren. Im Alleingang schlug er eine Brücke zwischen zwei Welten: zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition, zwischen subjektiver, ganzheitlicher Navigation und möglichst objektiven Messungen und Plänen, zwischen zwei völlig unterschiedlichen Systemen der Wissenschaft. Sollten sich die Annahmen aus Potsdam bestätigen, wäre Tupaia als Kartograf und Navigator rehabilitiert – nach Jahrhunderten des Zweifels.

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Auf der Suche nach der Terra australis hielt die Endeavour ihren Südkurs. Im Oktober 1769 sichteten die Männer Land – Neuseeland. Sechs Monate verbrachten sie damit, die Zwillingsinseln zu umrunden, zu kartografieren, Flora und Fauna zu studieren. Auf seiner Expedition im Jahr 1642 hatte der niederländische Seefahrer Abel Tasman die einheimischen Maori als wachsames, kämpferisches Volk zu fürchten gelernt. Doch mit Tupaia teilten diese nicht nur Herkunft und Geschichte, sondern auch die Sprache. Sein Wissen, seine Vermittlungen schützten die Europäer in ihrer Ignoranz und Arglosigkeit. Ihm ist es vermutlich zu verdanken, dass Cook und seine Männer die Inseln wohlauf, ja, überhaupt lebendig, verließen.

Im folgenden April erreichte die Mannschaft das benachbarte Australien. Hier jedoch stießen Tupaias Sprachkenntnisse an ihre Grenzen. Weder als Navigator noch als Diplomat wurde er fortan gebraucht.

Den postulierten Südkontinent sollte Cook nie entdecken. An der Ostküste Australiens entlang nahm das Schiff Kurs nach Norden. Die Endeavour lag vor Batavia auf der Insel Java, als Tupaia erkrankte. Vermutlich war es der Typhus, der dem von Skorbut geschwächten Polynesier schließlich zum Verhängnis wurde – im November 1770 starb er. Doch erst Ende Dezember trug Cook dessen Tod in sein Logbuch ein – „discharged dead“. Und obwohl Tupaia häufig in Cooks Tagebuch auftaucht, erwähnte der Kapitän seinen polynesischen Navigator und Übersetzer im abschließenden Bericht an die Admiralität der Royal Navy mit keinem Wort.
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Bislang steht ein umfassendes Urteil der Fachwelt noch aus; auch Anne Di Piazza und Erik Pearthree kennen die Argumentation ihrer deutschen Kollegen noch nicht in Gänze. „Unser Ansatz war, eher von der praktischen Seite heranzugehen und das anzuwenden, was wir konkret über pazifische Methoden der Navigation gelernt hatten“, sagt Pearthree. „Jetzt sind wir gespannt auf zusätzliche Einsichten aus einer historischen Perspektive.“

Lars Eckstein und Anja Schwarz selbst scheint es unwahrscheinlich, dass sie restlos alle verbliebenen Rätsel um Tupaias Karte lösen konnten. „Wir haben unseren Teil beigetragen“, sagt Eckstein. „Unser Zugang zu Archiven und digitalisierten Karten versetzt uns als Forscher in eine privilegierte Lage. Jetzt hoffen wir, dass unsere Ansätze in Polynesien aufgegriffen und weiterentwickelt werden“ – dort also, wo möglicherweise noch nicht alle Geschichten vergessen sind, wo unter einer von Mission und westlichen Denkweisen geprägten Oberfläche vielleicht noch das Wissen über die traditionellen Künste der polynesischen Navigation fortleben konnte.

Bei ihrer letzten Reise in den Südpazifik haben Schwarz und Eckstein USB-Sticks mit ihren Erkenntnissen und den digitalisierten Schätzen aus europäischen Archiven verteilt. Vielleicht geraten sie in die richtigen Hände – und können erneut das Wissen zweier Welten vereinen.

Erschienen am 28. Februar 2019 

 

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