Die Datenanglerin
Nachdem sie drei Jahre die Welt umsegelt hat, will Karen Bierstedt etwas für den Schutz der Meere tun – im Kleinen, vor der Haustür. Als »Citizen Scientist« misst sie den Sauerstoffgehalt in der Ostsee. Denn der geht die Luft aus. Ein Porträt.
Karen Bierstedt klappt einen Koffer auf und beginnt, Einzelteile zusammenzustecken: Hochseeangelrute, Spule, Schnur, Sonde. Das Segelboot, auf dem sie steht, schwankt unruhig hin und her. Hinter ihr ragen die Kräne der Kieler Bucht auf. Neben Karen Bierstedt sitzt Toste Tanhua, Ozeanograph und Skipper, also Kapitän des Segelboots. Gleich wird Bierstedt den Sauerstoffgehalt im Wasser messen. Dafür muss das Boot bestenfalls zum Stehen kommen. Der Skipper dreht bei, dann nimmt er die Fahrt aus dem Boot, sodass es nur noch mit ein bis zwei Knoten quer zum Wind und den Wellen treibt.
Die Sonde, die Bierstedt in den Händen hält, ist ein zylinderförmiges Rohr. Wenn man es auseinanderschraubt, kommen drei Sensoren zum Vorschein, die mit Plastikkappen geschützt sind. Fast vergisst Bierstedt, die Kappen abzunehmen. Trotzdem wirkt sie gewissenhaft, will alles richtig machen. Sie schraubt die Sonde wieder zusammen und befestigt sie an der Angelschnur. Kurz schwingt die Sonde an der Angel über der Wasseroberfläche. Dann lässt Bierstedt sie ins Wasser ab.
54° 28.557′ N, 10° 21.392′ E, Kieler Bucht*
Tiefe: Wasseroberfläche
Sauerstoffgehalt: 270 µmol/kg
(*Die Daten sind von einer aussagekräftigen Messung im August 2023.)
Karen Bierstedt, kurze graue Haare und helle Brille, Mitte 50, ist eine erfahrene Seglerin, die mit ihrer Familie schon einmal um die Welt gesegelt ist. Für das Citizen-Science-Projekt »Sailing for Oxygen« sammelt sie in der Kieler Bucht, zwischen dem Kleinen und Großen Belt, Daten zu Sauerstoff, Salzgehalt, Temperatur und Messtiefe. Der Kleine Belt, der Große Belt und Öresund, das sind drei dänische Meerengen, die die Ostsee über das Kattegat-Gebiet mit der Nordsee verbinden. Karen Bierstedt will wissen, wie es um die Sauerstoffversorgung in diesen Meerengen steht.
Denn in den Tiefen der Ostsee gibt es bereits Gebiete mit Sauerstoffmangel – und sogar solche, die frei von jeglichem Sauerstoff sind. Den Sauerstoffgehalt gibt man in der Einheit Mol an, also der Stoffmenge: Größere Lebewesen, etwa verschiedene Fischarten, brauchen einen Sauerstoffgehalt zwischen 50 und 100 Mikromol Sauerstoff pro Kilogramm Wasser. In manchen Zonen fällt der Wert unter 10 Mikromol pro Kilogramm Seewasser. Diese Gebiete werden immer größer. Und das wirkt sich auf das marine Ökosystem, die Fischerei und das Klima aus: Ohne Sauerstoff können Tiere dort nicht überleben. Es entstehen sogenannte Todeszonen.
Bierstedt ist eigentlich Verkehrsplanerin in Kiel, sie analysiert zum Beispiel die Auslastung der Schwentine-Fähre. Sie ist keine Wissenschaftlerin, aber sie will Forschenden helfen, die Zusammenhänge im Meer besser zu verstehen. Dafür braucht es Messdaten, sehr viele Messdaten. Und weil Forschungsschiffe und Wissenschaftler:innen an Bord teuer sind, brauchen die Expert:innen die Hilfe von Hobbywissenschaftler:innen. Deshalb ist Bierstedt als Datenanglerin unterwegs.
Was sie antreibt: Sie will die Wissenschaftsskepsis in der Gesellschaft abbauen. »Es nervt mich, dass gut belegte, wissenschaftliche Fakten oft zur Seite gewischt werden, um dann einfach irgendwelche Behauptungen in die Welt zu setzen«, sagt Karen Bierstedt. Umweltschutz und Klimawandel beschäftigen sie schon, seit sie Jugendliche ist. In der Oberstufe machte sie eine Hafenrundfahrt zu den Entwässerungsanlagen ansässiger Industriebetriebe, die Abwasser in die Elbe pumpten. Zu dieser Zeit, in den 80ern, badeten noch vereinzelt Menschen in der Elbe. Doch bald ließ man es sein, weil klar wurde, dass das gesundheitsgefährdend sein kann. »Das tut einem schon weh, wenn man sieht, wie die Elbe als Naturraum belastet war und ist«.
2009 kauften Karen Bierstedt und ihr Mann ein Segelschiff. Fast 12 Meter lang, mit allen erdenklichen Ersatzteilen und einigen Gastlandflaggen an Bord, das sind kleine Nationalflaggen der Länder, in denen sich ein ausländisches Schiff gerade befindet. Sie gaben sich drei Jahre Zeit, um die Erde gemeinsam mit ihren Kindern einmal zu umrunden, von Portugal über die Kapverden, durch die Karibik, den Panamakanal und über Australien nach Südafrika. Segler:innen nennen es die Barfußroute, die überwiegend entlang des Äquators verläuft – meist kann man barfuß über das sonnenwarme Deck laufen. »Wenn man als Seglerin auf dem Wasser unterwegs ist, wird einem bewusst, wie enorm wichtig das Meer für die Menschheit ist. Und wie frevelhaft wir damit umgehen.« Auch an den Sandstränden, an denen sie mit ihren Kindern spielte, fiel ihr etwas auf: Strohhalme, Plastiktüten, Verpackungen. Ein menschgemachtes Müllproblem, unübersehbar.
Tiefe: 5 Meter
Sauerstoffgehalt: 265 µmol/kg
Nach der Segelweltreise hatte Bierstedt das Bedürfnis, mehr für den Klimaschutz zu tun. Im Kleinen, vor der eigenen Haustür, wie sie sagt. Erst machte sie das vor allem im Privaten und fuhr zum Beispiel nur noch mit dem Fahrrad durch Kiel. Seit 2023 führt sie die Messungen für »Sailing for Oxygen« durch – auch aus einer wissenschaftlichen Neugier heraus. Sie fragt sich: Warum gab es im Sommer so viel Algenblüte bei Lübeck, warum also haben sich die Algen so plötzlich und stark vermehrt? Und was hat es mit den toten Fischen in der Eckernförder Bucht auf sich? Karen Bierstedt will als Hobbywissenschaftlerin »Wissen generieren, das vielleicht einmal der gesamten Menschheit zugutekommen wird«. Deshalb steht sie an einem Donnerstagnachmittag im Oktober an Bord eines Segelschiffs in der Kieler Bucht und lässt die Sonde an der Angel immer tiefer hinabsinken.
Die Daten, die die Sonde sammelt, landen später bei Toste Tanhua. Er ist chemischer Ozeanograph am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, ebenfalls in Kiel, sowie wissenschaftlicher Leiter des Projektes »Sailing for Oxygen«. Mit Karen Bierstedt verbindet ihn die Liebe zum Blauwassersegeln. So nennt sich das Segeln auf dem offenen Meer, tage- oder wochenlang, weit weg von der Küste, wo das Wasser meist tiefblau ist. Auch Tanhua ist schon über den Atlantik gesegelt, von Göteborg, wo er studierte, nach San Diego, wo er eine Stelle als Postdoc antrat. Seit über 20 Jahren forscht er am Geomar in Kiel. Anfang 2023 lernten sich der Ozeanograph und die Seglerin kennen. Tanhua wollte ein Citizen-Science-Projekt ins Leben rufen, um den Sauerstoffgehalt in verschiedenen Wassertiefen in der Ostsee zu messen. Karen Bierstedt suchte als Mitglied des Hochseesegel-Vereins »Trans-Ocean« nach Möglichkeiten, sich auf dem Wasser für die Umwelt einzusetzen. »Die Langfahrtsegler:innen werden unmittelbar konfrontiert mit dem Müll an den Stränden«, sagt Bierstedt. »Oder mit unzuverlässigen Passatwinden oder Wirbelstürmen« – mit Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels also. »Die wollen aktiv werden.« So entstand das Citizen-Science-Projekt »Sailing for Oxygen«. Über drei Jahre hinweg sollen Segler:innen nun eine solide Datengrundlage für die Wissenschaft sammeln. Dieses Wissen ist nötig, um Maßnahmen zu erarbeiten – damit die Ostsee nicht immer mehr zur Todeszone wird.
Tiefe: 15 Meter
Sauerstoffgehalt: 250 µmol/kg
Die Ostsee ist als Binnenmeer vergleichbar mit einer Badewanne – relativ flach und ringsum abgeschlossen mit nur wenigen Zuflüssen. Ist das Wasser verschmutzt, kann der Sauerstoffgehalt drastisch abnehmen, die Wasserqualität verschlechtert sich. Eine Besonderheit der Ostsee ist, dass sie sich in zwei Wasserschichten unterteilt, die sich nur wenig vermischen. Unten ist das salzhaltige Wasser, das manchmal aus der Nordsee über das Meeresgebiet Kattegat zwischen Dänemark und Schweden herüberschwappt. »Das nennen wir Salzwassereinbrüche«, sagt Toste Tanhua im Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel, etwa zwei Kilometer Luftlinie von Karen Bierstedts Messpunkt entfernt. Die obere Schicht der Ostsee besteht aus süßerem Wasser, das aus Flüssen in die Ostsee strömt. Durch den unterschiedlichen Salzgehalt haben die Wasserschichten eine unterschiedliche Dichte. Das verhindert, dass sich Süß- und Salzwasser durchmischen. Bis das Wasser in der Badewanne einmal komplett ausgetauscht ist, können 30 Jahre vergehen.
Normalerweise gelangt Sauerstoff über die Wasseroberfläche ins Meer. Doch die Süßwasserschicht wirkt für das schwere Salzwasser am Boden wie eine Abdichtung. Durch den Dichteunterschied wird der Sauerstoff aus der oberen Schicht nur sehr langsam in die tiefere Schicht transportiert.
Wenn in den Tiefen des Meeres sauerstoffarme oder sogar sauerstofffreie Zonen entstehen, sprechen Ozeanograph:innen wie Toste Tanhua von suboxischen oder anoxischen Zonen. Tanhua lehnt aber auch den vermeintlich unwissenschaftlichen Begriff der Todeszone nicht ab. Es stimme ja: Fische, Krebse oder andere wirbellose Tiere können in diesen Zonen kaum überleben. Die ohnehin schon geringe Biodiversität in der Ostsee leide darunter, so Tanhua. Kommerziell wichtige Fischarten wie Dorsche oder Heringe ziehen fort und legen ihre Eier in sauerstoffreicherem Gewässer ab.
Obwohl die Ostsee als Binnenmeer oder Badewanne zwar anfällig ist für Sauerstoff-Minimum-Zonen, sind sie kein rein natürliches Problem: Der Mensch trägt einen großen Anteil daran. Ein Problem ist der zu hohe Nährstoffeintrag, auch Eutrophierung genannt. Aus der Landwirtschaft gelangen Düngemittel über Felder und Flüsse in die Ostsee. Dazu kommt Abwasser aus Kläranlagen und Industrie. So gelangen Phosphate und Nitrate ins Wasser, die das Wachstum von Algen begünstigen. Diese sterben im Sommer ab und sinken auf den Meeresboden, wo sie von Bakterien zersetzt werden, die auch noch Sauerstoff verbrauchen. Zusätzlich sorgt der menschengemachte Klimawandel für steigende Wassertemperaturen. Warmes Wasser fördert wiederum die Algenblüte – und kann weniger Sauerstoff aufnehmen als kaltes. Die Folge: noch mehr herabgesunkene Biomasse, noch weniger Sauerstoff. Mit dem Spätsommer kommt auch der Tiefpunkt des Sauerstoffgehalts.
2018 verabschiedeten Meereswissenschaftler:innen im Rahmen einer internationalen Konferenz die »Kieler Erklärung zur Sauerstoffabnahme im Ozean«. Sie liest sich wie ein Appell: Die Zonen in den Weltmeeren, denen jeglicher Sauerstoff fehlt, sind in den vergangenen 50 Jahren um das Vierfache gewachsen. Die Ostsee dient aufgrund ihrer natürlichen Lage oft als Paradebeispiel für das Phänomen. Doch die anoxischen Zonen kommen auch in norwegischen Fjorden, im Schwarzen Meer oder im offenen Ozean vor.
Auch Karen Bierstedt hatte irgendwann das Gefühl, dass ihr die Luft ausgeht. Es gibt so viel zu tun und der Klimawandel ist ein so großes Problem, gegen das sie allein nicht ankommt. Selbst im Kleinen, bei den Projekten vor ihrer Haustür, ging einiges schief: Die Lieferung der Messinstrumente verzögerte sich und die Sonden, die dann in Kiel ankamen, waren falsch verbaut. »Das war schon frustrierend für die Mitarbeitenden des Geomar, für die Leute von ›Trans-Ocean‹ und für mich auch«, sagt Bierstedt, »aber Wissenschaft braucht eben einen langen Atem«.
Meist hingen solche Citizen-Science-Projekte an wenigen engagierten Personen, sagt sie und meint damit Toste Tanhua. Doch sie selbst gehört auch zu dieser Sorte. Tanhua erlebte Bierstedt bei »Sailing for Oxygen« als aktive Person, sozial, aber nicht extrovertiert. Als jemanden, die keine Arbeit scheut, sich aber nicht in die vorderste Reihe drängt.
Karen Bierstedt ist ein Vereinsmensch: Neben »Trans-Ocean« ist sie beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club und in einer Betriebssportgruppe. Auch im Nachbarschaftstreff und im Elternbeirat an der Schule ihrer Kinder engagierte sie sich. Irgendwann schaffte sie das alles nicht mehr. Im vergangenen Jahr steuerte sie auf einen Burnout zu. Nach der Segelsaison holte sich Karen Bierstedt Hilfe. »Ich habe eine Therapie gemacht, weil es mir zu viel wurde.« Dort hat sie gelernt, gezielter Nein zu sagen und sich die nötigen Auszeiten von Job und Ehrenamt zu nehmen. »Zeit und Kraft sind endlich«, sagt Karen Bierstedt. Leider sei es oft so, dass Menschen so sehr in der Wissenschaft aufgehen, dass sie sich selbst dabei vergessen. Bierstedt will weiter die Ostsee schützen. Jetzt achtet sie aber darauf, dabei auch sich selbst zu schützen.
Tiefe: Meeresgrund
Sauerstoffgehalt: 130 µmol/kg
Die Messdaten, die Segler:innen wie Karen Bierstedt schon gesammelt haben, geben bisher Entwarnung: Noch haben sie keine Todeszone in der Kieler Bucht gefunden. Doch laut Tanhua gibt es sie. Deshalb untersuchen sie das Gebiet weiter.
Auf dem Segelboot in der Kieler Bucht packt Karen Bierstedt die Messgeräte wieder in den Koffer: Sonde, Schnur, Spule, Hochseeangelrute. Für heute hat sie genug Daten gesammelt. Der Skipper Tanhua lenkt das Boot so in den Wind, dass es wieder Fahrt aufnimmt. Das Segel flattert. Die Leinen schlagen gegen den Aluminiummast.
Nachdem das Boot angelegt hat, fährt Karen Bierstedt nach Hause. Sie lebt unweit des Nord-Ostsee-Kanals, der meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße der Welt. Dort fuhr sie schon als Kind mit Eltern und Schwester auf dem Familiensegelboot in den Urlaub. Das Segeln war von Anfang an Teil ihres Lebens: »Ich bin im Januar geboren und im April ging die Segelsaison auf der Elbe los.« Schon mit drei Monaten war sie mit an Bord. Nun wohnt Karen Bierstedt im Kieler Stadtteil Wik in einem ehemaligen Marinekrankenhaus, das zehn Familien gemeinsam umgebaut haben. Im Bücherregal in ihrem Wohnzimmer liegt Frank Schätzings Roman »Der Schwarm«. Von ihrem Schreibtisch kann sie direkt auf die Kieler Bucht blicken. »Man merkt nicht, was in den Tiefen der Ostsee passiert«, sagt Karen Bierstedt. Und doch ist das Meer für sie immer präsent.
Erschienen am 16. Januar 2024
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