Der Bewahrer
Als Hobbyhistoriker sucht Reinhard Simon nach Namen und Geschichten von Menschen aus seiner Heimat, die von den Nationalsozialist:innen ermordet wurden. Er begibt sich auf eine Reise durch Archive, Akten, Erinnerungen. Dabei ist er auf eine Frau gestoßen, die seinen Nachnamen trug. Ein Porträt.
Reinhard Simon ist wie ein Baum: tief verwurzelt in seiner Heimatstadt Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist er geboren, hier will er sterben.
Er wohnt in einem Reihenhaus, arbeitet seit 34 Jahren als Diplom-Agrarpädagoge im selben Amt, im Amt für Umwelt- und Naturschutz. Er hat zwei Kinder, drei Enkelkinder und jedes Jahr reist er mit seiner Frau eine Woche lang nach Polen, in dasselbe Wellness-Hotel, um »es sich gut gehen zu lassen«, wie er sagt.
Aber manchmal streckt er seine Arme wie Äste dieses Baumes über den Gartenzaun hinaus, um die Lebensgeschichten von Menschen zu erfühlen, die im nationalsozialistischen Deutschland ermordet wurden. Menschen aus seiner Heimatstadt.
Reinhard Simon, 61 Jahre alt, ist Hobbyhistoriker. Er hat viele Archive durchstöbert, hat Bibliotheken durchforstet. Mit einem Ziel: Er will Schnipsel und so viele Teile wie möglich zusammensetzen – zu einem Puzzle, das nie vollständig werden wird. Denn bei allem, was er herausfindet, gibt es kein Happy End, keine Hoffnung. Die Geschichte endet für niemanden der Menschen gut, das weiß Simon. Ihm geht es darum, Menschen, die von den Nationalsozialist:innen ermordet wurden, ein Gesicht zu geben. Einen Namen. Eine Geschichte.
Im Jahr 2023 stößt er in Sobibor, Polen, auf eine Frau, die seinen Nachnamen trägt. Er besucht damals im Rahmen einer Bildungsreise das ehemalige Vernichtungslager dort und tippt in der Opferdatenbank »Neustrelitz« ein. Dann erscheint ein Name: Lilli Simon. Eine Jüdin aus seiner Heimatstadt. Später erfährt er: Sie hatte noch einen Sohn, Eli Simon, ein Jahr alt. Beide ermordet von den Nationalsozialist:innen. Reinhard Simon ist schnell klar: Lilli Simon ist keine Verwandte, obwohl sie denselben Nachnamen trägt. Trotzdem geht er ins Stadtarchiv Neustrelitz und liest ihre Geburtsurkunde. Und er findet heraus, dass sie in dem Haus geboren wurde, in dem er jahrelang selbst wohnte.
Simon reist nach Berlin, sucht dort auf einem jüdischen Friedhof das Grab ihres Vaters, er sucht die Grundschule, in der Lillis Tochter zur Schule gegangen sein soll. Er fährt noch einmal nach Sobibor, im Oktober 2024, und installiert dort zusammen mit einer polnischen Schulklasse einen Gedenkstein für Lilli und ihren Sohn. Ihre Geschichte lässt ihn nicht los.
Simon sagt: »Manchmal artet das in eine Sucht aus.« Er lacht. Und wird ernst. Die Geschichte von Lilli Simon ist nicht das erste Puzzle, das er zusammenzusetzen versucht.
Im November 2024 fährt Reinhard Simon mit mir an den Ort, an dem für ihn alles begann: die Landesirrenanstalt Domjüch in seinem Heimatort Neustrelitz. Es ist still am Domjüchsee, dessen Wasser seicht an das Ufer schwappt. Hecken und Alleen mit Pyramideneichen rahmen die Ruinen. Der Wind fegt die braunen Blätter über den Rasen, Simon stiefelt zwischen den grauen Gemäuern hindurch. An manchen Wänden leuchten Graffitis, vor ein paar Jahren hat hier ein Kunstfestival stattgefunden. Die Domjüch hat Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder Behinderung erst verwahrt, viele zwangssterilisiert und anschließend in Tötungsanstalten transportiert.
Reinhard Simon hat Krankenakten der Patient:innen gelesen. In vielen erkannte er Teile seiner eigenen Diagnose wieder: Vor einigen Jahren erkrankte er an einer Depression. Lange hat ihn eine Frage umgetrieben: Wäre auch ich ermordet worden, hätte ich im nationalsozialistischen Regime gelebt? Heute sagt er: »Ja, wahrscheinlich wäre ich ermordet worden.«
1933 erließ die nationalsozialistische Regierung ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das eine Zwangssterilisierung von »erbkranken« und »alkoholkranken« Menschen vorsah. Die Idee stammte maßgeblich von zwei Vordenkern, dem Strafrechtler Karl Bindung und dem Psychiater Adolf Hoche. Sie schreiben in ihrer Abhandlung von 1922 über Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens:
»[…] wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt.« Diese Idee gipfelte in der systematischen Ermordung von Menschen in der »Aktion T4«. Unter den Opfern waren auch Patient:innen aus der Domjüch.
»Aber keiner kannte die Namen, außer ein paar Wissenschaftlern«, sagt Simon. »Mein Ziel war es, allen Neustrelitzern, die dort in der Anstalt waren und umgebracht wurden, einen Namen zu geben. Sie sollten nicht vergessen werden.« 2018 begann er, die Geschichten der Ermordeten zu recherchieren.
Dieses Benennen sei wichtig, es stelle einen Akt des Respekts und der Würdigung dar, sagt Judith Hahn. Sie ist Historikerin und Ausstellungskuratorin am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité. Sie erklärt das am Beispiel der Konzentrationslager und erzählt von Berichten der KZ-Überlebenden: »Dort liest man oft von der Einweisung ins Lager. Dieses Aufnahmeritual, bei dem eine Person von einem Namen zur Nummer wird, beschreiben viele als traumatisch. Sie mussten ihre Kleidung ablegen, Gefängniskleidung anziehen, ihre Habseligkeiten wurden eingesammelt, ihre Haare geschoren, sie wurden leibesvisitiert. Häftlinge fühlten sich, als wären sie keine Individuen mehr, gedemütigt und degradiert. Das Nennen des Namens ist daher eine Form postmortaler Würdigung.«
Auf der Domjüch öffnet Simon die Tür zum Verwaltungsgebäude. Seit Jahren kämpft er mit einem Verein dafür, diesen historischen Ort zu erhalten. Die Alarmanlage fiept. Stufen führen uns in einen backsteinernen Gang hinauf, nach links gehen Zimmer ab. Eine kleine metallene Rampe führt in einen kahlen Raum hinein, weiße Fliesen an den Wänden bis auf Augenhöhe, oberhalb liegt der Putz frei. An den Wänden hat Simon Tafeln aufgehängt. Sie erzählen die Geschichte der Krankenmorde in Neustrelitz. Namen stehen auf den Wandtafeln, dabei alte Fotografien der Opfer. Das hier, das ist seine Arbeit.
Drei Jahre lang hat Reinhard Simon die Geschichten der Domjücher Patient:innen recherchiert. Er eilt hinaus, holt aus dem Kofferraum seines Autos einen Stoffbeutel mit drei schweren Ordnern, in denen er all die fotokopierten Akten, Dokumente, Briefe, Archivmaterialien abgeheftet hat. Zu Hause stehen noch weitere Ordner. Mit all den Zeugnissen will er die Tür zur Vergangenheit öffnen. »Wenn ich Archivakten bekomme, dann lese ich: Aha, eine der Patientinnen aus der Domjüch war in Erfurt, und überlege dann, ob dort noch etwas liegt.« So hangelt er sich von Ort zu Ort – er liebt die Archivarbeit. »Das ist in gewisser Weise vielleicht auch pathologisch oder so.« Er lacht. »Ich muss weitermachen, koste es, was es wolle. Dann muss ich eben wieder zwei Tage Urlaub nehmen und nach Erfurt fahren ins Archiv. Und dann muss ich den Urlaub einen Tag verlängern, weil ich dort erfahren habe, dass in Weimar noch mehr Material liegt.«
Simon hat sogar einen regionalen Verlag gefunden, der seine Recherchen publizierte. Domjücher Schicksale heißt sein Buch. Darin stehen alle bekannten Namen von Opfern, die im Sommer 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg transportiert wurden. Sie heißen unter anderem: Max Gabriel, Else Reglin, Alma Voss oder Heinrich Winkelmann. Ein Erfolg für Simon – doch die Hobbyarbeit bringt auch Schatten mit sich: Eines Tages schrieb ein Nachfahre ihn an, verlangte, dass der Name seiner Großmutter als Täterin gestrichen werde. Sie war Pflegerin in der Domjüch und arbeitete später als KZ-Aufseherin.
Gleichzeitig kommen auch Menschen auf Reinhard Simon zu, die seine Arbeit wertschätzen. Die sagen, dass sie die Opfer kannten. »Das ist genau das, was ich wollte. Dass diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten.« Einmal ist Simon in ein nahegelegenes Dorf gefahren, hat Nachfahrinnen einer ermordeten Domjücher Patientin ausfindig gemacht – und ihnen eröffnet, woran ihre Tante und Großtante wirklich gestorben ist. Bis dahin war das der Familie nicht bekannt. »Das ist vielleicht ein dummes Wort, aber es macht mich auch stolz, weil ich merke: Die Arbeit, die ich mache, war nicht umsonst.« 2019 gewann Simon den Annalise-Wagner-Preis, einen regionalen Literaturpreis.
Hobbyhistoriker:innen wie Simon leisten bedeutende Beiträge und stoßen Debatten an, besonders im Arbeitskreis zur Erforschung der NS‑»Euthanasie« und Zwangssterilisation. Dieser Arbeitskreis vereint Wissenschaftler:innen, Gedenkstättenmitarbeiter:innen und Angehörige, die Familienforschung betreiben. Diese Hobbyforschenden füllten oft Lücken in Bereichen, die die etablierte Wissenschaft noch nicht bearbeitet habe, sagt Judith Hahn.
Reinhard Simon, Mitglied dieses Arbeitskreises, betont seine Freiheit als Hobbyhistoriker. Im Gegensatz zu professionellen Kolleg:innen müsse er weniger präzise sein und habe keinen wissenschaftlichen Anspruch. In seinem Buch platziert er Worte wie »vermutlich«, »wohl«, »vielleicht«. »Mir wurde gelegentlich vorgeworfen, Vermutungen ohne Belege zu äußern«, sagt Simon. »Aber als Hobbyhistoriker kann ich das so schreiben und als persönliche Meinung kennzeichnen.«
Auch wenn Simon keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gewinnt, sprechen Historiker:innen davon, dass seine Forschung eine andere Funktion erfülle: eine erinnerungspolitische, die für Bildungsarbeit wichtig sei. So hat Simon Schülerinnen aus dem Neustrelitzer Gymnasium in einer Projektwoche unterstützt, die Lebensgeschichte von Anna Ziolkowski zu erarbeiten, einer Domjücher Patientin, die in Bernburg vergast wurde. Heute hängt am Zaun des ehemaligen Kinderheims eine Gedenktafel für sie.
Inzwischen arbeitet Simon an einem neuen Buch – über Lilli Simon und ihren Sohn. Um mehr über sie zu erfahren, will er an einem Wochenende im November mit mir zusammen in die Niederlande reisen, um Lilli Simons letzte Wohnorte zu besuchen. Doch: Eine Erkältung reißt ihn raus. Irgendwie ist er ganz froh darüber, er brauche mal eine Pause, sagt er. Von all den Morden.
»Manchmal geht es mir doch an die Nieren, wenn man das so hautnah erlebt, und irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem ich mich mit anderen Themen beschäftigen oder auch mal andere Bücher lesen muss.« Schließlich habe er Dutzende Romane gelesen über diese Zeit. Er erzählt von einem Gespräch mit seiner Frau:
Simons Frau: Willst du nicht mal was anderes lesen?
Simon: Was denn?
Sie: Zum Beispiel einen Krimi?
Simon: Von Fitzek oder wie?
Jetzt liest er ein Buch übers Gärtnern. »Das ist von einer Schriftstellerin, die schreibt, wie Menschen ihr Glück finden, indem sie Gärten anlegen.«
Reinhard Simon hat viel versucht, um das Leben von Lilli und Eli Simon auszuleuchten. Hat mehrmals Archive in Polen angeschrieben, um Unterlagen gebeten. Keine Antwort. Er bat eine Kollegin um Hilfe, die in polnischer Sprache mit den Archiven telefonierte. Nichts. »Es würde mir reichen, wenn sie sagen, dass sie keine Unterlagen haben. Punkt. Aber noch nicht mal eine Reaktion – das ist für mich frustrierend. Frustrierender, als wenn ich wüsste: Okay, da gibt es nichts, Schluss, Feierabend.«
Als Spurensucher landet er auch mal in Sackgassen. Seine Hoffnung, um mehr über Lilli Simon zu erfahren, ist aktuell die »World Jewish Relief«, eine Organisation in England, die Dokumente und Nachlässe geflohener Juden aufbewahrt. Simon fragt die Organisation, ob es Akten von Lillis Tochter, Marianne Simon, gebe, die er einsehen könne. Marianne kam als Kind mit einem Kindertransport nach England.
Ich frage ihn: »Geht es auch darum, dass du nicht vergessen werden möchtest?«
Er schweigt erst, wird rot.
Sagt leise: »Ja.«
Und dann immer lauter: »Ja, ja, ja.«
Ich: »Ist ja keine Schande.«
Er: »Nein, nein. Ja, sicherlich. Also ja klar, man ist natürlich stolz, wenn man da irgendwas der nächsten Generation überlassen kann, und wenn es nur ein Buch oder irgendwas ist. Ja klar, warum nicht?«
Denn manchmal öffnet sich doch eine neue Tür. Über Facebook hat er gerade tatsächlich Lillis Enkelin aufgestöbert, die Tochter ihrer Tochter Marianne. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in England. Bald will Reinhard Simon dorthin fliegen – und die Frau treffen, die ihm so viel mehr über die Vergangenheit erzählen kann.
Erschienen am 16. Januar 2024
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