Wie können wir eine wachsende Weltbevölkerung nachhaltig ernähren? Und welche Rolle werden Fleisch, Biolandwirtschaft und Gentechnik dabei spielen? Ein Interview mit dem Agrarwissenschaftler Urs Niggli.
Herr Niggli, wir erreichen Sie in einer Schule. Gerade haben Sie einen Vortrag zur Welternährung gehalten. Wie kommt das Thema dort an?
Die Schüler waren höchst interessiert! Sie hatten sich intensiv vorbereitet, hatten Podcasts angehört, sich eingelesen. Eine Frage elektrisiert die jungen Menschen vollständig: Wo sind die Hebel, wo können wir etwas ändern? Wo können wir tatsächlich transformativ arbeiten, in der Ernährung wie auch in der Landwirtschaft? Wir haben sehr intensiv über Lösungsansätze diskutiert. Da sind sehr viele spannende Ideen gekommen.
Und – was ist die Lösung für eine nachhaltige Welternährung?
Wir müssen zu einer suffizienten Ernährungskultur kommen, also unseren Lebensmittelkonsum mäßigen und uns bewusster ernähren. Die Schüler haben erstaunlich viele Vorschläge für mehr staatliche Vorschriften gemacht: etwa, mit wahren Kosten und wahren Preisen zu arbeiten oder ein Werbeverbot für Fleisch einzuführen. Aber auch für eine Verführung – also zum Beispiel mit einer kreativen veganen Küche.
Was wäre der erste, allerwichtigste Punkt, den wir konkret ändern müssen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion?
Den Fleischkonsum zu reduzieren, das ist sicher eine wichtige Stellschraube. Das Problem ist aber, dass global gesehen die Tier- und damit auch die Sojaproduktion bislang weiter massiv ansteigt. Und es gibt kein Zeichen einer Veränderung, einer Einsicht. Wissen Sie, ich habe einen Plan A: Dass wir gute Menschen sind, dass wir alle vernünftig reagieren. Und da wissen wir alle längst, was zu tun ist, da brauchen wir keine Wissenschaft mehr.
Aber Sie haben auch einen Plan B.
Der ist für den Fall, dass wir eben nicht vernunftbegabte Wesen sind, dass wir auf Bedrohung zu spät reagieren. Für meinen Plan B habe ich mich einem breiteren Innovationsspektrum geöffnet. Soziale, ökologische und institutionelle Innovationen sind in jedem Fall notwendig – zum Beispiel die solidarische Landwirtschaft als soziale Innovation, in der sich Bauern mit Verbrauchern zusammenspannen und sich alle gemeinsam an der Arbeit, aber auch am Kapital beteiligen. Oder Modelle, in denen sich Landwirte zusammentun und so alle ihr Einkommen verbessern. Aber für den Plan B brauchen wir auch technologische Innovation. Wir kommen wohl nicht umhin, uns auch der besten Lösungen aus der Molekularbiologie, der Digitalisierung und der Nanotechnologie zu bedienen.
Beim Biolandbau, Ihrem großen Forschungsthema, hat man oft das Gefühl, dass er nicht gerade offen ist für Innovation.
Der Biolandbau ruht sich auf seinen Innovationen des 20. Jahrhunderts aus. Das späte 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhundert waren von Erdöl, Bergbau und Chemie geprägt. Die Biobauern sind dann mit einer revolutionären Idee gekommen: einer biologischen Innovation. Sie wollten chemischen Input durch betriebsinterne Prozesse ersetzen, etwa über Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität. Eine enorme Leistung! Deutschland hat sich jetzt das Ziel gesteckt, bis 2030 auf 30 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen Biolandbau zu betreiben, die EU plant immerhin mit 25 Prozent. Aber selbst, wenn die EU mit ihren Plänen Erfolg hat und wir 25 Prozent Biolandbau haben werden, bleibt viel übrig. Ich suche Lösungen für diese 75 Prozent. Da braucht es viel technologische Innovation.
Und da würden Sie inzwischen auch die Gentechnik nicht mehr ausschließen, richtig?
Vorweg, um nicht missinterpretiert zu werden: Ich befürworte nicht den Einsatz der Gentechnik im Biolandbau. Der Biolandbau funktioniert sehr gut nach eigenen Gesetzen. Allerdings habe ich 30 Jahre lang Wissenschaft in diesem Bereich betrieben, mit sehr vielen Geldmitteln – zum Schluss habe ich als Leiter des FiBL mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr in die Bioforschung stecken können. Aber wir haben einfach gesehen, dass wir langsam an ein Optimum kommen. Dass wir im Biolandbau gewisse Probleme nicht mehr lösen und die Erträge nicht weiter steigern können. Wir kommen beim Biolandbau einfach nicht heraus aus dieser Ertragslücke von 20 bis 25 Prozent gegenüber konventionellem Ackerbau. Aus der Sicht der Globalernährung ist das keine Lösung – deshalb stagniert der Biolandbau weltweit bei zwei Prozent. Die Genschere CRISPR/Cas ist ein sehr gutes Züchtungsinstrument, das wir nutzen sollten. Die EU-Kommission hat dazu Anfang Juli dieses Jahres einen guten Vorschlag gemacht, wie die Genschere im Gesetz geregelt werden sollte. Und für die konventionellen Bauern hätte ich lieber eine gute Züchtung als noch mehr Pestizide und Stickstoffdünger auf den Feldern.
CRISPR/Cas ist die Technologie, die oft als die »neue« Gentechnik bezeichnet wird. Was könnte sie konkret beitragen zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft?
Ich bin überzeugt, dass die Genschere mit sehr geringen Veränderungen riesige Effekte erzielen kann. Genau die, die man sucht – sei es eine Krankheits- oder eine Insektenresistenz, ein besseres Vermögen zur Nährstoffaufnahme oder auch eine Resistenz gegenüber Wasser- oder Trockenstress in einem immer wärmeren und trockeneren Klima. Und solch eine resistentere Pflanze kann man auch in ein sehr nachhaltiges Anbausystem hineinstellen.
Für viele ist die grüne Gentechnik ein absolutes Tabu, auf Seiten der Verbraucher:innen genauso wie in der Landwirtschaft. Die Menschen haben Angst um ihre Gesundheit oder um die Umwelt.
Seit 30 Jahren war ich immer wieder in verschiedenen Kommissionen zur Risikoabschätzungen dabei. Ich war dort stets der Bio-Vertreter, das grüne Feigenblatt. So konnte ich mich immer sehr intensiv mit den Ergebnissen auseinandersetzen. Und aus allen diesen Untersuchungen, die ich kenne, wird deutlich: Es ist nirgends eine ökologische Katastrophe passiert, auch nicht mit der »alten« Gentechnik.
Die wird ja seit Jahrzehnten in der Landwirtschaft angewandt, oft auf riesigen Flächen. Wenn wir darauf zurückblicken: Hat die Gentechnik dazu beigetragen, die Landwirtschaft nachhaltiger zu machen?
Nein. Mittlerweile sagen fast alle, dass die Gentechnik völlig falsch angewandt wurde. Die Konzerne haben sie monopolisiert, für ihre Zwecke genutzt, die Anbausysteme damit noch weiter intensiviert und industriell simplifiziert. Aber das hatte weniger mit der Gentechnik als Technologie zu tun, als vielmehr mit den ökonomischen Rahmenbedingungen – und Profiteure waren übrigens nicht nur die Konzerne, sondern auch die Verbraucher, die zum Beispiel billiges Fleisch auf ihrem Teller hatten. Mittlerweile ist auch in der Wissenschaft klarer, auch unter Molekularbiologen und Gentechnik-Forschern, dass zum Beispiel die Patentierung von gentechnischen Verfahren eine Fehlentwicklung war.
Aber warum sollte Gentechnik dann in Zukunft einer nachhaltigeren, weniger monopolisierten Landwirtschaft dienen?
Die alte Gentechnik war teuer in der Anwendung und die Zulassungskriterien waren so schwierig, dass zum Beispiel kleine Züchter sie gar nicht nutzen konnten. CRISPR/Cas dagegen ist mittlerweile an staatlichen Universitäten und Forschungsinstitutionen so breit etabliert, dass es eine Monopolisierung durch die Industrie nicht mehr geben wird. Die öffentliche Forschung trägt diese Entwicklung. Damit ist das, was wir seit einigen Jahren erleben, auch eine Demokratisierung der Gentechnik. Und ich vertraue in die Wissenschaft und ich bin überzeugt, dass die meisten Wissenschaftler keine gesetzlosen Harakiri-Menschen sind.
Stichwort Demokratie: Inwieweit kann die Bevölkerung in diese Prozesse eingebunden werden?
Wichtig ist, dass wir alle zuerst diskutieren, was für eine Landwirtschaft wir wollen und wieviel unsere Lebensmittel kosten dürfen. Und dann im nächsten Schritt, mit welchen Mitteln und Werkzeugen wir sie erreichen möchten – vielleicht auch mit dem Werkzeug der Genschere.
Klar ist aber auch: Selbst mit Genschere gibt es keine einfache Lösung für eine nachhaltige Welternährung.
Natürlich! Ernährung, Landwirtschaft, Umweltschutz, Ökologie, Gesundheit – all das gehört vollständig zusammen. Jeder Bauer hat viele Instrumente zur Verfügung, und die Sortenwahl ist eines davon. Die Pflanzenzüchtung ist also nur ein kleiner Teil der Problemlösung. Aber ich sehe nicht ein, dass wir hier aus ideologischen Gründen sagen: Das will ich mir gar nicht anschauen. Schauen wir’s uns doch einfach an!
Blicken Sie nach so vielen Jahren in der Agrarwissenschaft eigentlich noch optimistisch in die Zukunft der Landwirtschaft?
Insgesamt sehe ich, dass heute wieder ein riesiges Interesse besteht an Landwirtschaft und Ernährung, gerade auch bei der Jugend. Das macht mich äußerst optimistisch: Wir werden Änderungen sehen. Und zwar in die richtige Richtung.
Kurzbiographie
Urs Niggli, Jahrgang 1953, ist Agrarwissenschaftler und einer der bekanntesten Experten für Biolandwirtschaft. Von 1990 bis 2020 leitete er das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in der Schweiz, eines der weltweit führenden Forschungs- und Informationszentren für ökologische Landwirtschaft mit rund 200 Mitarbeiter:innen. 2021 erschien sein Buch »Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen«. Er gründete 2020 das Institut für Agrarökologie, ein Beratungsinstitut für Landwirtschaft und Lebensmittelbranche.
Erschienen am 22. November 2023