Die stille Bedrohung: Hitze und ihre Folgen für die Psyche
Hitze mag unsichtbar sein, die Spuren, die sie bei uns Menschen hinterlässt, sind es nicht. Ältere Personen, Kinder und auch Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden besonders unter den hohen Temperaturen. Letztere werden als Risikogruppe allerdings häufig übersehen. Über den Zusammenhang von Depressionen, Angstzuständen und hohen Temperaturen.
Sie ist hinter uns, vor uns, über uns, unter uns, sie umschließt uns. Eine Umarmung, die fest ist, fester wird. Manchmal zu fest. Nachts können wir die Decke wegstrampeln, die Hitze bleibt. »Zu heiß«, stöhnen wir.
Der Körper versucht, die Temperatur zu regulieren. Er lässt uns schwitzen – der einzig kühlende Mechanismus, der ihm zur Verfügung steht. Doch der Stress, den die Hitze im Körper auslöst, kann zur Hitzeerschöpfung, sogar zum Tod führen. Behörden warnen vor ihr und davor, sie zu unterschätzen. Risikogruppen werden direkt angesprochen: alte Menschen, Kinder, Säuglinge, Schwangere sowie Menschen mit Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder der Atemwege, die besonders gefährdet sind.
Doch es gibt noch eine weitere Risikogruppe: Menschen mit psychischen Erkrankungen. Selten werden sie in Warnungen durch Behörden genannt. Depressionen, Schizophrenie, Angst- und Panikstörungen oder auch Demenz – Hitze verstärkt die Symptome. Die Anzahl derer, die wegen akuter psychischer Beschwerden im Krankenhaus aufgenommen werden, steigt während Hitzewellen deutlich an. Die Todesrate unter den davon Betroffenen auch.
Zwischen »heiß« und »zu heiß« kann viel passieren: unendliche Leichtigkeit und erdrückende Schwere, Freudentaumel und Schwindel, Leben und Tod.
Der erste Tag mit weit über 30 Grad. Während die einen die Hitze wie eine alte Freundin begrüßen, mit ihr in die Eisdiele und ins Freibad gehen, wird sie für die anderen zur gefährlichen Begleiterin. Menschen mit Depressionen fehlt Antrieb, es fehlt Lebensfreude und Leistungsfähigkeit. Auf ihnen lastet die Krankheit wie eine schwere Decke, die sie nicht schaffen, zurückzuschlagen. Hitze setzt sich auf die Decke und führt bei vielen zu einem Gefühl der Hilflosigkeit. »Wenn schon die Kraft zum Leben ohne solche belastenden Umweltbedingungen fehlt, dann ist es fraglich, wie zusätzliche Aktivitäten – wie in diesem Fall, um sich vor der Hitze zu schützen – überhaupt noch umgesetzt werden können«, sagt Hans-Peter Hutter. Er ist Oberarzt am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien und untersucht als Umweltmediziner die Auswirkungen der Umwelt auf unsere Gesundheit.
Am nächsten Tag ist es vielleicht noch heißer. Die einen gehen vor die Tür, nicht mehr ganz so enthusiastisch zur nächsten Eisdiele. Sie laufen gegen eine weiche Wand. Sie kneifen die Augen in der gleißenden Sonne zu und schieben mit schweren Schritten die Wand vor sich her. Für andere ist das »Hoch« des Wetters schon längst ein Stimmungstief. Bei drei aufeinanderfolgenden Tagen über 30 Grad, an denen die Temperatur auch nachts nicht unter 20 Grad sinkt, spricht man von einer Hitzewelle.
»Je länger und intensiver die Hitzewelle, desto höher sind ihre Risiken«, so Hutter. Nicht nur die Verstärkung psychischer Symptome macht Hitze gefährlich, sie kann auch Auslöser von Symptomen sein. »Wenn jemand schon am Beginn einer Hitzeperiode leidet, dann können sich akute Ängste entwickeln: Wie soll das morgen und die nächsten Tage erst werden? Ist das Ende der Hitzewelle nicht in greifbarer Nähe, entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit«, so Hutter. Das beträfe vor allem ältere und geschwächte Menschen.
Nachts wird es zwar kühler, doch eine Hitzewelle lässt sich auch von Dunkelheit nicht einschüchtern. Sie raubt Schlaf und Erholung. Bei einer Außentemperatur von über 25 Grad steigt die Wahrscheinlichkeit, weniger als sieben Stunden zu schlafen. Depressivität, verringerte Leistungsfähigkeit und Suizidgedanken können sich verstärken oder aber erst ausgelöst werden.
Während Schlafmangel vermutlich zum Suizidrisiko beiträgt, ist der Zusammenhang zwischen Hitze und Suizid nicht eindeutig. Die Wissenschaft kann keine einfachen und eindrücklichen Wenn-Dann-Antworten liefern: Wenn es heiß ist, dann steigt die Suizidalität – es gibt zwar Studien, die einen Zusammenhang sehen. Doch ebenso gibt es welche, die keinen Zusammenhang feststellen konnten.
Doch nicht nur die Temperatur an sich, speziell die Luftfeuchtigkeit macht den Menschen im Sommer zu schaffen. »Hitzeperioden können völlig unterschiedlich sein und damit auch unterschiedlich belastend«, erklärt Hutter. Es sei ein Unterschied, ob wir 35 Grad Celsius und 50 Prozent Luftfeuchtigkeit oder 29 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit ausgesetzt sind. Bei einer hohen Luftfeuchtigkeit ist schon eine geringere Temperatur stark belastend. »Je feuchter die umgebende Luft ist, desto schlechter kann das ausgeschwitzte Wasser verdunsten. Der Körper kühlt sich daher weniger ab.«
Während Suizid eine extreme Form der Aggression gegen sich selbst sein kann, ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Aggressionen zwischen Menschen und Gewaltverbrechen bei Hitze zunehmen. »Die Stimmung heizt sich auf« – eine statistisch belegte Floskel. Eine Erklärung ist das Hormon Vasopressin, das bei hohen Temperaturen ausgeschüttet wird. Es soll verhindern, dass der Körper Flüssigkeit verliert, steigert jedoch gleichzeitig die Aggressivität. Die Aggressivität bei Hitze kann aber auch im gesteigerten Konsum von Drogen und Alkohol begründet sein, auf den Studien ebenfalls hinweisen.
Das komplexe Gefüge Hitzewelle trifft auf das komplexe Gefüge Mensch. Die Wissenschaft bietet keine einfachen Antworten auf Fragen, die sich so dringend stellen, denn eine Sache ist klar: Durch den menschengemachten Klimawandel werden Hitzewellen häufiger, stärker, länger und damit gefährlicher. Klar ist: Hitze macht verletzlich und verletzt, auch wenn die Folgen von Hitze auf die Menschen nicht immer eindeutig berechenbar sind.
Der Meteorologe Karsten Haustein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Meteorologie der Universität Leipzig. Ein von ihm erstelltes Skript trägt die globalen Wetterdaten zusammen und die Temperaturen aus aller Welt. Noch vor dem letzten Tag im Juli 2023 wird klar: Es wird der heißeste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die World Meteorological Organization, Haustein und weitere Wissenschaftler:innen gehen mit den Daten an die Öffentlichkeit.
Doch im Sommer 2023 sorgt nicht nur der Klimawandel für Rekorde. Auch das Phänomen El Niño trägt dazu bei. Dabei entsteht über dem Pazifik durch veränderte Meeresströmungen eine Erwärmung, die Hitze und Trockenheit vor allem in Nordamerika wahrscheinlicher macht. Alle paar Jahre kann die globale Temperatur dadurch erhöht werden, der Klimawandel tut sein Übriges und macht aus dem Juli 2023 ein Superlativ.
»Der heißeste Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen« ziert für einige Wochen die Schlagzeilen. Das Medienecho ist groß. Dann beginnen sich, zumindest in Deutschland, die Regentage aneinanderzureihen. Wie fühlt sich Hitze nochmal an? Das Echo verstummt. Die Erinnerung verblasst. Je länger die Hitze zurückliegt, desto kleiner scheinen ihre Nachteile. »Zu regnerisch«, stöhnen wir.
Die nächste Hitzewelle wird nicht lange auf sich warten lassen. Der Klimawandel macht sie wahrscheinlicher. »Wenn wir früher in Deutschland alle zehn Jahre eine Hitzewelle hatten, haben wir sie mittlerweile schon jedes Jahr«, so Haustein. Sie ist eine Naturkatastrophe, bei der keine Sirenen heulen, wenn sie kommt. Es gellen keine Schreie durch die Luft, wenn sie uns erreicht. Wir stehen in unsichtbaren Flammen.
Die Hitze mag nicht sichtbar sein, die Spuren aber, die sie in der Natur hinterlässt, sind es. »Wenn man dabei zusieht, wie sich die Umwelt in drastischer Geschwindigkeit ändert, kann das ebenfalls psychische Auswirkungen haben«, sagt Umweltmediziner Hutter. Bei dem Phänomen spricht man auch von Ecological Grief oder Umwelttrauer – noch ist es keine offizielle Diagnose im ICD, dem internationalen Register für Krankheiten und Gesundheitsprobleme. »Aber das könnte noch kommen«, vermutet er.
Klimaschutz bedeutet auch Hitzeschutz. Zumindest langfristig. Die kurzfristigen Maßnahmen – genug trinken, leichtes Essen, wenig Anstrengung – scheinen simpel. Sie können wirksam sein und doch bedarf es politischer Anstrengungen, die Klimaerwärmung zu stoppen: »Anpassung ist wichtig und notwendig, aber sie ist limitiert. Wir können uns nicht an alles anpassen«, so Hutter.
Der Winter wird kommen. Dann kämpft die Sonne wieder auf verlorenem Posten und zieht sich an den meisten Tagen kleinlaut zurück. Wir werden uns beschweren über Dunkelheit, über Kälte. »Zu kalt«, werden wir dann stöhnen. Wünschen uns Sommer, Sonne, Wärme. Reihen sich die kalten Tage aneinander, würden viele wohl 5 Grad und Regen durch 35 Grad und Sonne eintauschen. Die Grimasse der Hitze erscheint von weitem als charmantes Lächeln. War sie wirklich so schlimm? So gefährlich?
Der Hitze ist unsere mangelnde Erinnerungsfähigkeit egal. Sie wird ihre Verfolgung wieder aufnehmen. Aus Freundin wird anstrengende Freundin, wird gefährliche, kann tödliche Begleiterin werden. Sie kommt still und wird still wieder gehen. Zurückbleiben wird die Erinnerung: »Zu heiß«, haben wir gestöhnt. Doch auch diese Erinnerung verblasst.
Erschienen am 12. Juli 2024
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