Thema
Verändert Feinstaub unser Denken?

Text
Sophie Straetemans

Illustration
Theresa Hügues

Foto
Erik Sturm
Martin O. Becker
Jürgen Bubeck
KIT Karlsruhe

Der Feinstaubfänger

Der Künstler Erik Sturm sammelt an einer Großstadtkreuzung Feinstaub – und verwandelt ihn in Farbpigmente. Wie macht er sichtbar, was für das menschliche Auge eigentlich unsichtbar ist? Ein Porträt.

Der Weg zu Erik Sturms Atelier führt durch ein Labyrinth aus Baustellen-Absperrungen und vierspurigen Straßen über provisorische Fußgängerwege. Inmitten einer Umgebung, die sich durch die Bauarbeiten der vergangenen 15 Jahre ständig verändert, scheint das 165 Jahre alte Gebäude, in dem sich das Atelier befindet, der einzige Ort von Bestand.

Mit seiner Kunst möchte Sturm die flüchtigen Zustände der Stadt konservieren. Die Materialien dafür findet er vor seiner Haustür: verformte, skulpturale Stahlträger zum Beispiel. Oder Feinstaub, den die Autos auf der vierspurigen Straße in die Luft pusten. Sturms Atelier liegt unweit des Stuttgarter Neckartors, einem Verkehrsknotenpunkt, der 2014 als dreckigste Kreuzung Deutschlands bekannt wurde. Die Messstation, die dort die Luftqualität dokumentierte, meldete zu dieser Zeit regelmäßig zu hohe Feinstaub-Werte. Inzwischen hat sich die Luftqualität am Neckartor verbessert und überschreitet nur noch selten die Grenzwerte.

Feinstaub — ausgestoßen von der Stadt, verweilt er in der Luft und setzt sich mit der Zeit ab.Ausgestattet mit Maske, Kreditkarte und Plastikbeutel ging Erik Sturm den Spuren des Feinstaubes nach, um ihn für seine Kunst einzufangen.
Feinstaub — ausgestoßen von der Stadt verweilt er in der Luft und setzt sich mit der Zeit ab. Ausgestattet mit Maske, Kreditkarte und Plastikbeutel ging Erik Sturm den Spuren des Feinstaubs nach, um ihn für seine Kunst einzufangen. Foto: Martin O. Becker

Dort, am Neckartor, begann Sturm 2012, nach Stäuben zu suchen, die sich sedimentiert und abgesetzt hatten. Doch die Spurensuche war schwer, weil Feinstaub kleine, nicht sichtbare Partikel sind, fünf- bis achtmal kleiner als ein menschliches Haar. Sie können tage- oder wochenlang in der Luft schweben, bevor sie sich absetzen. Sturms Trick: »Ich habe mich in den Staub hineinversetzt, um die Suche einzugrenzen«, sagt er und muss dabei schmunzeln.

Sein Vorgehen zahlte sich aus: In Hohlräumen und Kabel-Schächten, die noch nie geöffnet worden waren, fand Sturm schließlich seinen Feinstaub – und machte dort sauber. Durch die kleinen Öffnungen der Schächte strömt Luft und damit Feinstaub, der sich absetzt und dort gefangen ist. Mit seiner Kreditkarte kehrte er die Stäube zu kleinen Haufen. Seitdem bewahrt Sturm sie in einem Glasbehälter auf, versiegelt mit einem knallroten Hinweis »Nicht öffnen!«.

»Das Arbeiten mit dem Staub hat schon Überwindung gekostet«, sagt er. »Das Material ist hochtoxisch.« Denn beim Aufwirbeln gehen feinste Partikel direkt in die Luft über, die wir atmen. Deshalb habe er sich bei seiner Arbeit mit einer Maske geschützt. Doch das Material in seiner Kunst in einen neuen Kontext zu rücken, war ihm das Risiko wert.

»Neckartorschwarz«

Sturm betrachtet die Feinstaubpartikel als Farbpigmente, statt als Abfallprodukt der Stadt. Bevor er sie verarbeitete, beschäftige er sich mit Pigmentkunde und Farbherstellung. Zusammen mit einem Bindemittel ergaben die Partikel schließlich ein leicht ausgeblichenes Schwarz: Sturm nennt es »Neckartorschwarz«.

In einem nächsten Schritt trug Sturm sein »Neckartorschwarz« großflächig auf eine Folie auf. Während des Trocknens zog sich die Farbe unregelmäßig zusammen und bildete so ein löchriges, dunkles Relief. Eines der Reliefs ähnelt einem vertrockneten Wüstenboden, ein anderes einem zerrissenen Stück Papier. Insgesamt besteht die Serie der Staubreliefs aus zehn Kunstwerken, jedes davon individuell durch den Staub und Trocknungsprozess.

In Sturms Kunst erzählt das Feinstaubpigment wie ein Zeitzeuge über die Prozesse der Stadt.

Darum wollte er so wenig wie möglich in den Trocknungsprozess eingreifen. Jeder Eingriff hätte den Einfluss des Materials verringert und den des Künstlers erhöht. Das Ziel war jedoch, erklärt Sturm, »das Material sprechen zu lassen«.

In Erik Sturms Kunstwerk »Neckartorschwarz«, bestehend aus Feinstaub-Farbe und Staubreliefs, fungiert Feinstaub als Pigment. Sein Werk konserviert das unscheinbare Material und betrachtet es aus einer künstlerischen Perspektive. Foto: Jürgen Bubeck

 

In Erik Sturms Kunstwerk »Neckartorschwarz«, bestehend aus Feinstaub-Farbe und Staubreliefs, fungiert Feinstaub als Pigment. Sein Werk konserviert das unscheinbare Material und betrachtet es aus einer künstlerischen Perspektive. Foto: Jürgen Bubeck

In Erik Sturms Kunstwerk »Neckartorschwarz«, bestehend aus Feinstaub-Farbe und Staubreliefs, fungiert Feinstaub als Pigment. Sein Werk konserviert das unscheinbare Material und betrachtet es aus einer künstlerischen Perspektive. Hier ist der Feinstaub mit einem Rasterelektronenmikroskop tausendfach vergrößert. Aufnahme: Viola Duppel, Achim Dittler (KIT Karlsruhe)

In Erik Sturms Kunstwerk »Neckartorschwarz«, bestehend aus Feinstaub-Farbe und Staubreliefs, fungiert Feinstaub als Pigment. Sein Werk konserviert das unscheinbare Material und betrachtet es aus einer künstlerischen Perspektive.

 

Der inoffizielle Hausmeister

Nicht nur in seiner Kunst geht Sturm bedacht vor – auch in seiner Außendarstellung: Vorbereitet mit einem doppelseitigen Briefumschlag voller Notizen wählt er überlegt die Worte, die das Bild von ihm als Künstler zeichnen. Sturm hat eine Ausbildung zum Grafiker gemacht, danach studierte er Kommunikationsdesign und Bildhauerei in Stuttgart. Er beschreibt sich selbst als »Gegenwartsarchäologen«, als jemanden der die Veränderungen der Stadt entdeckt und sammelt. Und zwar vom Fenster seines Ateliers im zweiten Stock aus. »Logenplatz« oder »Hochsitz« nennt er die Aussicht.

Erik Sturm ist so etwas wie der inoffizielle Hausmeister der Baustelle. Er öffnet das Fenster und das hämmernde Geräusch eines Bohrgeräts trifft auf das Rauschen vorbeifahrender Autos. Die Grenzen zwischen Baustelle und Atelier verschwimmen. »Für mich ist die Baustelle überspitzt gesagt ein Glücksfall«, sagt er.

»Negativlinie«

Sturms Arbeit mit Ruß und Staub begann 2011, jedoch nicht in Stuttgart, sondern im Auslandssemester in Budapest. Im Budaer Burgtunnel sah er Jugendliche, die mit ihren Fingern in die staubigen Wände schrieben. »Da ist mir klar geworden, dass dadurch der Staub sichtbar wird«, sagt Sturm.

Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte und schränkte die Regierung unter Viktor Orbán bereits die Kultur und Wissenschaft ein. Der Budaer Burgtunnel befindet sich unter dem Burgpalast, der seit 2019 der Regierungssitz Ungarns ist. Es ist ein Ort, an dem die ungarische Politik räumlich nahe ist und gleichzeitig ein alltäglicher Ort für Bewohner:innen Budapests. Der Tunnel ist der schnellste, wenn auch lauteste und schmutzigste Weg zwischen den Stadtvierteln Buda und Pest.

Inspiriert von den Jugendlichen und der angespannten politischen Lage, wischte Sturm eine 400 Meter lange, staubfreie Linie auf Augenhöhe in die Tunnelwand. Eine handbreite Linie, die er mit Handtüchern aus dem Hotel, in dem er während seines Auslandssemesters wohnte, und Glasreiniger über die gesamte Tunnellänge putzte. Die staubigen Handtücher und ein Video, das den Prozess dokumentiert, ergeben sein erstes Staub-Kunstwerk »Negativlinie«. Sturm sagt, das Projekt sei für ihn der Versuch gewesen, die angespannte politische Stimmung in Kunst zu übersetzen.

Drei Handtücher und dreißig Minuten brauchte Erik Sturm, um die 400 Meter lange staubfreie Linie in den Budaer Burgtunnel zu putzen. Das Kunstwerk, das zurückblieb »entsteht durch den Kontrast«, so Sturm.
Drei Handtücher und dreißig Minuten brauchte Erik Sturm, um eine 400 Meter lange staubfreie Linie im Budaer Burgtunnel staubfrei zu putzen. Das Kunstwerk, das zurückblieb »entsteht durch den Kontrast«, so Sturm. Foto: Erik Sturm

Zurück in Stuttgart übertrug er seine Kunst aus dem Budaer Burgtunnel erstmals auf seinen Wohnort. »Feinstaub als Pigment, das war die These«, beschreibt Sturm seinen Prozess. Er habe mit dieser These experimentiert – und sie habe schlussendlich funktioniert. »Feldforschung« nennt er sein Vorgehen. Darin liegt für ihn die Analogie zwischen Wissenschaft und Kunst: »Beides ist explorativ«, sagt Sturm. Und: Wissenschaft und Kunst können einander mit neuen Perspektiven ergänzen.

Der Weg aus Sturms Stuttgarter Atelier führt von dem »Logenplatz« im zweiten Stock in das Treppenhaus des Gebäudes. In einem Regal neben der Treppe steht eine Miniaturstatue eines Mannes. Auf dem Kopf trägt sie eine übergroße, dreckige Maske, als wäre sie ein schützender Baustellenhelm. Vermutlich Überreste seiner Schutzausrüstung der Feldforschung am Neckartor.

Erschienen am 5. Juni 2025

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