
Smog im Kopf
Neuere Forschung zeigt: Ganze Hirnregionen können schrumpfen, wenn wir über längere Zeit schlechte Luft einatmen. Kann sich unser Gehirn davon erholen? Ein spanisches Forschungsteam sucht nach Lösungen.
Frische Luft ist in vielen Städten längst ein Luxus geworden. In Metropolen wie Delhi, Peking oder Jakarta liegt ein grauer Schleier über den Dächern, der das Atmen schwer macht. Wer hier auf die Straße tritt, braucht keine Sonnenbrille, sondern eine Schutzmaske. Besonders Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen sind von Luftverschmutzung betroffen. Aber das Problem ist nicht so weit weg, wie es oft scheint: Auch in Europa wurden in den vergangenen Jahren so gut wie überall alarmierende Luftwerte gemessen. Eine Datenanalyse des Guardian zeigt, dass ganze 98 Prozent aller Menschen in Europa eine Luft atmen, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als gesundheitsschädlich eingestuft wird. Und das hat Auswirkungen bis zum menschlichen Gehirn.
Denn die Luftverschmutzung trübt nicht nur unsere Aussicht, sondern auch unsere Gesundheit. Schon lange ist bekannt, dass die schädlichen Partikel über die Atemwege in den Blutkreislauf gelangen können. So kann die schlechte Luft nahezu alle menschlichen Organe angreifen und schwere Konsequenzen nach sich ziehen. Dazu gehören Asthma und Herzkrankheiten genauso wie Schlaganfälle, Diabetes und Lungenkrebs. Die WHO schätzt, dass im Jahr 2019 weltweit 4,2 Millionen Todesfälle auf Luftverschmutzung zurückgingen.
Das ist aber noch nicht alles: Neuere Forschungsergebnisse zeigen nun auch, dass Luftverschmutzung unser Denken beeinträchtigt. Die Schadstoffe aus der Luft können nämlich bis in unser Gehirn vordringen. Dort richten sie viel mehr Schaden an, als bisher bekannt. Ganze Hirnregionen verkleinern sich, wenn wir über längere Zeit schlechte Luft atmen. Was macht die Luftverschmutzung mit dem Gehirn? Und was bedeutet das für unseren Alltag?
Vom Auspuff ins Nervensystem: Wie Feinstaub unser Gehirn verändert
Das Forschungsinstitut der Wissenschaftlerinnen Mònica Guxens und Michelle Kusters liegt direkt zwischen dem Meer und einer mehrspurigen Straße. Diese Umgebung könnte ihre Arbeit nicht treffender beschreiben: Denn am Gesundheitsinstitut ISGlobal in Barcelona erforschen beide die neurowissenschaftlichen Auswirkungen von Luftverschmutzung. Was passiert im Gehirn, wenn wir Autoabgase statt frischer Meeresluft einatmen? Das Forschungsgebiet der environmental neuroscience ist noch ein neues Feld. »Lange war nicht bekannt, dass dreckige Luft wirklich bis in das Gehirn gelangen kann«, erklärt Mònica Guxens und weist auf den regen Stadtverkehr direkt vor ihrem Arbeitsplatz. Die Folgen der weltweit zunehmenden Luftverschmutzung werden erst jetzt deutlich.
Schmutzige Luft besteht aus mehreren Schadstoffen: Dazu gehören Feinstaubpartikel genauso wie Kohlenmonoxide, Ozon, Schwefel- und Stickstoffdioxide. All diese giftigen Stoffe entstehen hauptsächlich durch Verkehrsabgase und die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Solche Feinstaubpartikel sind so winzig, dass sie es in die Lungen und den Blutkreislauf schaffen. Auch durch die Nase gelangen die Partikel in den Körper. Das Gehirn schützt sich eigentlich vor solchen gefährlichen Stoffen: Die Blut-Gehirn-Schranke dient als Schutzwand zwischen dem Hirn und der Blutbahn und stoppt dort größere Schadstoffe. Feinstaubpartikel können aber noch kleiner als 2,5 Mikrometer sein. Ab dieser Größe schaffen sie es bis in das Nervengewebe.
Wenn die Partikel diese Schutzmauer durchdrungen haben, können sie im Gehirn Entzündungen auslösen und Synapsen – die entscheidenden Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen – angreifen. Bestimmte Regionen sind davon besonders betroffen, vor allem der Hippocampus. Diese Hirnregion ist entscheidend für Erinnerungen und räumliche Orientierung. Auch bei Krankheiten wie Alzheimer wird der Hippocampus angegriffen, wodurch Betroffene unter Gedächtnisverlust leiden. Mehrere Studien zeigen, dass sich diese Gehirnregion nach langanhaltender Luftverschmutzung verkleinert. Damit das Gehirn nachhaltige Schäden davonträgt, muss es der Feinstaubbelastung über mehrere Jahre hinweg ausgesetzt sein. Aber auch nach einigen Monaten können schon erste Effekte beobachtet werden: In einem Laborversuch traten bei Mäusen bereits nach nur drei Monaten im Kontakt mit Feinstaub klare neuronale Veränderungen auf.
Von der Luftverschmutzung sind besonders Kinder betroffen, da ihr Gehirn sehr angreifbar ist. Erst im Alter von Mitte 20 ist das menschliche Gehirn komplett ausgebildet, sodass die giftigen Stoffe dort vorher viel Schaden anrichten können. Sogar schon vor der Geburt leidet ein Baby an der schlechten Luft, die seine Mutter einatmet. »Wir konnten zeigen, dass Kinder im Grundschulalter einen kleineren Hippocampus haben, wenn sie im Mutterbauch Luftverschmutzung ausgesetzt waren«, fasst Michelle Kusters ihre Forschung zusammen. Über mehrere Jahre hinweg testete sie dazu mehr als 4.000 Kinder und setzte bildgebende Verfahren ein, um die Entwicklung des Gehirns zu untersuchen. Die Feinstaubbelastung am Wohnort der Schwangeren beeinflusste das Gehirnwachstum der Kinder – unabhängig von Faktoren wie dem sozioökonomischen Status der Eltern, ihrer Gesundheit oder dem Alter.
Dass sich gerade der Hippocampus verkleinert, hat weitreichende Auswirkungen. Die Betroffenen schneiden in verschiedenen Tests meist schlechter ab als Kontrollgruppen, die nicht von hoher Luftverschmutzung betroffen waren. Dazu gehörten Gedächtnis- und Intelligenztests, Orientierungsaufgaben und Aufmerksamkeitsübungen. Auch wenn einige Studien diese Effekte nicht fanden und oft schwer zu vergleichen sind, zeigt die überwiegende Mehrheit der Forschung einen Zusammenhang von Feinstaub und schlechteren kognitiven Fähigkeiten.
Hoffnungsschimmer und Forschungslücken: Was wir wissen – und was noch nicht
Gleichzeitig gibt es aber auch gute Nachrichten aus der Forschung. Michelle Kusters und Mònica Guxens konnten zeigen, dass sich das kindliche Gehirn von den Schäden der Luftverschmutzung auch wieder erholen kann. Der zunächst kleinere Hippocampus von Grundschulkindern regenerierte sich im Laufe der Pubertät wieder und nahm eine normale Größe an. »Wir gehen davon aus, dass der Hippocampus besonders neuroplastisch ist: Das heißt, er reagiert sehr empfindlich auf äußere Einflüsse«, erklärt Michelle Kusters, »wir vermuten, dass diese subkortikale Hirnregion daher auch so stark von der Luftverschmutzung betroffen ist. Gleichzeitig scheint sie sich aber ebenso wieder davon erholen zu können«.
Diese Erkenntnis sei eine hoffnungsvolle Botschaft, auch wenn sie mit Vorsicht betrachtet werden sollte: »Das Gehirn von Kindern kann sich zwar sehr gut an äußere Umstände anpassen. Aber das heißt natürlich nicht, dass ein kleinerer Hippocampus während der ersten Lebensjahre keinen schlechten Einfluss hat.« Denn gerade während dieser Zeit lernen Menschen am meisten.
Neben dem Hippocampus scheinen auch andere Hirnregionen von Luftverschmutzung betroffen zu sein. Die Auswirkungen wurden bislang weniger erforscht, aber erste Studien zeigen einen Zusammenhang von hoher Luftverschmutzung und einem kleineren präfrontalen Kortex. Diese Region im Gehirn ist für höhere kognitive Funktionen verantwortlich: Dazu gehören Impulskontrolle, Emotionsregulation und Entscheidungsfindung. Das weist darauf hin, dass Luftverschmutzung nicht nur zu kognitiven Beeinträchtigungen führen kann, sondern auch emotionale Auswirkungen hat. Verkleinert sich der präfrontale Kortex aufgrund von Feinstaub, litten Betroffene beispielsweise häufiger unter Symptomen von Depressionen. Schon nach einem Monat umgeben von verschmutzter Luft erhöht sich das Risiko für eine Depression leicht und steigt mit der Zeit immer mehr an.
Hirngesundheit in der Metropole: Das unsichtbare Risiko aus der Luft
Immer mehr Menschen leben in Städten. Im Jahr 2050 werden es voraussichtlich fast 70 Prozent der Weltpopulation sein. Und die Luft in urbanen Räumen ist meist besonders schlecht. Denn hier herrscht besonders viel Verkehr, der hauptsächlich für die giftigen Partikel sorgt, und es gibt oft zu wenige Pflanzen, die die Schadstoffe aus der Luft filtern können. Außerdem tragen Industriegebiete zu der Luftverschmutzung bei. Denn Kohlekraftwerke setzen nicht nur klimaschädliches CO2 frei, sondern auch andere gesundheitsgefährdende Stoffe wie Feinstaub und Stickoxide.
Wissenschaftlerin Mònica Guxens warnt aber davor, die Stadt selbst als Problem zu verteufeln: »Die Lösung lautet nicht: Zieht alle aufs Land.« Auch wenn der Verkehr das Hauptproblem ist, sind ebenfalls weniger urbane Regionen von Luftverschmutzung betroffen. Ein weiterer Grund für Feinstaub sind außerdem Waldbrände. Die Klimakrise verschärft dieses Problem. Immer längere Dürreperioden und extreme Hitze begünstigen die Brände, deren Rauch gesundheitsschädliche Partikel enthält. Durch den Wind gelangen die Schadstoffe auch in Gebiete, die tausende Kilometer entfernt liegen. Ein großes Problem in Nordindien ist auch das tonnenweise Abfackeln von Strohresten auf den Feldern, das die hohe Luftverschmutzung in der Hauptstadt Delhi mitverursacht.
Noch ist unklar, was passiert, wenn Regionen langfristig unter einer solchen Belastung stehen. Kann der Verkehrsstau von heute unser Gedächtnis von morgen beeinflussen? Werden Menschen, die hoher Luftverschmutzung ausgesetzt sind, bald anders lernen und erinnern? Die Wissenschaftlerinnen hoffen, dass solche Fragen gar nicht erst beantwortet werden müssen. Sie fordern: Die Luftverschmutzung sollte jetzt und heute verringert werden. Lösungen aus der Forschung gebe es bereits mehr als genug.
Schlechte Luft trotz guter Ideen: Der politische Wille entscheidet
Es ist viel los auf den Straßen in Barcelona. Motorräder und Autos drängeln sich in den engen Gassen der Stadt. Die Mittelmeermetropole ist eine der am dichtesten besiedelten Städte Europas und hat besonders mit Luftverschmutzung zu kämpfen. Aber Barcelona ist auch ein weltweites Vorbild dafür, wie eine Stadt für bessere Luft sorgen kann. Denn nur ein paar Schritte von der mehrspurigen Straße entfernt ändert sich das Stadtbild schlagartig: Vom Autolärm ist nichts mehr zu hören. Mitten auf der Straße sitzen stattdessen Menschen auf Bänken und genießen die Sonne. Dort, wo früher der Verkehr rauschte, liegen verkehrsberuhigte grüne Plätze, auf denen Kinder spielen und Cafébetreiber:innen ihre Tische aufstellen.
Barcelona hat das Konzept der »Superblocks« entwickelt: Dabei werden mehrere Häuserblocks zu einer Einheit zusammengefasst, in der Verkehr weitgehend verbannt ist. Nur Anwohnende, Lieferdienste oder Rettungsfahrzeuge dürfen langsam hindurchfahren. Die Maßnahmen haben einen Effekt: Ein Jahr, nachdem die ersten Superblocks eingeführt wurden, reduzierte sich dort der Wert von Stickstoffdioxid um 25 Prozent und der Feinstaubwert um 17 Prozent. Das Team um Michelle Kusters und Mònica Guxens am Gesundheitsinstitut ISGlobal in Barcelona hat dargestellt, dass dieses Stadtmodell knapp 700 Tode im Jahr verhindern und langfristig 1,7 Billionen Euro an Gesundheitskosten einsparen könnte.
Ab 2030 werden die EU-Grenzwerte für Luftqualität an die Richtlinie der WHO angepasst, wodurch die Staaten zum Handeln gedrängt werden. Das befürworten Mònica Guxens und Michelle Kusters: »Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber danach muss auch eine wirkliche Veränderung der Stadtplanung folgen.« Und auch die EU-Richtlinie sollte dann noch weiter gesenkt werden. »Denn die Forschung zeigt, dass gesundheitliche Probleme auch bei sehr niedrigen Werten von Luftverschmutzung auftreten«, betonen die beiden Wissenschaftlerinnen.
»Die Lösungen gegen Luftverschmutzung sind längst klar«, finden die Expertinnen: »Autos müssen aus Städten verschwinden und eine Verkehrswende stattfinden.« Denn von weniger Verkehr und mehr Grünflächen profitiert auch unser Gehirn. Auch der Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe ist entscheidend, um Luftqualität und Klima gleichzeitig zu schützen. Kurzum: Mehr Klimaschutz bedeutet weniger Emissionen – und einen klareren Verstand für alle.
Erschienen am 5. Juni 2025
Quellennachweise
- Kusters, MSW.; Granés, L.; Petricola, S.; Tiemeier, H.; Muetzel, RL.; Guxens, M. Exposure to residential air pollution and the development of functional connectivity of brain networks throughout adolescence. Environment International 2025, 196. Doi:1016/j.envint.2024.109245
- Kusters, MSW.; Binter, AC.; Muetzel RL.; López-Vicente, M.; Petricola, S.; Tiemeier, H.; Guxens, M. Outdoor Residential Air Pollution Exposure and the Development of Brain Volumes Across Childhood: A Longitudinal Study. Environment Pollution 2025. Doi: 1016/j.envpol.2025.126078
- Kusters, MSW.; Essers, E.; Muetzel, R.; Ambrós, A.; Tiemeier, H.; Guxens, M. Air pollution exposure during pregnancy and childhood, cognitive function, and emotional and behavioral problems in adolescents. Environ Res. 2022, doi: 10.1016/j.envres.2022.113891
- Voce, A.; Leach, A.; Wishart, E.; Duncan, P. Europe’s pollution divide: see how your area compares. The Guardian 2023. https://www.theguardian.com/environment/ng-interactive/2023/sep/20/europes-pollution-divide-see-how-your-area-compares
- Dominski, F. et al. Effects of air pollution on health: A mapping review of systematic reviews and meta-analyses. Environmental Research 2021, 201. https://doi.org/10.1016/j.envres.2021.111487
- Yuan, A. et al. Lifetime air pollution exposure, cognitive deficits, and brain imaging outcomes: A systematic review. NeuroToxicology 2023, 96: 69-80. https://doi.org/10.1016/j.neuro.2023.03.006
- Eggimann, S. The potential of implementing superblocks for multifunctional street use in cities. Nat Sustain 2022, 5: 406–414. https://doi.org/10.1038/s41893-022-00855-2
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