Eine Geheimsprache, die keine mehr sein soll
Über Jahrhunderte hinweg mussten sich die Jenischen vor Verfolgung schützen. Jetzt droht die Volksgruppe zu verschwinden. Die offizielle Anerkennung ihrer Geheimsprache als Sprache könnte ihr Überleben sichern – doch das ist gar nicht so einfach.
Sachemtrippler, so nennen die Jenischen Messerschleifer:innen, die von Haus zu Haus ziehen. Das war lange Renaldo Schwarzenbergers Beruf – kein Wunder, stammt er doch mütterlicherseits aus einer wahren Sachemtrippler-Dynastie. Sein Vater hingegen war Stupferzupfer, er produzierte und verkaufte Bürsten und Besen. Schwarzenberger verbrachte seine Kindheit in den Siebzigerjahren auf den Straßen Europas, einen Großteil des Jahres zog die jenische Familie durch Österreich, Deutschland, Frankreich und die Schweiz: acht Kinder, Vater und Mutter in einem Wohnwagen. »Eine glückliche Kindheit«, erinnert er sich. Heute ist Schwarzenberger Vorsitzender des Zentralrats der Jenischen in Deutschland.

Die Volksgruppe der Jenischen ist vermutlich im 18. Jahrhundert aus den fahrenden Gemeinschaften Europas entstanden. Ihre Vorfahren waren Händler:innen, Schausteller:innen oder wie Renaldo Schwarzenberger Sachemtrippler. Aufgrund ihrer fahrenden Lebensweise lebten die Jenischen am Rande der Gesellschaft und wurden kriminalisiert: vom Staat, der Polizei, der Mehrheitsgesellschaft. Zum Schutz vor Verfolgung entwickelten die Jenischen eine gemeinsame Sprache, eine Art Geheimsprache. Aus dieser ist eine Kultur und Identität entwachsen, die bis heute besteht.
Im Nationalsozialismus wurden die Jenischen verfolgt und in Konzentrationslager deportiert, wobei konkrete Opferzahlen bis heute fehlen. Auch in der Familie Schwarzenberger finden sich solche Schicksale: Sieben seiner Angehörigen wurden verschleppt, erzählt Renaldo Schwarzenberger, ein Großonkel zwangssterilisiert. Heute, schätzt der Zentralrat, leben noch etwa 500.000 Jenische in Europa, die meisten davon sind mittlerweile sesshaft. Im Laufe der Zeit haben sie ihre Lebensweise aufgegeben, aus der ihr Volk überhaupt erst entstanden ist. Ihre Sprache und Kultur drohen zu verschwinden, doch ausgerechnet ein bürokratischer Prozess könnte dagegen helfen: die Anerkennung als nationale Minderheit.
Die fünfte Minderheit?
Es gibt in Deutschland vier offiziell anerkannte nationale Minderheiten: Sorb:innen, Sinti und Roma, Fries:innen und Dän:innen. Die Bundesregierung ist verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung ihrer Kulturen zu ergreifen. Dazu gehören Unterricht und Medien in der Minderheitensprache, die finanzielle Unterstützung kultureller Einrichtungen und politische Teilhabe. Der Südschleswigsche Wählerverband, die gemeinsame politische Vertretung der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe, ist etwa bei Bundestagswahlen von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen.
2004 hat das Innenministerium einen Antrag auf Anerkennung der Jenischen als nationale Minderheit bereits abgelehnt, der Zentralrat der Jenischen plant nun einen neuen Anlauf. Doch um die fünfte Minderheit zu werden, müssen die Jenischen Beweise vorlegen. Insbesondere fordert die Bundesregierung einen Nachweis dafür, dass die Volksgruppe eine eigene Sprache spricht: »Geschützte Sprachen im Sinne der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen müssen eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen«, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Partei Die Linke aus dem Jahr 2023. Und genau daran hakt es: »Nach dem derzeitigen Stand der sprachwissenschaftlichen Einordnung ist diese Zuschreibung beim Jenischen zweifelhaft«, so die Bundesregierung. Die Sprachwissenschaft sei sich nicht sicher, ob das Jenische eine eigenständige Sprache ist. Aber was ist überhaupt eine Sprache?
Dialekt, Soziolekt und Sprache
»Sprachen sind nie homogen, sondern bestehen aus Abweichungen«, erklärt Christian Efing, Linguist an der RWTH Aachen und einer der wenigen Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Jenischen beschäftigen. Abweichungen von der Standardsprache nennt die Linguistik Varietäten. Eine Varietät, deren Sprechergruppe geografisch bestimmt werden kann, ist ein Dialekt. Eine Varietät, deren Sprechergruppe soziale Gemeinsamkeiten aufweist, ein Soziolekt. Das können Beruf, Bildungsstand oder Alter sein, das bekannteste Beispiel ist die Jugendsprache. Zweifelsfrei ist das Jenische ein Soziolekt, sagt Christian Efing. Aber ist es auch eine Sprache?
Es gibt mehrere Ebenen, auf denen Sprache definiert werden kann, so Efing, eine sprachstrukturelle, eine soziolinguistische und eine kognitive. Die erste fragt nach Wortschatz und Grammatik, die anderen beiden nach Identität: Verstehen sich die Sprecher:innen als eigene Gruppe und ihre Sprache als eigene Sprache? Und werden sie auch von außen so betrachtet? Beim Jenischen sei das eindeutig der Fall, sagt Efing. Es sei in bewusster Abgrenzung zum Deutschen entwickelt worden, als Schutz und Erkennungszeichen. Heute sprechen Jenische ihre Sprache auch, wenn keine Ruäch – also Nicht-Jenische – dabei sind. Das zeige, dass Jenisch weit mehr ist als eine konstruierte Geheimsprache. Aus einem Schutzinstrument ist längst eine Kultur geworden.
Aus Stadt wird Steinhäufle
Auf der sprachstrukturellen Ebene sieht es für das Jenische auf den ersten Blick weniger gut aus: Es hat keine eigene Grammatik, sondern bedient sich im Schriftlichen der deutschen und im Mündlichen der Grammatik lokaler Dialekte. Auch der jenische Wortschatz besteht etwa zur Hälfte aus deutschen Wörtern, wobei darunter auch Dialekte und das Rotwelsch fallen, die mittelalterliche Sprache der Ausgestoßenen. Dazu finden sich Einflüsse aus dem Jiddischen, Romani-Dialekten und anderen romanischen Sprachen im Jenischen. Viele der Begriffe, die im Deutschen ihre Wurzeln haben, nehmen durch Wortspiele und Metaphern neue Bedeutungen an: So wird aus der Stadt ein Steinhäufle und aus dem Igel ein Stachling.
Für den Sprach- und Kulturwissenschaftler Klaus Siewert spricht der hohe Anteil an deutschem Vokabular nicht gegen die Eigenständigkeit des Jenischen: »Zeigen Sie mir eine Sprache auf der Welt, die bei genauem Hinsehen keine Mischsprache ist«. Siewert ist wohl das, was man unter einem leidenschaftlichen Geheimsprachen-Experten versteht: Bereits in den Neunzigerjahren initiierte er ein Projekt namens »Wörterbuch deutscher Geheimsprachen«, in dessen Rahmen Christian Efing promovierte. Später gründete Siewert den »Geheimsprachen Verlag«, einen Verlag eigens für Forschungsliteratur zu Geheimsprachen. Für ihn als Experten ist klar: »Das Jenische hat – wie andere Sprachen – einen eigenen, für Nicht-Jenische unverständlichen Wortschatz.«
Auch Christian Efing will das Argument, das Jenische sei zu nah am Deutschen, nicht gelten lassen. Schließlich sei auch Deutsch nur durch eine neue Aussprache von drei Lauten entstanden: Im achten Jahrhundert begannen Sprecher:innen westgermanischer Dialekte, die Laute P, T und K anders auszusprechen als ihre Nachbar:innen – diese sogenannte zweite althochdeutsche Lautverschiebung gilt als die Geburtsstunde der deutschen Sprache. »Wenn das reicht, um eine neue Sprache zu definieren, dann ist das Jenische auch eine eigene Sprache«, so Efing.
Eine wissenschaftliche oder eine politische Frage?
Auf der Suche nach eindeutigen Kriterien würde die Bundesregierung aus der jenischen Frage gerne eine wissenschaftliche machen – mit klaren Antworten. Diese Eindeutigkeit kann die Sprachwissenschaft aber nicht liefern. Denn es gibt keine festen linguistischen Kriterien für eine Sprache. »Es ist schwer festzustellen, ab wann aus einer Varietät eine Sprache wird«, sagt Christian Efing, »es ist ein Kontinuum«. Letztlich sei die Frage, ob das Jenische eine Sprache ist, keine linguistische, sondern eine politische.
Besonders deutlich wird das am Beispiel Luxemburg und seiner Landessprache Letzeburgisch. 1984 wurde der lokale Dialekt zur Amtssprache erklärt und damit überhaupt erst in den Stand einer eigenen Sprache erhoben. »Letzeburgisch ist eigentlich eine Varietät des Deutschen, die man Moselfränkisch nennt«, sagt Christian Efing. »In den offiziellen Listen aller Sprachen weltweit taucht es aber heute auf.« Wegen einer politischen Entscheidung.
»Jenischer Paradigmenwechsel«
Für den neuen Anlauf, als nationale Minderheit anerkannt zu werden, hat der Zentralverband der Jenischen eine Reihe an Gutachten in Auftrag gegeben, die die Eigenständigkeit der jenischen Sprache und Kultur belegen sollen. Einige davon, darunter ein sprachwissenschaftliches Gutachten von Christian Efing, werden im November 2025 erschienen. Doch auch über diesen offiziellen Prozess hinaus sucht der 2019 gegründete Zentralrat der Jenischen die Öffentlichkeit, organisiert Feste und Filmvorführungen und hat ein Kinderbuch auf Jenisch herausgebracht.
Jahrhunderte der Ausgrenzung haben bisher dazu geführt, dass die jenische Identität in vielen Familien verloren ging. Jenisch zu sein, war lange gefährlich – darum haben viele Jenische ihre Identität verschwiegen. Doch Renaldo Schwarzenberger will nicht mehr schweigen. »Wir waren schon immer ein Teil der Gesellschaft und haben wichtige Rollen übernommen: Händler, Nachrichtenüberbringer, Heiratsvermittler. Daran müssen wir erinnern«, so Schwarzenberger. »Jenischer Paradigmenwechsel« nennt Klaus Siewert dieses Erstarken des jenischen Selbstbewusstseins in den letzten Jahrzehnten.
Ausgerechnet das, was die Jenischen über Jahrhunderte unsichtbar machte, soll sie nun sichtbar machen – und ihre Kultur bewahren: Die Sprache, die sie einst im Verborgenen schützte, wird nun in die Öffentlichkeit getragen. Aus der Geheimsprache wird ein Beweisstück für die eigene Kultur. Ein Werkzeug, um anerkannt zu werden.
Erschienen am 9. Oktober 2025
Quellen
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