
Warum schaut die Kriminologie nicht auf die Reichen?
Die Kriminologie schaut vor allem auf die Verbrechen armer Menschen. Dabei schaden Reiche mit ihren Taten der Gesellschaft viel mehr.
»Wenn wir über Kriminalität sprechen, reden wir viel zu oft über Arme und viel zu wenig über Reiche«, sagte mein Interviewpartner plötzlich. Ich war überrascht: Eigentlich hatte ich mich mit James C. Oleson verabredet, weil er einer der führenden Kriminolog:innen zu Hochintelligenz und Straftaten ist – und ich für ein Magazin darüber schrieb. Die Kriminalität von Eliten aber war ihm besonders wichtig zu erwähnen. Er denke da an Anwälte, die in ihren schicken Autos Kokain schnieften, sagte Oleson. Danach gingen sie ins Gericht und niemandem fiel etwas auf. Eliten, so seine persönliche und professionelle Überzeugung, kommen häufiger ungestraft davon.
Ich dachte an mein eigenes Kriminologiestudium zurück. Es stimmt, dachte ich. Egal, ob in Medien, Forschung oder Strafverfolgung: Die Verbrechen von Reichen und Mächtigen bekommen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Nur: Warum denken und forschen wir viel mehr zu Gewalttäter:innen, Dieb:innen, Drogendealer:innen, zu Straßenkriminalität also, statt zu Eliten und deren Wirtschaftskriminalität? Und welchen gesellschaftlichen Schaden verkennen wir damit?
Klar ist: Wenn Forschung und Öffentlichkeit ihren Blick vor allem auf Armutsdelikte richten, entsteht ein verzerrtes und unvollständiges Bild von Kriminalität. Bestimmte Täter:innengruppen werden so schlicht vergessen. Der Kriminologe Edwin Sutherland war der Erste, der schon 1949 darauf hinwies. Er widmete sich in seiner Forschung den Verbrechen der US-amerikanischen Oberschicht und prägte den Begriff White-Collar-Crime. Also jener Kriminalität, die Menschen mit weißem Kragen begehen: Blusenträgerinnen, Anzugträger, Entscheidungsträger:innen. Der weiße Kragen steht für Menschen in hohen sozialen und beruflichen Positionen. Es ist eine Abgrenzung zum »blue collar«, dem Kragen an der blauen Kleidung von Arbeiter:innen. Unter White-Collar-Crime versteht man Taten wie Betrug, Steuerhinterziehung oder Korruption. In der Kriminologie gibt es einen ganzen Zweig, der sich mit diesen Vergehen beschäftigt. Doch bis heute konzentriert sich der Großteil kriminologischer Forschung auf Armutsdelikte.
Das mag daran liegen, dass Straßenkriminalität schmerzt – zumindest auf den ersten, oberflächlichen Blick. Wer bestohlen wird oder Gewalt erfährt, spürt das – physisch, mental, emotional. Die Verbrechen der Reichen spüren wir erstmal nicht: Es sind zunächst gewaltlose Delikte. Täter:innen bereichern sich, meistens in Form von Geld. Zwar gibt es Opfer, nur wissen diese oft nicht, dass sie welche sind.
Ein Beispiel: Der Cum-Ex-Skandal, ein riesiger Steuerraub, hat den deutschen Staat mindestens zehn Milliarden Euro gekostet. Zum Vergleich: Gerade mal vier Milliarden Euro hat der Bund dieses Jahr in den Städte- und Wohnungsbau investiert. Es ist nicht sichtbar, wer darunter leidet, dass dieses Geld fehlt. Vielleicht wäre es leichter, in Berlin oder München eine Wohnung zu finden, vielleicht bekämen Studierende mehr BaföG oder Städte bessere Radwege, wenn das Geld in die Staatskasse geflossen wäre statt in private Taschen. Zwischen der Tat und den Folgen für die Opfer liegt viel Zeit und Raum – so viel, dass der Zusammenhang verwischt und schwammig, praktisch unfühlbar bleibt. Dabei sind von den negativen Folgen von Wirtschaftskriminalität viel mehr Menschen betroffen als von Gewalt- oder Eigentumsdelikten, vor denen sich viele fürchten.
Laut Bundeskriminalamt (BKA) stieg die allgemeine Wirtschaftskriminalität in Deutschland in den vergangenen Jahren immer weiter an. 2023 nahm sie erstmals wieder ab. Doch die staatlichen Statistiken zeigen nur jene Kriminalität, die auffällt. Das BKA sowie Forschende gehen von einem großen Dunkelfeld in der Wirtschaftskriminalität aus. Denn die Delikte der Eliten zeigt kaum jemand bei der Polizei an.
Generell werden die Verbrechen der Mächtigen kaum verfolgt. Das hat mehrere Gründe: Es ist komplex und mühsam, Wirtschaftskriminalität aufzuklären: Man muss nicht nur Geldflüsse nachvollziehen, sondern auch Firmengeflechte und Verschleierungstaktiken verstehen. Das wird dadurch erschwert, dass Eliten sich nur schwer kontrollieren und bestrafen lassen. Weil sie den Zugang zur eigenen Gruppe so gut beherrschen können, ist es für Ermittler:innen und Kriminolog:innen schwierig, das Dunkelfeld auszuleuchten. Dazu kommt, dass wir über eine Gruppe mit viel Macht sprechen. Und Macht bedeutet Kontrolle – zum Beispiel über staatliches Handeln.
Nun kann man natürlich fragen: Warum sind Eliten überhaupt kriminell? Immerhin reden wir über Menschen, die mehr Geld und Möglichkeiten haben als der Großteil der Bevölkerung. Psycholog:innen der Universität in Berkeley, Kalifornien, haben den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Verhalten in sieben Versuchen analysiert. Sie beobachteten etwa, ob sich die Fahrer:innen teurer und billiger Autos im Verkehr anders benehmen. In Experimenten ließen sie Teilnehmende in fiktiven Verhandlungen sitzen und Computerspiele mit einem Preisgeld als Gewinn spielen. Dabei stellten sie fest: Menschen mit hohem Sozialstatus schneiden anderen im Verkehr öfter Wege ab, lügen eher in Verhandlungen, haben weniger Skrupel, anderen etwas wegzunehmen und sind eher bereit zu betrügen, um ein Preisgeld zu bekommen. Diese Ergebnisse blieben robust – auch wenn man die Umgebung oder die Methoden änderte. Die Forschenden verallgemeinern ihre Erkenntnisse so: Je höher der soziale Status, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen sich unethisch verhalten.
Eine Reihe von Gründen liefern sie in der Studie auch: Wer sich in höheren gesellschaftlichen Schichten bewegt, hat meist mehr Ressourcen und Freiheiten. Das Risiko, dass unethisches Handeln bemerkt oder gar geahndet wird, ist gering. Eliten können sich sicher fühlen. Und selbst wenn sie bei einer Straftat erwischt werden, hätten sie die Möglichkeit, eine gute Anwältin zu bezahlen. Wer reich ist, kann sich selbst und seine Verbrechen besser schützen.
In Deutschland können Menschen, die genug Geld haben, sich gar von ihren Straftaten freikaufen. In der Strafprozessordnung gibt es §153a, den sogenannten Reichen-Paragrafen. Seit 50 Jahren macht er es möglich, Verfahren gegen eine Geldauflage einzustellen, wenn die Schwere der Schuld nicht zu hoch ist. Das bedeutet: Wer genug Geld hat, bezahlt den Staat für seine Tat und spaziert ohne Strafe aus dem Gericht.
Der Influencer Fynn Kliemann nutzte zum Beispiel diesen Paragrafen. Während der Coronapandemie hatte er angeblich fair und in Europa produzierte Masken verkauft. Tatsächlich wurden für die Herstellung der Masken aber Menschen in Vietnam und Bangladesch ausgebeutet. »Krise kann auch geil sein«, schrieb Kliemann damals auf WhatsApp an seinen Geschäftspartner. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Betrugs gegen ihn. Doch das Verfahren wurde 2023 eingestellt. Kliemann zahlte 20.000 Euro an gemeinnützige Organisationen und kam davon.
Nun könnte man dagegenhalten, dass Wirtschafts- und Finanzverbrechen weniger schlimm seien. Wie gesagt: Wir spüren sie kaum. Sie scheinen weder Verletzte noch Traumatisierte oder Tote hervorzubringen. Doch ist das tatsächlich so? Wenn eine Masken-Näherin in Bangladesch aufgrund ihrer miserablen Arbeitsbedingungen krank wird, ist das Gewalt? Und trägt Fynn Kliemann eine Mitschuld daran?
Insbesondere bei Verbrechen an der Umwelt werden die Folgen von Wirtschaftskriminalität sichtbar. So war es der Ölhandelsfirma Trafigura 2006 zu teuer, ihren Giftmüll in Europa zu entsorgen. Also brachte sie toxischen Brei aus Chemikalien, Benzin- und Rohölresten in die Elfenbeinküste. So sparte Trafigura 245.000 Euro. Den Preis bezahlten die Menschen in der Elfenbeinküste, wo der Giftmüll unter freiem Himmel lagerte: Sie bekamen Nasenbluten und Atemnot. Tausende erkrankten, 17 starben. Noch viele Jahre später quoll das Gift aus dem Boden, wenn es regnete. In dieser Region erkranken Menschen ungewöhnlich häufig an Hautausschlägen, Sehbehinderungen und Krebs. Die Folgen von Wirtschaftskriminalität, das zeigt dieser Fall, sind durchaus von Schmerz, Gewalt und Tod geprägt.
Und auch aus der Forschung wissen wir: Wirtschaftsdelikte verursachen deutlich mehr Todesfälle, Verletzungen und wirtschaftliche Verluste als alle Straßenverbrechen zusammen. Trotzdem sind White-Collar-Crimes in der Kriminologie unterrepräsentiert. Das fanden Wissenschaftler:innen heraus, als sie die Inhalte kriminologischer Fachzeitschriften und Lehrbücher analysierten. Auch in meinem Kriminologie-Studium ging es recht selten um Wirtschaftskriminalität – mal wurde es in einer Theorievorlesung erwähnt, mal in einem Seminar zu Umweltkriminalität. Aber einen Schwerpunkt dazu gab es nicht. Das ist ein Problem – eben weil gerade Kriminolog:innen wissen (sollten), wie schädlich diese Form des Verbrechens ist.
Erschienen am 21. März 2025
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