Thema
Haben wir die Mathematik entdeckt – oder erfunden?

Text
Nelly Ritz

Illustration
Aisha Franz

Andreas Nieder ist Professor für Tierphysiologie und Direktor des Instituts für Neurobiologie an der Universität Tübingen. Sein Buch A Brain for Numbers erklärt die biologischen und evolutionären Hintergründe der Mathekompetenzen von Mensch und Tier. Mithilfe seines evolutionär-vergleichenden Ansatzes geht Nieder außerdem Fragen zum Bewusstsein sowie dem Lern- und Arbeitsgedächtnis nach.

Nervenzellen und ihre Lieblingszahlen – wie Menschen und Tiere zählen

Im Laufe der Evolution hat sich der Zahlensinn entwickelt. Dieser ermöglicht es Menschen, aber auch Tieren, Mengen abzuschätzen. Woher kommt dieser Sinn? Was braucht es noch zum Rechnen? Und wie hilft Zählen dem Frosch, eine Partnerin zu finden? Neurobiologe Andreas Nieder gibt Antworten im Interview.

Science Notes: Herr Nieder, Sie forschen zum Zahlenverständnis von Krähen, Makaken und Menschen. Wer, würden Sie sagen, kann am besten rechnen?

Andreas Nieder: Ganz klar: die Menschen! Das ist unbestritten – egal, wie begeistert man von Tieren ist. Aber auch Tiere können zählen, wenn man so will, und das ist doch ziemlich faszinierend.

Tiere, die zählen – wie kann ich mir das denn vorstellen?

Tiere können Mengen schätzen und sie verstehen, dass eine größere Zahl »mehr« bedeutet. Dafür gibt es zahlreiche Belege: Zum Beispiel gibt es eine amerikanische Meisenart, die einen Alarmruf absetzt, wenn sich Angreifer in ihrer Nähe befinden. Je nachdem, wie gefährlich dieser Räuber ist, variieren sie die Notenanzahl in ihren Rufen. Deshalb geht man davon aus, dass sie ein Gefühl für Mengen haben.

Ein ähnliches Verhalten zeigen Froschmännchen auf der Suche nach einer Partnerin: Denn je mehr Nachsilben sie in ihren Paarungsruf einbauen, desto höher ist ihre Chance, eine Partnerin zu finden. Präsentiert man Tieren eine unterschiedliche Menge an Nahrung, sind sie meist in der Lage, die größere zu wählen. Das hat unter anderem eine Studie mit Fröschen gezeigt, denen Mehlwürmer vorgesetzt wurden. Frösche lieben Mehlwürmer.

Fast alle Tiere haben dieses Gefühl für Zahlen – auch die, die kaum mit uns Menschen verwandt sind: Bienen zum Beispiel. Wie kann das sein?

Ich denke, dass es für Tiere im Laufe der Evolution von Vorteil war, Mengen schätzen zu können. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Bienen und Menschen hat vor etwa 600 Millionen Jahren gelebt. Damals entwickelten sich gerade die ersten Nervenzellen im Tierreich, aber es gab noch lange kein Gehirn, so wie wir es heute kennen. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass es damals schon numerische Kompetenzen gab und diese über Jahrmillionen an alle Tierarten einschließlich uns Menschen weitergegeben wurden. Wahrscheinlicher ist, dass jene Tiere, die ein Gefühl für Zahlen entwickelten, einen Überlebensvorteil innerhalb ihrer Art hatten und diese Fähigkeit an ihre Nachkommen weitergegeben haben. Und die, die kein Zahlenverständnis hatten, haben vermutlich einfach nicht überlebt.

Klingt logisch: Wer in der Lage ist, eine größere Menge an Futter auszuwählen, oder wer besser zur Paarung rufen kann, wird sich eher durchsetzen. Aber woher weiß man, dass die Tiere wirklich zählen – und beispielsweise nicht einfach die Zeitspanne schätzen, in der ein Artgenosse Laute von sich gibt?

"/Ganz sicher weiß man das nicht, weil viele dieser Erkenntnisse auf Studien mit Tieren basieren, die in freier Wildbahn agiert haben. So können wir nicht ausschließen, dass sie andere Parameter für ihre Entscheidung nutzen. Deshalb forsche ich lieber unter kontrollierten Bedingungen im Labor. Wir trainieren Krähen und Makaken, um zu testen, ob sie Mengen abschätzen können. Dabei untersuchen wir auch, welche Gehirnareale sie dafür nutzen.

Wieso forschen Sie an diesen Tieren – und nicht etwa an Fischen oder Kühen?

Krähen, Makaken und Menschen sind allesamt sehr lernfähig und intelligent. Das ist wichtig, damit wir ihnen verschiedene Aufgaben beibringen können. Krähen haben einen fundamental anderen Gehirnaufbau als Menschen und Makaken, können aber dennoch mit Zahlen umgehen. Mich interessiert einerseits, wie unabhängig vom genauen Hirnaufbau Zahlen verarbeitet werden können. Andererseits hilft mir der Vergleich von Makaken und Menschen zu erforschen, was dem menschlichen Gehirn erlaubt, über das ursprüngliche und auch bei Tieren zu findende Mengenverständnis hinaus symbolische Anzahlen und Mathematik zu verarbeiten. Der Mensch ist nämlich die einzige der drei Spezies, die ein Symbolverständnis hat. Wir können Symbole verarbeiten, also zum Beispiel Worte, aber auch Zahlen.

Ist das der Grund, wieso Menschen im Gegensatz zu Tieren präzise zählen können?

Ja und Nein: Einerseits brauchen wir ein Verständnis von Zahlensymbolen, um präzise zählen zu können. Andererseits deuten zahlreiche Evidenzen darauf hin, dass unser Zählsystem nicht ohne ein Verständnis für Quantität funktionieren würde. Wir können als kleines Kind nur zählen lernen, wenn wir wissen, was eine Menge ist. Und das wissen wir, weil wir – wie so viele Tiere auch – von Geburt an mit einem System ausgestattet sind, das Anzahlen abschätzen kann. Wir nennen das den Zahlensinn.

Welchen Regeln folgt dieser Zahlensinn?

Grundsätzlich kann man sagen: Der Zahlensinn arbeitet immer ungefähr, er schätzt. Aber es gibt bestimmte Schätzungen, die besser funktionieren als andere. Das hat zum Beispiel mit dem Abstand der Zahlenwerte zu tun, zwischen denen unterschieden werden muss: Wenn Frösche zwischen drei und vier Würmern wählen müssen, ist ihre Entscheidung zufällig. Bei drei und sechs angebotenen Würmern aber entscheiden sie sich zuverlässig für sechs Würmer. Weil der Abstand größer ist, können sie die Mengen besser unterscheiden.

Klar: Drei Würmer mehr zu haben bringt einen größeren Überlebensvorteil, als einen Wurm mehr zu haben.

Genau. Und es gibt noch eine Regel: Je größer die Anzahlen sind, die Tiere und Menschen unterscheiden müssen, desto schwerer fällt ihnen die Unterscheidung. Wir können sehr schnell zwei von vier Punkten unterscheiden. Müssen wir dagegen zwölf von vierzehn Punkten unterscheiden, ohne zu zählen, tun wir uns sehr schwer.

Es ist bewiesen, dass Menschen Mengen von 1 bis 4 extrem genau erfassen können, ohne zu zählen. Dieses Phänomen nennt sich Subitizing – oder auf Deutsch: Simultanerfassung. Was steckt dahinter?

Diese Frage haben Forschende in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert. Die einen glaubten, Subitizing sei ein eigener Mechanismus, den nur wir Menschen innehaben. Viele andere – auch ich – waren der Meinung, dass es keinen eigenen Mechanismus gibt. Sondern, dass unser Zahlensinn für die Zahlen 1 bis 4 einfach besser funktioniert. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, wie der Zahlensinn bei Tieren im Gehirn funktioniert.

Nämlich?

Nervenzellen generieren elektrische Impulse, sogenannte Aktionspotenziale, um Informationen zu übertragen. Das sind schnelle, kleine Spannungsänderungen in der Zellmembran, die sich über die Länge der Nervenzelle hinweg fortsetzen. Durch unsere Forschung an den Tieren konnten wir herausfinden, dass es Nervenzellen gibt, die bei bestimmten Zahlen sehr viele Aktionspotenziale generieren. Diese Nervenzellen haben sozusagen eine Lieblingszahl, bei der sie maximal stark antworten. Wenn ein Tier also fünf Punkte erfassen muss, antwortet die Fünfer-Nervenzelle. Doch auch bei sechs oder vier Punkten würde die Fünfer-Nervenzelle noch ansprechen. Das erklärt, weshalb der Zahlensinn nur ein ungefähres Schätzsystem ist. In unseren jüngeren Experimenten konnten wir schließlich Hinweise dafür finden, dass auch Menschen diese auf bestimmte Zahlen spezialisierten Nervenzellen haben. Überrascht haben uns aber vor allem die Ergebnisse für die Zahlen 1 bis 4.

Die Zahlen also, die für Streit unter Forschenden gesorgt haben – weil man sich nicht einig war, welcher Mechanismus hinter dem Phänomen Subitizing steckt.

Ich musste meine ursprüngliche These verwerfen: dass hinter Subitizing einfach nur unser Zahlensinn steckt. Denn unsere Auswertungen zeigten: Die Nervenzellen, die sich auf 1 bis 4 spezialisiert haben, antworten viel gezielter auf ihre Lieblingszahl als die Nervenzellen, die auf größere Zahlen reagieren. Eine Dreier-Nervenzelle antwortet nie, wenn sie zwei oder vier Punkte sieht. Und das spricht für einen eigenen Mechanismus, der uns Menschen Mengen von 1 bis 4 präzise erfassen lässt.

Und diesen Mechanismus haben Tiere nicht?

Davon gehen wir aus, aber das muss noch weiter erforscht werden. In den Daten, die wir aus unseren Experimenten mit Krähen und Makaken haben, ließ sich bisher kein Hinweis auf einen solchen Mechanismus finden. Und noch etwas spricht dafür, dass hinter dem Subitizing ein rein menschlicher Mechanismus stecken könnte: Die Zahlen von 1 bis 4 sind wichtig für uns Menschen, um richtig zählen zu lernen. Das wissen wir aus der Entwicklungspsychologie. Wenn wir einmal verstanden haben, wie diese kleinen symbolischen Zahlen funktionieren, können wir alle nachfolgenden Zahlen verstehen. Dann können wir zählen lernen.

Erschienen am 13. Juni 2024

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