Protokoll:
Lissi Pörnbacher

Illustration:
Aisha Franz

Die zehn Sternstunden der Mathematik

Die Mathematikhistorikerin Franka Miriam Brückler führt durch ihre Highlights der Mathematikgeschichte.

Welche Erkenntnisse haben die Mathematik zu der Wissenschaft gemacht, die sie heute ist? Franka Miriam Brückler, Mathematikhistorikerin an der Universität Zagreb, sagt: »Die Mathematik baut auf früheren Erkenntnissen auf und entwickelt sich so weiter. Jeder noch so kleine Beitrag ist wichtig.« Über die Meilensteine der Mathematikgeschichte hat sie ein zweiteiliges Buch geschrieben, es heißt Geschichte der Mathematik kompakt. An einigen Stellen liest es sich wie ein Krimi gespickt mit mathematischen Formeln. Daher haben wir sie nach ihren zehn Sternstunden in der Geschichte der Mathematik gefragt. Sie sagt: »Ich musste richtig viel nachdenken und habe mich für einen Mix entschieden – aus Persönlichkeiten, die mir gut gefallen, und Momenten, die wirklich die Mathematik vorangetrieben haben.« Welche das sind, erfahrt ihr in unserer Galerie.

1. Die Elemente (3. Jh. v. Chr.)

Als Erstes würde ich sagen: Euklids Elemente. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Mathematik hat der griechische Mathematiker Euklid in seinem Werk versucht, Mathematik systematisch aus einigen wenigen Sätzen abzuleiten – aus den Axiomen. Axiome sind Behauptungen, die als wahr angenommen werden. In der Antike waren das sogar so offensichtliche Behauptungen, dass man sie nicht weiter hinterfragen musste. Ein Beispiel: Das Ganze ist größer als ein Teil des Ganzen.

Mit den Elementen hat Euklid die Mathematik für alle Zeiten verändert: Er verwandelte sie zur exakten Wissenschaft.

2. Die Null (spätestens 7. Jh. n. Chr.)

Sūnya heißt sie im Sanskrit – Leere. Ihr Zeichen ist ein Kreis. Sie ist eine der wichtigsten Zahlen und stammt aus Indien: die Null. Der indische Mathematiker und Astronom Brahmagupta hat die Zahl Null definiert als Differenz zweier gleicher Zahlen, also 1 – 1 = 0. Vermutlich war sie schon früher bekannt. Das ist ein großer Sprung in der Geschichte der Mathematik: Ohne die Null wäre das Positionssystem unmöglich und man könnte nicht 101 von 11 oder 100001 unterscheiden. Das dezimale Positionssystem ermöglicht umfangreiche wissenschaftliche, aber auch rein praktisch-technische Berechnungen.

3. Algebra (9. Jh.)

Nun kommt einer meiner zwei persönlichen Favoriten: Der erste große Mathematiker des Nahen Ostens war Abū Ǧaʿfar Muḥammad bin Mūsā al-Ḫwārizmī, der im Haus der Weisheit arbeitete. Dort übersetzte er wissenschaftliche Texte ins Arabische und kam mit der Mathematik der Griechen und der Inder in Kontakt. Außerdem schrieb er ein Buch, das den Leser:innen helfen sollte, alltägliche mathematische Probleme zu bewältigen. In dem Buch, das als Algebra bekannt ist, werden zum ersten Mal Gleichungen als solche gelöst. Al- Ḫwārizmī vereinte damit das praktische Rechnen aus Indien mit dem theoretischen exakten Argumentieren der Griechen. Diese Fusion zwischen dem Praktischen und Theoretischen ist charakteristisch für die weitere Entwicklung der Mathematik. Durch dieses Buch wurde al-Ḫwārizmī zum Begründer der Algebra. Das ist der Teilbereich der Mathematik, in dem man Rechenoperationen abstrakt behandelt und mithilfe der Variablen und Unbekannten rechnet. Ein Beispiel wäre die Frage: Wieviel Kilogramm Birnen kann ich mit zwölf Euro kaufen, wenn ein Kilo drei Euro kostet? Modern würde man diese Frage als algebraische Gleichung schreiben: 3x = 12.

4. Die Quadratwurzel von -1 (16. Jh.)

Im 16. Jahrhundert suchten Mathematiker in Italien nach der Lösung für kubische Gleichungen. Das sind Gleichungen mit Variablen, deren höchste Potenz 3 ist, etwa x3 + bx = c. Der erste, der Gleichungen dieser Art lösen konnte, war der Mathematikprofessor Scipione del Ferro, doch er verriet seinen Lösungsweg lediglich einem seiner Schüler. Etwa zur gleichen Zeit fand der Mathematiker Niccolò Tartaglia eine eigene Methode, um kubische Gleichungen zu lösen. Del Ferros Schüler war überzeugt, dass nur er die geheime Methode kannte und forderte Tartaglia zum Duell heraus. Doch nur Tartaglia gelang es, alle Aufgaben zu lösen. Davon erfuhr der italienische Arzt und Mathematiker Girolamo Cardano. Auch er wollte wissen, wie man kubische Gleichungen löst, und bearbeitete Tartaglia so lange, bis der ihm seine Methode verriet – allerdings in Form eines Gedichts, das er erst entschlüsseln musste. Cardano entwickelte Tartaglias Methode weiter und beschrieb 1545 in seinem Buch Ars magna erstmals Lösungswege für alle kubischen Gleichungen. Das verärgerte Tartaglia so sehr, dass er Cardano zum Wettbewerb herausforderte. Doch der schickte stattdessen seinen talentierten Schüler: Tartaglia verlor den Wettbewerb – und sein Ansehen.

Dieser Moment ist wichtig, weil in einigen Fällen als Zwischenschritt zur Lösung zum ersten Mal Quadratwurzeln negativer Zahlen aufgetreten sind, zum Beispiel x2 = -1. Damals ließ sich eine Gleichung wie diese nicht lösen, denn jede Zahl – egal ob negativ oder positiv – hoch 2 ergibt eine positive Zahl. Um sie zu lösen, brauchte es neue Zahlen: Hier beginnt die Geschichte der komplexen Zahlen.

5. Das Koordinatensystem (1637)

Bis ins 17. Jahrhundert wurden Potenzen physikalisch interpretiert. So stand etwa eine Variable für eine Länge, ihr Quadrat für eine Fläche und ihr Kubus für ein Volumen. Das Problem: Wenn der Raum nur drei Dimensionen hat, wofür könnten dann die Variablen hoch 4 oder hoch 5 stehen? Höhere Potenzen ergaben lange wenig Sinn – bis zwei Mathematiker fast gleichzeitig und unabhängig voneinander die analytische Geometrie entwickelten. Einer von ihnen war René Descartes.

Dazu gibt es eine berühmte Anekdote: Descartes lag im Bett und verfolgte, wie eine Fliege an der Zimmerdecke umherkrabbelte. Dabei soll er sich gefragt haben, wie man die Bewegungen der Fliege wohl präzise beschreiben könnte. Und wie er so nach oben blickte, sah er, dass die Kanten der Seitenwände und der Decke zwei Linien bilden, die sich in der Ecke des Raumes im rechten Winkel treffen. Nennen wir die Linien x-Achse und y-Achse. Descartes bemerkte: Die Position der Fliege lässt sich bestimmen, wenn man den Punkt, an dem sich die Fliege befindet, auf die beiden Achsen projiziert und den Abstand der Projektionen vom Eckpunkt misst. So konnte er die Position der Fliege bestimmen.

Ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, ist unklar. Sicher ist aber, dass Descartes das Koordinatensystem erfunden hat. Damit konnte er Potenzen anders darstellen – und zwar als Kurven. Und plötzlich konnte man so mithilfe der Algebra, also rein rechnerisch, viele geometrische Probleme lösen.

6. Das Gesetz der großen Zahlen (1713)

Jetzt wird es langsam schwierig für mich mit der Auswahl. Doch da die Wahrscheinlichkeitsrechnung heute unwahrscheinlich wichtig ist, etwa im Fußball (und ich mag Fußball sehr gerne), habe ich mich dafür entschieden. Ein typisches Beispiel für ein Experiment aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist der Münzwurf: Ich werfe eine Münze immer und immer wieder und notiere mir das Ergebnis, Kopf oder Zahl. Je öfter ich werfe, desto mehr werden sich die relativen Häufigkeiten für Kopf oder Zahl an deren theoretische Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent annähern. Dass das so ist, hat Jakob Bernoulli in seinem Buch Ars conjectandi beschrieben. Er nannte es das schwache Gesetz der großen Zahlen. Es besagt: Wenn man ein zufälliges Experiment unbegrenzt wiederholt, immer unter gleichen Bedingungen, und jeder Versuch von allen anderen Versuchen unabhängig ist, dann werden die relativen Häufigkeiten eines Ereignisses immer weniger variieren und sich der theoretischen Wahrscheinlichkeit annähern. Dank Bernoullis Werk wurde die Wahrscheinlichkeitstheorie zur eigenständigen Disziplin in der Mathematik.

7. Die Funktion (1748)

Ich wollte ein Highlight aus der Analysis einbauen und habe mich für Leonhard Euler entschieden: Der Mathematiker hat mehr als 800 Werke verfasst. Obwohl er zwölf Jahre vor seinem Tod erblindete, schrieb er einen großen Teil seiner Arbeiten in diesem Zeitraum. Ein Werk, das er früher verfasst hatte, ist Introductio in analysin infinitorum. Darin definierte er einen zentralen Begriff der mathematischen Analysis: die Funktion. Seine Definition war zwar noch nicht ganz klar, dennoch bereitete sie den Weg für das, was wir heute unter Funktion verstehen: Eine Funktion bezeichnet eine Beziehung zwischen zwei Mengen. Eine solche Beziehung wird durch die Formel y = f (x) ausgedrückt. Y ist also eine Funktion von x, falls jedem Wert von x ein Wert von y entspricht.

8. Eine neue Logik (1847)

Ohne den englischen Mathematiker George Boole könnten wir keine Video-Calls führen: Er entwickelte eine symbolische Logik, die wichtig wurde für die Entwicklung der Computer. Besonders bemerkenswert ist das, wenn man bedenkt, dass Boole nur die Grundschule besucht hat, alles Weitere hat er sich selbst beigebracht. Seine Logik basiert auf den Zahlen 0 und 1: Während 1 für das Universum mit allen denkbaren Objekten steht, bezeichnet 0 die leere Klasse ohne Objekte. Dank seiner Theorien ließen sich auf einmal logische Sätze als Formeln mit logischen Werten und Operatoren darstellen. Eine neue Art von Algebra entstand, die logische Algebra.

9. Unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten (1874)

Nun kommt mein absolutes Highlight in den Sternstunden der Mathematik: der Beweis von Georg Cantor, dass es unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten gibt. Cantor begann, die Unendlichkeit anhand der natürlichen Zahlen zu untersuchen. Das war recht einfach, er hat sie durchnummeriert und abgezählt. Es sind unendlich viele. Deren Anzahl bezeichnete er mit aleph-0 (À0). Auch die negativen Zahlen und die Brüche lassen sich abzählen – es sind unendlich viele. Ebenso viele wie die natürlichen Zahlen, also auch À0. Und wie ist es mit den reellen Zahlen? Dazu gehören Zahlen wie π oder √3, die als Dezimalzahlen geschrieben unendlich viele Stellen hinter dem Komma haben. Die reellen Zahlen lassen sich nicht abzählen. Cantor fand also heraus, dass es mehr reelle Zahlen geben muss als natürliche. Weiter bewies Cantor, dass es unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten geben muss, denn: Jede Menge A hat weniger Elemente als ihre Potenzmenge P(A), die Menge aller Untermengen von A. Das heißt, die Potenzmenge hat immer mehr Elemente als die Menge. Daraus folgt: Wenn man eine unendliche Menge hat, dann hat die Potenzmenge mehr Elemente, die Potenzmenge der Potenzmenge noch mehr Elemente und so weiter. So erhält man unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten. Das ist einfach eine wunderschöne Mathematik.

10. Die Grenzen der Mathematik (1931)

Wie wir gesehen haben, war Euklid der erste, der versucht hat, alle Mathematik aus fünf offensichtlichen Tatsachen abzuleiten, den Axiomen. Auch später versuchten Mathematiker:innen sich daran, einer von ihnen war David Hilbert. Er wollte alle mathematischen Wahrheiten auf endlich viele Axiome zurückführen. In seiner Neubegründung der Mathematik schrieb er: »Alles, was bisher die eigentliche Mathematik ausmacht, wird nunmehr streng formalisiert, so daß die eigentliche Mathematik oder die Mathematik in engerem Sinne zu einem Bestande an beweisbaren Formeln wird.« Daneben sollte es eine Metamathematik geben, die zum Beweis benutzt wird, dass die Axiome sich nicht gegenseitig widersprechen.

Dieser Traum aber platzte spätestens mit den Unvollständigkeitssätzen von Kurt Gödel. In diesen zwei Sätzen zeigte er die Grenzen der Mathematik auf. Sein erster Unvollständigkeitssatz besagt: In jedem Axiomensystem, das das Rechnen mit natürlichen Zahlen umfasst, gibt es Sätze, die innerhalb des Systems weder bewiesen noch widerlegt werden können. Es ist also nicht möglich, alle mathematischen Wahrheiten aus endlich vielen Axiomen abzuleiten. Und in Gödels zweitem Unvollständigkeitssatz geht es darum, dass das System nicht seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen kann. In dem System kann es also auch keine Garantie geben, dass sich die Axiome eines Systems nicht widersprechen.

Erschienen am 13. Juni 2024

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