Streit is coming
Im Internet gibt es immer Streit. Bisher haben wir an den falschen Stellen nach der Ursache gesucht. Doch auch daraus lässt sich etwas lernen.
Worum es geht
Im Internet gibt es Streit. Das ist nicht neu, die ersten Berichte darüber stammen aus den 1980er-Jahren. Es fängt damit an, dass jemand einen Ort ins Leben ruft, an dem sich, sagen wir, die Fans von Schnabeltieren treffen. Ganz früher wäre das eine Mailbox, eine Mailingliste oder eine Usenet-Gruppe gewesen, ab den 1990ern ein Forum, in den Nullerjahren eine Facebookgruppe oder ein Subreddit, später Messenger-Gruppen (zum Beispiel bei WhatsApp) oder ein Discord-Server. Es geht hier nicht darum, dass sich irgendwo im Internet fremde Menschen beschimpfen, die einander danach nie wieder begegnen. Dieser Beitrag handelt von Orten, die ein Innen und ein Außen haben, außerdem einen Anfang und ein Ende. Und dieses Ende kommt oft im Streit.
Der Streit ist nicht jedesmal neu und ganz anders als beim letzten Mal. Communities und Projekte im Internet stehen seit über vierzig Jahren immer wieder vor den gleichen Konflikten. Trotzdem fühlt es sich an, als sei der Streit individuell, zufällig, womöglich selbstverschuldet.
Hier beschreibt die Wiener Scheidungsanwältin Helene Klaar das Problem in einem Interview, in dem es nicht um Streit in Onlinecommunities geht, sondern um Streit in Ehen:
»Ich bin überzeugt, dass die 40-Stunden-Woche viel dazu beiträgt, dass die Menschen unzufrieden sind. Man kann nicht 40 Stunden arbeiten und daneben einen Haushalt führen und die Kinder unterhalten. Das ist, als würde man versuchen, einen Tisch mit einem zu kleinen Tischtuch zu bedecken. Irgendwo ist immer eine nackerte Stelle. Also kommt die Frau drauf, der Mann ist schuld, denn er ist zu wenig da und macht nix. Das stimmt ja meistens. Und der Mann findet, die Frau ist nicht mehr für ihn da, sondern kümmert sich nur um die Kinder. (…) Dann sind beide der Meinung, mit einem anderen Partner ginge es besser. In Wirklichkeit ist es die 40-Stunden-Woche.«
Übersetzt auf den Streit im Internet heißt das: Die Streitanlässe sind real, aber die Ursachen liegen nicht dort, wo die Beteiligten sie vermuten. So lange wir nur denken »Wir haben die falschen Leute zum Mitmachen eingeladen« oder »Sicher bloß ein unglücklicher Zufall, beim nächsten Mal wird alles besser«, wird beim nächsten Mal nicht alles besser. Und beim übernächsten auch nicht.
Dieser Text enthält keine Lösungen, nur ein paar Linderungsvorschläge. Er soll vor allem dazu ermuntern, Streit im Internet weniger als zufälliges Ärgernis zu betrachten und mehr als Gelegenheit zur Forschung. Denn diese Forschung steckt auch nach über vierzig Jahren noch in ihren Anfängen.
Ist das Internet schuld am Streit?
Streit im Internet wird oft als selbstverständliche Folge des Mediums diskutiert: »Haha, im Internet, schon klar, dass es da immer Streit gibt.« Dabei ist gar nicht so klar, ob im Internet mehr gestritten wird als draußen und wenn ja, woran das liegt. Wenn man belegen will, dass online mehr gestritten wird als offline, gibt es ein paar Forschungsprobleme: Zum einen decken die beiden Begriffe »online« und »offline« sehr viele sehr unterschiedliche soziale Situationen ab. Man müsste für so eine Aussage erst mal definieren, welche davon gemeint sind und welche nicht. Auch wenn man sich festlegt – »wir betrachten nur deutsche Vereine mit weniger als 100 Mitgliedern und wir vergleichen sie nur mit deutschsprachigen Discord-Servern ähnlicher Größe« –, wäre das immer noch ein mehrjähriges Projekt.
Deshalb steckt meistens keine Forschung dahinter, wenn es irgendwo heißt: Im Internet wird mehr gestritten als draußen. Beziehungsweise als vorher. Denn ein richtiges Draußen gibt es gar nicht mehr, praktisch jeder Offlinestreit einer Gruppe (also zum Beispiel in einem Verein oder einer Schulklasse) findet parallel auch auf verschiedenen Online-Kanälen statt.
Meistens folgt darauf eine dieser Thesen: »Es liegt an der Anonymität im Internet.« Oder: »Es liegt an den Trollen.« Oder: »Es liegt an der schriftlichen Kommunikation.« In den vergangenen zwanzig Jahren ist noch: »Es liegt an Social Media (vorher war das Internet ganz friedlich)« und »Es liegt am Kapitalismus« dazugekommen. Manche dieser Begründungen sind einfach falsch, andere können nur einen Teil der Streitanlässe erklären. Der Reihe nach:
- Die Anonymitäts-These hat seit 2010 an Beliebtheit verloren. Vorher verwendeten fast alle fast überall im Internet Pseudonyme. Dann kam Facebook und bestand darauf, dass alle ihre vollständigen Namen verwendeten. Trotzdem wird bei Facebook ungehemmt weitergestritten. Außerdem gibt es inzwischen Forschung, die sogar zum entgegengesetzten Ergebnis kommt: Nicht-anonyme Diskussionsteilnehmende verhalten sich aggressiver als anonyme.
- Die Troll-Theorie besagt, dass eine bestimmte Sorte von Personen es von Natur aus lustig findet, Streit anzuzetteln. Wenn es gelingt, sie auf irgendeine Art fernzuhalten oder rauszuwerfen, herrscht Frieden. Das ist eine Vorstellung, die vor allem im 19. Jahrhundert auch in der Kriminologie, Kriminalpolitik und Justiz verbreitet war: Menschen sind entweder grundsätzlich Verbrecher:innen oder keine, und man kann das zum Beispiel an ihrer Schädelform ablesen. Im 20. Jahrhundert verabschiedete man sich wieder von dieser Vorstellung und begann sich stärker für die Rahmenbedingungen zu interessieren, die zu Kriminalität führen. Aber wenn es um Internettheorie geht, leben wir immer noch im 19. Jahrhundert.
- Schriftliche Kommunikation ist nicht automatisch missverständlicher und dadurch streitanfälliger als mündliche. Die Schriftform ist gerade dann beliebt und oft vorgeschrieben, wenn es um das Vermeiden von Missverständnissen geht: bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Gesetzestexten und Verträgen. Allerdings beruhen die Konflikte gar nicht immer darauf, dass man sich nur falsch verstanden hat. Oft sind sie echt. Es ist dann einfacher und attraktiver, den Streit auf Missverständnisse zu schieben, anstatt anzuerkennen, dass an dieser Stelle ein realer Konflikt existiert.
- Streit im Internet gibt es auch nicht erst seit der Entstehung von Social-Media-Plattformen. Im Internet der ersten Jahrzehnte wurde legendär viel gestritten. Bis Mitte der 1990er-Jahre war das gesamte Internet nichtkommerziell, es war also auch nicht die Geldgier der Plattformen, die am Streit schuld sein konnte. Durch die Kommerzialisierung sind neue Streitanlässe hinzugekommen. Die umstrittensten Beiträge werden extra sichtbarer gemacht, weil Streit gut für die Zugriffszahlen ist. Oft verschärft die Technik der Plattformen auch die Probleme, indem sie Streit auslöst oder Moderation schwierig bis unmöglich macht. Moderierende können dann zum Beispiel einzelne Personen entfernen, aber nichts dagegen tun, dass die gleiche Person sofort unter einem neuen Namen zurückkommt. (Das ist fast überall ein Problem, es wird durch entsprechende Technik nur noch verstärkt.) Aber es wurde und wird auch überall da gestritten, wo die Beteiligten die technischen Grundlagen selbst gestalten. Denn die streitauslösende Technik ist zwar manchmal Absicht, oft steckt aber auch nur Fahrlässigkeit bei der Gestaltung dahinter. Oder die Entwickelnden haben zwar Ideen zur Streitlinderung durch Technik, aber ihre Experimente scheitern.
Ein typischer Streitverlauf
Betrachten wir einen typischen Streitverlauf, um das Problem besser zu verstehen. Meistens fängt es damit an, dass eine Person das Verhalten einer anderen Person störend findet. Dann schlagen sich ein paar Leute auf die Seite der ersten Person, ein paar auf die Seite der anderen, und die Diskussion beginnt. Das störende Verhalten, um das es geht, ist oft das von Menschen, die neu dazugekommen sind. Sie benehmen sich ahnungslos und verstoßen gegen ungeschriebene Regeln. Das ärgert die, die schon länger dabei sind.
Manchmal ist das störende Verhalten auch kein Versehen, sondern Absicht. Das kann auf zwei Arten passieren: entweder nur so zum Spaß, es wird dann mit Argumenten verteidigt wie »man wird doch noch mal einen Witz machen dürfen«, »jetzt seid doch nicht immer so bierernst hier drin«. Oder aus echter Überzeugung, wenn jemand der Meinung ist, dass die Kultur, die Regeln oder die technischen Grundlagen an diesem Ort verbesserungswürdig sind.
Das geht auch ganz ohne Neuzugänge, die andere Meinungen und Kulturen mitbringen. Oft stellt sich heraus, dass von Anfang an keine Einigkeit geherrscht hat, was eigentlich an diesem Ort passieren soll und was nicht – wie auch. Bisher wurde ja nicht darüber diskutiert.
Jetzt beschließt man, Regeln einzuführen, um das störende Verhalten einzudämmen. Das führt zu neuem Ärger. Denn Regeln sind nicht bei allen beliebt, und Diskussionen über Regeln sind noch viel unbeliebter. Die Menschen in der fiktiven Schnabeltier-Community sind dort ja nicht, weil sie gern über Regeln diskutieren möchten. Sie sind dort zum Spaß, in ihrer Freizeit und wegen der Schnabeltiere.
Gleichzeitig fällt auf, dass gar nicht klar ist, wer dieses »man« sein soll, das die Einführung von Regeln beschließen kann. Die Person, die damals die Gruppe ins Leben gerufen hat? Die Person, die am meisten dafür tut? Die Person, die am schnellsten Regelvorschläge ausformuliert hat? Oder eine Gruppe? Soll abgestimmt werden? Nach welchem Abstimmungssystem? Und dürfen alle abstimmen oder nur die, die sich, sagen wir, im letzten Monat aktiv beteiligt haben? Wie vermeidet man das Abgeben von mehreren Stimmen pro Person? Das alles müsste erst mal jemand festlegen, nur wer? Es gibt ja noch keine zuständige Instanz und keinen Beschluss über das beste System, mit dem man sie finden könnte. (Übrigens ein Problem, das in der Geburtsstunde demokratischer Staaten genauso existiert.)
Spätestens in diesem Stadium wird unübersehbar, dass es echte Wertekonflikte gibt: entspannter Spaß versus Regeldiskussionen. Meinungsfreiheit versus Freiheit von Belästigungen und Bedrohungen. »Hier drin bitte keine Politik« versus »Ihr legt doch zu euren Gunsten fest, was als Politik gilt und was nicht«. Bis dahin konnte man noch glauben, man sei mit den netten Menschen an diesem Ort in allen wesentlichen Fragen einer Meinung. Die Enttäuschung darüber, dass das nicht so ist, facht den Streit weiter an.
Am Ende finden erwachsene Menschen es gerechtfertigt, Meinungsverschiedenheiten in einer Schnabeltier-Community mit Mitteln eskalieren zu lassen, die vom Lächerlichen bis zum strafrechtlich Relevanten reichen. Unter den richtigen (also eigentlich: den falschen) Bedingungen verhalten sich so auch Menschen, die bis dahin die Stützen des Projekts waren. Es sind sogar gerade die, die oft den Streit eskalieren lassen. Die Gruppe zerfällt, Freundschaften zerbrechen und alle Beteiligten nehmen sich vor, es beim nächsten Mal ganz anders und besser zu machen.
Ideen, die nicht oder nur bedingt funktionieren (bis auf eine)
Nur wie? Genau wie bei den Ursachen gibt es hier einige naheliegende Ideen, die gar nicht oder nur bedingt funktionieren. Einer der häufigsten Vorschläge lautet: kleinere Gruppen. Der Spieleentwickler, Autor und Künstler Darius Kazemi hat 2019 eine Anleitung zur Abkehr von großen Communities auf kommerziellen Plattformen veröffentlicht, in der er zu Gruppengrößen von unter 100 Personen rät. An einem eigenen Ort mit selbst gehosteter und selbst modifizierbarer Software könne man Probleme auf dieselbe Art lösen wie in kleinen Gemeinschaften »in der echten Welt«, anstatt sie auf unterbezahlte Facebook-Moderationsteams abzuwälzen. Allerdings gibt es die meisten Probleme, die große Gruppen mit sich bringen, auch in kleinen. Eine Freundin kommentierte das Erscheinen der Anleitung: »Hahahaha nein. Das schlimmste Internetdrama meines Lebens geschah in einer Community mit einem Dutzend Mitgliedern.« In der Formulierung, man könne dann Probleme im Netz so lösen wie in traditionellen kleinen Gemeinschaften, steckt außerdem eine Romantisierung des Dorflebens. Dörfer sind nicht gerade dafür bekannt, dass dort wenig gestritten wird.
Außerdem bleiben kleine Gruppen nicht immer klein. Wenn sich mehr Menschen als gedacht für Schnabeltiere interessieren, hat man kurze Zeit später eine Onlinecommunity von der Größe der Niederlande. Was dann? Man könnte theoretisch verlangen, dass bei Erreichen einer bestimmten Gruppengröße die Hälfte der Beteiligten auszieht und einen neuen Ort gründet, und man könnte die auslosen, die wegziehen müssen. So machen es die Hutterer, eine religiöse Gemeinschaft in den USA und Kanada, in ihren Siedlungen. Im Internet gibt es so eine obligatorische Spaltung meines Wissens nirgends. Sie wäre auch schwierig durchzusetzen, aus den oben genannten Gründen: Es gibt an den meisten Orten keine Instanz, die so eine Teilung beschließen und durchsetzen könnte.
Die Forderung nach kleinen Gruppen ist unausgesprochen oft eine Forderung nach mehr Homogenität. Kleinere Gruppen enthalten weniger unterschiedliche Menschen als große Gruppen. Man kann also wahrscheinlich mehr Dinge einfach so behaupten und mehr Witze auf Kosten anderer machen, ohne dass sich Anwesende darüber beschweren. Das Leben in der kleineren Gruppe ist nicht einfacher, weil diese Gruppe besser und freundlicher oder ihre Technik überlegen wäre. Man muss nur weniger mit Kritik rechnen, weil man sich auf die Abwesenheit vieler Menschen und Meinungen verlassen kann.
Aber auch Homogenität ist letzten Endes keine Lösung. Selbst wenn man eine Gruppe nur für Schnabeltier-Fans ins Leben ruft, die in München Zahnmedizin studieren und die Grünen wählen, wird es noch Meinungsverschiedenheiten geben. Außerdem verändert sich auch die homogenste Gruppe im Lauf der Zeit: Die Beteiligten werden älter, vielleicht wechseln sie den Beruf, auf jeden Fall wechseln sie ihre Ansichten. Und zwar nicht alle in dieselbe Richtung.
Eine Eigenschaft von Orten im Internet gibt es, die tatsächlich verlässlich zu weniger Streit führt: Neuheit. In Beziehungen heißt das Phänomen »New Relationship Energy«. Alle mögen sich, es geht friedlich und konstruktiv zu, und man beglückwünscht sich schon dazu, endlich das Geheimnis des streitfreien Zusammenlebens im Internet gefunden zu haben. Aber es ist keine gute Idee, jetzt öffentlich herumzukrähen, dass man das Streit-im-Internet-Problem gelöst hat. Neuigkeit ist nicht von Dauer, das liegt in der Natur der Sache. Bei größeren und heterogeneren Gruppen geht es schneller, bei kleinen und homogenen kann es ein paar Jahre dauern. Aber dann passiert das, was immer passiert: Es gibt Streit.
Was kann man konkret zum Schutz eigener Projekte tun?
Wenn man nicht aufpasst, kann man durch Streit an Orten im Internet leicht den Glauben an die Menschheit verlieren. Dann fängt man an, selbst Dinge zu fordern wie »wir müssen die Grenzen dichtmachen!«, also keine neuen Leute in die bisher schöne und friedliche Gruppe hereinlassen. Oder: »Keine Lust mehr auf ewige Diskussionen, beim nächsten Mal bestimme ich einfach alles allein!« Womöglich fängt man an, solche Ideen auch in der traditionellen Politik gut zu finden. Besser wäre es, nicht jedes Mal wieder überrascht zu sein, wenn es Streit gibt, und trotzdem optimistisch zu bleiben.
Denn Streit ist wie der Winter in Game of Thrones. Manchmal gibt es jahrelang keinen, aber: »Brace yourself. Winter is coming.« Eines Tages ist der Streit da, darauf kann man sich verlassen.
Wenn das seit Jahrzehnten so verlässlich passiert, müsste es eigentlich schon viele Erkenntnisse dazu geben, aus denen wir lernen können. Theoretisch. Praktisch ist das aus verschiedenen Gründen nicht der Fall.
Beim ersten und vielleicht auch noch beim zweiten oder dritten Mal halten die Beteiligten den Streit für ein zufälliges Problem dieser einen Gruppe und lernen gar nichts daraus. Erst wenn dieselben Menschen öfter an unterschiedlichen Orten im Internet Streit miterlebt haben, stellen sie fest, dass es Parallelen gibt, aus denen man für die Zukunft lernen könnte.
Meistens passiert dann immer noch nichts. Selten schreibt mal jemand die Erkenntnisse in einem privaten Blog – oder früher: in einem Wiki – auf, wo sie nach ein paar Jahren wieder verschwinden. Noch seltener entsteht daraus ein Buch über Konflikte im Internet. Das ist vor allem in den 1990er-Jahren ab und zu passiert. Aber Forschung ist ein langsamer Prozess und das Internet verändert sich schnell. Während die Zeit verstreicht, die nötig wäre, um den Streit im Usenet der 1980er- und 1990er-Jahre zu erforschen, sind schon alle an neue Orte weitergezogen – im Internet und in der Forschung. Es ist attraktiver, sich mit den Themen zu befassen, die gerade neu sind oder für die es Geld von Unternehmen gibt. Seit der Entstehung von sozialen Netzwerken hat sich die Forschung und die Literatur auf das Thema »kommerzielles Community-Management« verlagert. Orte, an denen die Beteiligten ihre Regeln selbst gestalten können, sind aus dem Fokus der Forschung gerückt.
Ganz hoffnungslos ist die Lage trotzdem nicht. Wir wissen mehr als früher darüber, was nicht funktioniert. Die Texte über Streit im Internet aus den 1990er- und 2000er-Jahren sind voll mit ganz einfachen »man müsste nur mal«-Lösungsvorschlägen: Man müsste nur Anonymität verbieten! Man müsste nur dafür sorgen, dass nur die richtigen Leute reinkommen! Inzwischen gibt es mehr Forschung dazu und es ist klarer als früher, dass sich dadurch wenig am Streitproblem ändert.
Durch das Verstreichen von Zeit ist auch sichtbar geworden, dass sich das Problem nicht von alleine lösen wird. Wir können nicht einfach abwarten, bis demnächst alle verstanden haben, was immer wieder zu Streit führt, und sich beim nächsten Mal klüger verhalten. Das passiert aus verschiedenen Gründen nicht. Vor allem herrscht bisher keine Einigkeit, was eigentlich genau aus den Erfahrungen mit Streit zu lernen wäre. Und selbst wenn sich alle darüber einig wären: Es wachsen immer wieder neue Menschen nach, die diese Erfahrungen noch nicht gemacht haben. Zum einen buchstäblich, indem sie geboren werden, zum anderen lassen sich die Erfahrungen mit den Techniken und Plattformen von vor zehn Jahren auch nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen. Jedenfalls ist es immer wieder verlockend, zu sagen: »Das ist doch jetzt bestimmt gar nicht mehr so, wir können also die Erfahrungen von damals ignorieren.«
Was also können wir jetzt, in der Gegenwart, tun? Wir können versuchen, Konflikte durch Problembewusstsein zu vermeiden oder zu lindern. Das heißt: Von Anfang an das Ende mitbedenken. Wenn man weiß, dass es früher oder später Streit geben wird, kann man diesen Streit schon mal einplanen. Theoretisch könnte man von Anfang an Regeln festlegen. Für die meisten Schnabeltier-Spaßprojekte ist das keine Option, weil es so unbeliebt ist, in der ersten Phase der Begeisterung schon über die Möglichkeit von Streit und Zerfall zu reden. Das heißt aber nicht, dass wir sonst nichts tun können.
In der Softwareentwicklung gibt es den sogenannten Bus-Faktor. Der Bus-Faktor gibt an, wie viele Personen in einem Team vom Bus überfahren werden können, ohne dass das Projekt deshalb zum Stillstand kommt. Im ungünstigsten Fall ist der Bus-Faktor 1: Eine Person fällt aus – dafür reicht es schon, wenn jemand einfach die Lust verliert, oder jetzt weniger Zeit hat als früher. In unserem Kontext ist vor allem wichtig, dass eine einzige Person, wenn es Ärger gibt, möglichst nicht sagen können sollte: »Dann mach ich halt den Laden hier dicht! Ich schalte den Server ab!« oder »Ich nehm die Domain mit und mach mein eigenes Ding!«
Ganz vermeiden lässt sich diese Abhängigkeit von Einzelnen im Moment an den meisten Orten nicht. Bei Entscheidungen über Technik kommt man schnell an den Punkt, an dem irgendwo eine einzige Person eingetragen werden muss: Die Domain kann nur einer Person gehören, es sei denn, man gründet zuerst einen Verein und dann erst die Schnabeltier-Community. Software sieht oft nur eine Person als »Owner« oder »Admin« vor. Wenn man für Hosting bezahlt, hängt alles an der Kreditkarte einer einzelnen Person, und wenn jemand von den Schnabeltier-Fans stattdessen anbietet »Das kann auf dem Server laufen, der bei mir zu Hause steht«, dann ist man ab jetzt auf das Wohlwollen dieses einen Menschen angewiesen.
Aber manchmal gibt es die Möglichkeit, solche Abhängigkeiten zu vermeiden, und dort, wo es sie gibt, sollten wir sie nutzen. Konkret heißt das: Immer überlegen, ob eine technische Entscheidung dazu führt, dass etwas Wesentliches von einer einzelnen wütenden Person abgeschaltet oder zerstört werden kann. Und wenn das so ist, nach einer anderen Lösung suchen.
Es kann gut sein, dass am Ende doch alles im Streit zerfällt. Falls man an diesem Ort gemeinsam irgendwas hervorbringt, müssen die Ergebnisse deshalb anderswohin gesichert werden. Und zwar kontinuierlich, nicht erst, wenn es schon zu spät ist. Es hilft der Nachwelt, wenn diese Ergebnisse unter einer Creative-Commons-Lizenz stehen, so dass andere damit weiterarbeiten können, wenn sich die Gründungsgeneration zerstritten hat. Wenn die Wikipedia heute im Streit zerfallen würde, ließe sich das Material durch Nachfolgeprojekte weiterverwenden, weil ihre Lizenzen das zulassen.
Ein Vorteil der »Winter is coming«-Haltung ist, dass man nicht so enttäuscht von den anderen Beteiligten sein wird, wenn der Streit dann eines Tages da ist. Es waren nicht die falschen Leute, und sie benehmen sich auch nicht »wie im Kindergarten« (eine Beschimpfung, die außerdem ungerecht gegenüber allen Kindergärten ist). Sie benehmen sich wie an jedem anderen Ort im Internet – oder draußen, denn die grundsätzlichen Konflikte sind die gleichen. Nur arbeiten wir draußen schon etwas länger an dem Thema. Wir haben Strukturen entwickelt, die uns im Falle von Streit helfen: Institutionen, Regeln und Rechte.
Eines Tages werden wir auch an den Orten, an denen wir im Internet zusammenleben, bessere Strukturen für die Bewältigung von Konflikten haben. Die meisten davon werden im Alltag unsichtbar sein, weil es sich um Funktionen der verwendeten Software handelt. Deshalb werden sie sich nicht wie Politik anfühlen, sondern wie Selbstverständlichkeiten. Diese Unsichtbarkeit wird dieselben Vor- und Nachteile haben wie bei den traditionellen politischen Einrichtungen draußen. Wir werden uns ungestörter mit dem eigentlichen Thema Schnabeltiere befassen können, aber zu wenig über die Regelwerke nachdenken, die das möglich machen, und sie für zu selbstverständlich halten. Und da, wo wir die politischen Strukturen sehen können, werden wir uns darüber beschweren, dass sie langsam, unvollkommen und ärgerlich sind. Das ist trotzdem schon ein Fortschritt.
Erschienen am 22. November 2024
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