Thema
Tauen und Schmelzen

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Tim Kalvelage

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Anna Schlamp

 

Am Ende der Polarnacht

Nur die Überwinternden sind geblieben, im Dienste der Wissenschaft: in monatelanger Dunkelheit und bei Temperaturen bis unter minus 40 Grad Celsius. Nun bricht der Lichtwinter an – so nennen sie hier die Zeit zwischen Polarnacht und Schneeschmelze. Unser Reporter Tim Kalvelage war zu Besuch im nördlichsten Dorf der Erde.

Im Winter ist Ny-Ålesund nur aus der Luft zu erreichen: Bei gutem Wetter startet zweimal wöchentlich eine Propellermaschine in Longyearbyen, dem Verwaltungssitz von Spitzbergen. Knapp eine halbe Stunde fliegt sie über den Archipel, über Gletscher und Gebirge. Zu dieser Jahreszeit liegt über allem noch eine dichte, weiße Decke, die in der Sonne glitzert.

Das Dorf mit seinen bunten Holzhäusern liegt am Ufer des Kongsfjords im Nordwesten Spitzbergens, jener Inselgruppe, die östlich von Grönland in den Arktischen Ozean ragt. Früher war Ny-Ålesund eine Bergbausiedlung. Nach einem schweren Grubenunglück wurden die Minen Mitte der 1960er-Jahre geschlossen. Das Dorf entwickelte sich seitdem zu einem Zentrum der internationalen Klima- und Polarforschung, einem Außenposten der Wissenschaft am 79. Breitengrad, mitten in der arktischen Wildnis. Zehn Länder aus Europa und Asien, darunter China, Indien und Südkorea, betreiben im Ort Forschungsstationen, um den rasanten Wandel der arktischen Umwelt zu überwachen: von der Atmosphäre über die Gletscher bis hin zum Meeresökosystem.

Hier liegt, wenn man so will, das Epizentrum des Epizentrums des Klimawandels: Seit 1995 ist die Temperatur auf Spitzbergen im Jahresmittel um zirka drei Grad Celsius gestiegen, im Winter sogar um sechs Grad. Die Veteran:innen im Ort erinnern sich, wie das Versorgungsschiff noch in den 1990er-Jahren Ny-Ålesund wegen des Meereises oft monatelang nicht anfahren konnte. Jetzt friert der Kongsfjord nicht mehr zu, weil immer wärmeres Wasser aus dem Nordatlantik hineinschwappt.

Am Ufer des Kongsfjords, Ny-Ålesund, Spitzbergen

In den letzten vier Jahrzehnten hat sich die Region rings um den Nordpol viermal schneller aufgeheizt als die Erde im Durchschnitt. Die Erwärmung von Atmosphäre und Ozean lässt den Permafrost tauen, Gletscher schrumpfen und das Meereis schwinden. Sie sorgt dafür, dass sich fremde Tierarten wie der Atlantische Dorsch nach Norden ausbreiten und der Jetstream ins Schlingern gerät, der das Wetter in Europa und Nordamerika mitbestimmt. Rußpartikel von Waldbränden in Kanada und Sibirien legen sich auf das Eis und beschleunigen seinen Rückgang noch weiter. Und zugleich gelangen Umweltgifte aus unseren Fabrikschloten in die Arktis, die sich in der Nahrungskette anreichern.

All das ist der Landschaft gar nicht anzusehen, zumindest nicht auf den ersten Blick, wenn man gerade erst hier ankommt. Die Berggipfel zeichnen scharfe Konturen gegen den fast wolkenlosen Himmel und werfen ihre Schatten über die eisige, menschenleere Küstenebene. Nur in der Ferne sind ein paar Häuser auszumachen. Lichtwinter nennen sie hier die Zeit zwischen der Polarnacht und dem Einsetzen der Schneeschmelze, mit der auch die Sonne wiederkommt, um dann für mehr als vier Monate nicht mehr unter dem Horizont zu verschwinden. An diesem Nachmittag im März beträgt die Temperatur minus 25 Grad. Die Luft ist klar und still, der Schnee knirscht unter den Stiefeln.

Isabelle Schulz hat sich ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Wollschal über die Nase, sodass nur ein schmaler Sehschlitz bleibt. Die Kälte treibt ihr Tränen in die Augen. Am Gürtel trägt sie eine Signalpistole, unablässig tasten ihre Augen die Umgebung nach verdächtigen Bewegungen ab – entdeckt sie vielleicht doch einen Eisbären in der monoton weißgrauen Landschaft? Neben ihr hockt ein Mann im Schnee. Er hantiert mit Maßband, Thermometer und einer Bestimmungstafel für Schneekristalle: Elias Sundby Aukan. Seine Messwerte ruft er in die Kälte hinaus, Isabelle Schulz notiert die Daten in einen Notizblock.

Die Meeresbiologin Isabelle Schulz bei der Feldarbeit in der Nähe von Ny-Ålesund

Eingepackt in Polaranzüge sind die deutsche Meeresbiologin und der norwegische Ingenieur wie jede Woche aus ihrem Dorf gestapft und haben einen großen Schlitten mit ihrer Ausrüstung bepackt und in die Ebene am Fuß der Berge gezogen. Schulz trägt ein Gewehr griffbereit über der Schulter. Während sie wacht, sammelt ihr Kollege Sundby Aukan Proben. Er zieht einen Einwegoverall aus einer Alukiste, streift ihn über und setzt eine OP-Maske auf. Er darf die Beutel und Plastikröhrchen nicht kontaminieren, die er mithilfe einer Schaufel mit Schnee füllt. Später im Labor werden die Proben auf Bakterien, Rußpartikel und Umweltgifte analysiert. Es ist doch nur Schnee, könnte man meinen – trotzdem arbeitet Sundby Aukan so vorsichtig, als widme er sich einem kranken Patienten. Und in gewisser Hinsicht stimmt das auch, denn die Arktis leidet: unter zu viel Wärme, die das Eis schmelzen und die Böden tauen lässt, unter invasiven Arten und Schadstoffen, die mit dem Wind hierher gelangen.

Elias Sundby Aukan und Isabelle Schulz sind Überwinterer in Ny-Ålesund. Sie harren auch hier aus, wenn das Dorf auf rund 40 Personen zusammenschrumpft und die Welt jenseits der Dorfgrenzen auf den Lichtkegel einer Stirnlampe. Sie bleiben und kümmern sich um das Fortsetzen kostbarer Messreihen.

Elias Sundby Aukan vom norwegischen Polarinstitut nimmt Schneeproben. Später werden sie mikrobiologisch untersucht; auch die Menge enthaltener Rußpartikel aus der Atmosphäre wird bestimmt.

»Ich mag das unkomplizierte Leben in einer kleinen Community«, sagt Sundby Aukan. Er hat seinen Job als Softwareentwickler an den Nagel gehängt und erst sechs Monate als Ingenieur auf einer rauen Vulkaninsel in der Grönlandsee verbracht, ehe es ihn im Auftrag des Norwegischen Polarinstituts noch weiter nach Norden zog. Isabelle Schulz leitet die AWIPEV-Station in Ny-Ålesund, die vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven und dem französischen Polarinstitut Paul-Émile-Victor betrieben wird. »Im Dorf existiert ein starker Gemeinschaftssinn«, sagt sie. »Besonders in der dunklen Jahreshälfte.«

14 lange Monate dauert ihr Einsatz. Ihre Basis ist das Blaue Haus im Dorfzentrum – eines der vielen Holzhäuser, die aus der Zeit des Kohleabbaus stammen und heute als Forschungsstation, Wohnung oder Schneemobil-Garage dienen. Im Ort gibt es eine Turnhalle, ein Krankenstation, die nördlichste Bar der Welt und einen Dorfladen, der Snacks, Wein und Souvenirs verkauft. Jetzt im Winter drücken sich meterhohe Schneewehen an die Hauswände. Sozialer Treffpunkt ist die Kantine gleich neben dem »Blauen Haus«. Hier essen alle dreimal am Tag gemeinsam und plaudern mit Blick auf die Gletscher am anderen Fjordufer.

Das Nordpol-Hotel in Ny-Ålesund

Was es in Ny-Ålesund nicht gibt, ist Mobilfunkempfang. Auch die Nutzung von WLAN oder Bluetooth sind verboten – die Strahlung könnte die empfindlichen Instrumente der Forschenden stören, die im Ort und an den Messstationen in der näheren Umgebung die Fieberkurve der Arktis aufzeichnen. Man kommuniziert meist analog: Ny-Ålesund ist ein Ort der kurzen Wege und offenen Türen – auch, um Schutz vor den Eisbären zu bieten, die bisweilen durchs Dorf streunen. Angriffe auf Menschen gab es in Ny-Ålesund und in der direkten Umgebung noch nicht, aber gerade im Sommer kommen die Eisbären regelmäßig ganz nah an das Dorf heran, in dem zur wärmeren Jahreszeit bis zu 150 Menschen leben.

Am Ortsrand steht ein rotes Haus – das Ballonhaus. Seit 1993 startet von hier jeden Mittag ein Wetterballon. In der Halle stapeln sie kartonweise an der Wand. Ingenieur Guillaume Herment zieht eine der Gummihüllen über die Gasdüse auf dem Tisch in der Mitte und sichert sie mit einer Klammer. Dann dreht er die Heliumflasche auf, bis der Ballon gefüllt ist. Neben der Radiosonde für die täglichen Messungen von Temperatur, Luftdruck und Windgeschwindigkeit ist heute auch eine Ozonsonde daran befestigt. Guillaume Herment fährt das Rolltor hoch, löst die Klammer und geht raus auf die Plattform der Halle. Der Heliumballon zerrt an seinem rechten Arm, mit links kann er gerade noch verhindern, dass ihm die Mütze vom Kopf gerissen wird. Er checkt noch kurz die Windrichtung, dann lässt der Ingenieur den Ballon los. Er schwebt über die eisige Landschaft davon, rasch verschwindet er in den Wolken.

Rund 30 Kilometer weit wird er aufsteigen. Die Sonden funken ihre Messwerte an das Atmosphären-Observatorium, einem Herzstück der Langzeitbeobachtungen in Ny-Ålesund. Etliche Instrumente am Boden und in der Höhe erfassen Daten zu Wetter und Atmosphärenchemie – und füttern globale Klimamodelle und Wettervorhersagen.

Von ihrem holzvertäfelten Büro im Blauen Haus aus koordiniert Isabelle Schulz die Projekte an der AWIPEV-Station. Momentan ist hier wenig los – eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, regelmäßig die Instrumente des Permafrost-Observatoriums auf der Anhöhe oberhalb der Siedlung zu überprüfen. »Aber als Stationsleiterin ist man Mädchen für alles«, sagt die Biologin. Sie kümmert sich auch um Neuankömmlinge, weist sie in die Regeln des Dorflebens und die Sicherheitsbestimmungen ein: das Smartphone in den Flugmodus schalten, Schuhe am Eingang ausziehen, nicht durch Messgebiete laufen, keine geladene Waffe im Dorf führen. Aus ihrem Büro hat sie Blick auf die Dorfmitte, aber über Funk hält sie Kontakt zu Gruppen, die sich außerhalb der Siedlung bewegen. Gerade meldet sich ihr Kollege Tommy Jégou: »Isabelle, we are back in town«, knarzt ihr Funkgerät. »Copy Tommy, you are back in town.«

Jeder, der den Ort verlässt, muss sich ab- und wieder anmelden. Und wird am Ortsausgang gewarnt: »Gehen Sie ohne Waffe nicht weiter als bis zu diesem Schild.« Wer das erste Mal nach Ny-Ålesund kommt, muss daher zum Schießtraining. Dafür ist Vegard Sand zuständig. Zusammen mit Jacob Hurst, einem Studenten von der West Texas A&M University in den USA, fährt er mit dem Schneemobil raus zum Schießstand. Rundliches Pfannkucheneis treibt auf dem Kongsfjord, am Ufer scharren Rentiere im Schnee nach Flechten und dürren Gräsern. Schließlich erreichen Vegard Sand und Jacob Hurst eine Hütte. Sand lenkt das Schneemobil einmal um das Gebäude.

»Wenn ich an eine Hütte außerhalb des Dorfs komme, fahr ich immer einmal drumherum«, sagt Sand. Steht eine Tür offen, muss man vorsichtig sein. Eisbären. Auch wenn Sand sagt, 49 von 50 Tiere würden einen Bogen um die Siedlung machen, gibt es sie eben doch, die Neugierigen und die Hungrigen. »Jetzt im Winter ist das weniger ein Thema, da sind die Eisbären auf dem Meereis im Osten und Norden von Spitzbergen unterwegs und jagen Robben. Aber im Sommer wandern sie die Küste entlang«, erklärt Sand. Dann brüten Weißwangengänse und Eiderenten am Ufer des Kongsfjords, auf deren Eier es die Eisbären abgesehen haben. Vergangenen Sommer mussten sie mehrfach Tiere verjagen, die sich dem Dorf näherten. An einem Tag gleich viermal.

»Der Griff zur Waffe ist nur im Notfall erlaubt«, erklärt Vegard Sand. »Oberstes Ziel ist es, Kontakt mit Eisbären zu vermeiden und sich rechtzeitig zurückzuziehen.« Bei Gefahr: Lärm machen. Wegrennen ist nicht ratsam – auf kurzer Distanz sind die Tiere so schnell wie 100-Meter-Weltrekordhalter Usain Bolt.

Scharfe Munition bleibt als letzte Option, aber der Ernstfall will dennoch trainiert sein. Jacob Hurst hat einen Gehörschutz angelegt, er legt das Gewehr an und nimmt die rund 25 Meter entfernte Zielscheibe ins Visier. Vier Schuss. Alle ins Schwarze.

Am Schießstand: Die Bewohner:innen von Ny-Ålesund gehen regelmäßig zum Schießtraining. Im Notfall müssen sie sich gegen Eisbären wehren können.

Die Glaziologin Dorothea Moser von der Universität Cambridge ist am Nachmittag mit dem Schneemobil von der britischen Station aufgebrochen. Jetzt hockt sie einen halben Meter tief in einer Grube, kleine Schneeflocken fallen auf ihre dunklen Haare. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie das Loch gebuddelt, mittlerweile hat sie mehrere Schichten von der Schneeoberfläche bis zum Boden markiert. Sie misst die Schneetemperatur und bestimmt, wie kompakt der Schnee ist: indem sie Faust, Finger oder Bleistift hineinsteckt. Danach nimmt sie ihn, wortwörtlich, unter die Lupe. »Es gibt kein Grün hier im Winter, keine Gerüche, keine Geräusche«, sagt sie. »Und es ist arschkalt. Aber die Landschaft ist einfach wunderschön.« Zumindest noch. Denn die Auswirkungen des Klimawandels lassen sich auch an ihrer Forschung ablesen.

Dorothea Mosers Spezialgebiet sind eigentlich Eisbohrkerne, die aus Gletschern gewonnen werden. Gletschereis entsteht, wenn sich Schneekristalle unter Druck verdichten. »Anhand von Luft- und Staubeinschlüssen im Gletschereis und dem Eis selbst können wir nachvollziehen, welches Klima auf der Erde einst herrschte«, erklärt Moser. »Mit diesem Wissen lassen sich aktuelle Klimaveränderungen verstehen und zukünftige genauer vorhersagen.« Schmelzereignisse, die in der Arktis immer häufiger auftreten, drohen diese Klimaarchive unbrauchbar zu machen. Als würde die Tinte in einem Buch verwischt und der Text unleserlich.

Seit fast zwei Stunden hockt sie in ihrer Schneegrube. Minus 20 Grad Kälte haben ihr die Finger steif gefroren. Nun dreht der Wind. Das sanfte Rieseln entwickelt sich zu einem Schneesturm. Mosers Brille vereist, Himmel und Erde verschwimmen im Weiß. Ein Eisbär wäre in dieser Umgebung unmöglich zu erkennen. Moser und ihr Kollege verstauen die Ausrüstung auf dem Anhänger und fahren mit dem Schneemobil durchs Gestöber zurück ins Dorf.

Das Loch hat sie selbst gebuddelt: Dorothea Moser und ihr Kollege Ian Rudkin bei Schneemessungen und Probennahmen in der Nähe von Ny-Ålesund.

Am nächsten Tag hat sich die Natur ausgetobt. Gegen Abend, als die Sonne tief steht und die Fjordlandschaft in warmes Licht taucht, nutzt Isabelle Schulz das Wetter für eine Runde durchs Dorf. Sie geht an der alten Post und am Nordpol-Hotel vorbei in Richtung Hafen, weiter zum Hundezwinger, wo Elias Sundby Aukan gerade aufbricht, auf Skiern und in Begleitung seines Huskys. Schließlich erreicht sie wieder das Blaue Haus. Nach einem Jahr in der Arktis ist ihre Zeit als Stationsleiterin bald vorüber. »Zurück in Deutschland«, sagt Schulz, »werde ich vermutlich überwältigt sein von den vielen Menschen.«

Morgen wird sie neue Forschende empfangen, die mit dem Flieger in Ny-Ålesund landen. Sie kommen, um diese Welt am Rande der Zivilisation zu studieren, ihre Einzigartigkeit, ihren Wandel. Sie kommen zum Frühling, wenn Eis und Schnee tauen und sich die makellos weiße Landschaft in eine braun-grüne Tundra verwandelt.

Erschienen am 12. April 2024

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