Wenn Stillen traurig macht
Stillen fühlt sich gut an und löst ein warmes Gefühl aus – so die Erwartung. Doch etwa zehn Prozent der Frauen verbinden mit dem Stillen andere Gefühle: Traurigkeit, Angst, Wut, so als würde alles Glück ausgesaugt. Das Phänomen, das dahintersteckt, wurde 2007 zum ersten Mal beschrieben, obwohl es wahrscheinlich viel länger existiert. Woran liegt das?
Als sie ihr drittes Kind bekam, wusste Alia Heise genau, was für eine Mutter sie sein wollte. Sie brachte es zu Hause auf die Welt, stärkte mit möglichst viel Körperkontakt die Mutter-Kind-Bindung und stillte ganz nach Bedarf des Babys. Doch irgendwas fühlte sich anders an als bei ihren ersten beiden Kindern. In einem Forum beschrieb sie es so:
»Es ist ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Ich habe eine starke Abneigung gegen Essen. Ich bin nicht traurig, aber ich fühle mich ›eklig und widerlich‹. Es ist ein Gefühl, das ich in der Vergangenheit anscheinend mit starken Sorgen und Schuldgefühlen in Verbindung gebracht habe, denn als ich dieses Gefühl zum ersten Mal verspürte, suchte ich ständig nach dem Grund für meine Schuldgefühle oder Sorgen. Es stellte sich heraus, dass da nichts war.«
Alia Heise ist medizinisch ausgebildete Stillberaterin. Doch es dauerte Wochen, bis sie diese Gefühlsänderungen mit dem Stillen in Verbindung brachte – genauer gesagt mit dem Milchspendereflex. Dieser Reflex wird ausgelöst durch das sogenannte »Kuschelhormon« Oxytocin: Fängt das Baby an, an der Brust zu saugen, stimuliert es die Haut an der Brustwarze und am Warzenhof. Ein Nerv sendet Signale an das Gehirn, wo Oxytocin freigesetzt wird. Über den Blutkreislauf dockt das Hormon dann an den Muskelfasern rund um die Milchgänge in der Brust an und bewirkt, dass sie sich zusammenziehen: Die Milch beginnt zu fließen.
Doch immer, wenn die Milch floss, suchten Alia Heise diese Gefühle heim, die sie nicht einordnen konnte. Heute sagt die US-Amerikanerin: »Ich hatte schweren Verzweiflungs-D-MER, der zweieinhalb Jahre anhielt. Das ist eine unangenehme Erfahrung.«
Als wären sie in einer Parallelwelt, aus der alle glücklichen Gefühle ausgesaugt wurden, so beschreiben einige Frauen das Phänomen: Alles sieht zwar gleich aus wie sonst, doch es fühlt sich ganz anders an.
D-MER steht für Dysphoric Milk Ejection Reflex, auf Deutsch: Dysphorischer Milchspendereflex. Dysphorie ist das Gegenteil von Euphorie und bezeichnet eine Störung des emotionalen Erlebens. Stillende Mütter mit D-MER erleben eine plötzliche Welle von Gefühlen wie Angst, Trauer, Verzweiflung oder sogar Wut. Sie beginnt, kurz bevor die Brust Milch abgibt – also beim Stillen oder auch spontan, etwa wenn die Mutter das Baby weinen hört – und kann bis zu zwei Minuten andauern. Anders als eine postnatale Depression ist D-MER keine psychische Erkrankung, sondern ein körperlich ausgelöstes Phänomen. Es ist ein Reflex, den die Mutter nicht beeinflussen kann.
2007 begann Alia Heise an dem Phänomen zu forschen, privat: Sie selbst war ihr eigenes Versuchskaninchen. Vier Jahre später veröffentlichte sie gemeinsam mit Diane Wiessinger, ebenfalls Stillberaterin und Autorin mehrerer Bücher über das Stillen, ein Paper im International Breastfeeding Journal mit dem Titel Dysphoric milk ejection reflex: A case report. Heise war die erste, die das Phänomen beschrieb. Und sie war es, die ihm einen Namen gab. Wenn sie von D-MER spricht, sagt sie trotzdem meistens »it« – es.
Es ist eine Unbekannte. Es gibt ein paar Studien dazu, ein paar Theorien, woher es kommt. Keine Anhaltspunkte, warum es bestimmte Frauen betrifft und andere nicht. Keine Lösung, wie man es wieder loswird. Und nur Ahnungen, wenn es um die Frage geht: Warum taucht dieses Phänomen erst jetzt auf?
Was wir wissen – und was nicht
Es ist mehr als 200 Jahre her, da begann ein Mann, Leichname zu stehlen. Zuerst waren es die toten Haustiere seines Nachbarn, später bezahlte er Menschen dafür, ihm Leichen zu bringen. Astley Cooper war damals angehender Chirurg und getrieben davon, Körper zu zerlegen. Unter anderem sezierte er Leichen von verstorbenen stillenden Müttern. Er untersuchte ein Organ, das in der Medizin wenig Beachtung fand und immer noch vernachlässigt wird: die weibliche Brust. Seine Erkenntnisse veröffentlichte Cooper in dem Buch On the Anatomy of the Breast, das über 150 Jahre lang die vollkommenste Untersuchung der laktierenden Brust blieb. Zu seinen Ehren wurden die Bindegewebszwischenräume in der Brust nach ihm benannt, sie heißen Coopersche Ligamente. Die Stillforscher:innen Melinda Boss und Peter Hartmann schreiben im Fachbuch Stillen und Muttermilch: »Seine anatomischen Präparate der laktierenden Brust werden bis zum heutigen Tag für Lehrbücher verwendet. Dies liegt unter anderem daran, dass Präparate nur schwer zu bekommen sind, denn stillende Frauen überlassen ihren Körper nur selten der Wissenschaft. Hinzu kommt, dass das wissenschaftliche Interesse an diesem faszinierenden Organ gering ist.«
»Die Brust ist aufgebaut wie ein blühender Holunderbaum – mit vielen Ästen, die sich immer weiter verzweigen in kleine Ästchen mit kleinen Blüten.« Michael Abou-Dakn
Um die Brust zu untersuchen, injizierte Cooper farbiges Wachs in die Brustwarze, entfernte dann das Brustgewebe und erhielt so ein Modell der Milchgänge. In seinem Buch sind Illustrationen davon zu sehen: Von oben sieht das Innenleben der Brust aus wie ein Vulkan, aus dem Lavaströme in verschiedenen Farben herabfließen und sich immer weiter verästeln.
Erst in den vergangenen Jahren wurde wieder mehr zur Laktation, also zur Milchbildung, geforscht, meist gefördert von der Babynahrungsindustrie. Der mittlerweile verstorbene Muttermilch- und Stillforscher Peter Hartmann und seine Nachfolgerin Donna Geddes von der University of Western Australia haben die Forschung zur Laktation stark vorangetrieben – unter anderem mit Ultraschalluntersuchungen, sagt Michael Abou-Dakn. Er ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof und Mitglied der Nationalen Stillkommission in Deutschland. Und ein Mann des Multitasking. Er kommt gerade aus dem Kreißsaal und sucht nach Infomaterial und Anatomiedarstellungen, während er Interviewfragen zum Stand der Stillforschung beantwortet.
Er sagt, entscheidend für die Milchproduktion seien kleine knospenähnliche Strukturen, die Acini: »Die Brust ist aufgebaut wie ein blühender Holunderbaum – mit vielen Ästen, die sich immer weiter verzweigen in kleine Ästchen mit kleinen Blüten.« Die kleinen Blüten – die Acini – sind in Wirklichkeit beerenförmige Endstücke von Drüsen, die verschiedene Sekrete bilden können. Es gibt sie an vielen Stellen im Körper: in der Nase, im Magen, in der Prostata und eben in der Brust.
Damit Milch gebildet wird in der Brust, müssen verschiedene Hormone zusammenspielen, allen voran Progesteron, Prolaktin und Oxytocin. Schon in der Schwangerschaft bereitet Progesteron die Brust auf das Stillen vor. Etwa in der Mitte der Schwangerschaft beginnt die erste Phase der Milchbildung – die sekretorische Differenzierung. Ab diesem Zeitpunkt kann die Brust Kolostrum und Milchbestandteile bilden. Kolostrum ist die erste Milch, auch Vormilch genannt, sie enthält viele Antikörper und Nährstoffe und ist dickflüssig und gelblich. Kolostrum ist die erste Nahrung des Babys und wird erst ein bis drei Tage nach der Geburt durch Muttermilch ersetzt. Dann beginnt die zweite Phase der Milchbildung: die sekretorische Aktivierung. »Die Milchbildung kommt erst dadurch zustande, wenn das Progesteron abfällt«, erklärt Michael Abou-Dakn. Sobald das Baby geboren ist, sinkt der Progesteronspiegel der Mutter ab, Prolaktin und Oxytocin steigen an. Während Prolaktin dafür sorgt, dass Milch gebildet wird, löst Oxytocin Kontraktionen der Muskeln rund um die Milchgänge aus – und damit den Milchspendereflex. Durch die Kontraktionen fließt Sekret aus den Acini in die verästelten Gänge der Brust und über den Milchgang zur Brustwarze.
Durch die Entdeckung der Rolle der Acini sind wichtige neue Forschungsfragen aufgekommen. Andere hingegen stehen schon länger im Raum. Etwa, »dass wir uns mit seelischen Veränderungen im Wochenbett immer noch nicht gut beschäftigen«, wie Michael Abou-Dakn sagt.
Auf die Frage, ob er vom Dysphorischen Milchspendereflex gehört habe, sagt Abou-Dakn: »Dysphorischer Milchspendereflex? Was ist das?« und fragt bei der Stillberaterin in der Klinik nach. Sie hat schon mal davon gehört, dass Frauen beim Stillen in Depressionsmomente verfallen.
Was es ist
2018 hörte Charlie Middleton das erste Mal von D-MER. Ihre Freundin hatte ein Baby bekommen und erzählte ihr von einem plötzlichen Gefühl von Heimweh, das sie immer dann überwältigte, wenn sie ihr Baby stillte. Damals dachte Middleton noch: »Das klingt wie eine postnatale Depression«. Doch ihre Freundin sagte: »Das ist D-MER.«
Middleton lehrt an der School of Health Sciences der University of Dundee in Schottland, ihre Fachgebiete sind Krankenpflege und die Gesundheit von Müttern und Kindern. Sie sagt: »Ich war überrascht, dass ich als jemand, der im Gesundheitswesen arbeitet, noch nie davon gehört hatte. Also fragte ich bei erfahreneren Kolleg:innen nach: Auch ihnen war der Begriff neu.«
2020 beschloss Middleton, für ihren PhD an der University of Dundee selbst daran zu forschen. Für ihre qualitative Studie hat sie mit 19 Frauen aus unterschiedlichen Teilen der Welt gesprochen, mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen und unterschiedlichen Alters. Nun will sie herausfinden, welche die größten Schwierigkeiten sind für Betroffene und wie sie damit umgehen – vor dem Hintergrund, dass nur sehr wenige Leute überhaupt von D-MER gehört haben.
Aus ihren Gesprächen hat sie gelernt: Die Erfahrungen und Gefühle von Frauen mit D-MER sind sehr ähnlich. »Sie alle sprechen über ein flaues Gefühl, eine Welle der Emotion, eine Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Das alles kommt sehr plötzlich und dauert nicht lange an. Und das verwirrt sie«, sagt Charlie Middleton. »Andere Frauen fühlen eine Wut und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie fühlen sich schrecklich, diese Gefühle zu haben, während sie stillen. Diese Frauen lieben es, Mutter zu sein, sie wollen stillen. Und trotzdem fühlen sie sich – wenn sie D-MER erleben – wie in einer anderen Welt.«
Als wären sie in einer Parallelwelt, aus der alle glücklichen Gefühle ausgesaugt wurden, so beschreiben einige Frauen das Phänomen: Alles sieht zwar gleich aus wie sonst, doch es fühlt sich ganz anders an. Viele Frauen sprechen nicht darüber, einige halten es sogar vor ihren Partnern geheim. Oder sie vertrauen sich ihren Hebammen an und hören: Das ist doch normal, du hast gerade ein Baby bekommen – das ist eine große Sache. Sich die Gefühle auszureden, hilft nicht. Also versuchen sie alles Mögliche, damit die Gefühle nachlassen: viel schlafen, ausreichend Bewegung, proteinreiche Nahrung, vielleicht Schokolade, im Internet suchen, was es sein könnte.
Middleton sagt: »Viele Frauen finden online über D-MER heraus und sprechen online darüber. Die Möglichkeit, um drei Uhr morgens – wenn du dieses schreckliche Gefühl hast – das Handy zu nehmen und zu googeln: ›Ich fühle mich traurig, wenn ich stille‹, das ist viel einfacher, als mit einem Arzt zu sprechen oder mit einer Hebamme.«
Und das hilft: zu wissen, was es ist. Ihm einen Namen zu geben. Zu wissen, es dauert eine Minute oder zwei und ist dann wieder vorbei. Middleton sagt: »Einige Frauen entscheiden sich dafür, mit dem Stillen aufzuhören oder etwa Milch abzupumpen und dann im Fläschchen an ihr Baby zu füttern. Doch die meisten meiner Interviewpartnerinnen haben es geschafft, weiterhin zu stillen. Viele bekommen sogar weitere Kinder, obwohl sie wissen, dass sie wahrscheinlich wieder D-MER erleben werden.«
Denn bei all den offenen Fragen, die D-MER aufwirft, scheint sicher: Ist man einmal davon betroffen, dann auch beim nächsten Kind. Außerdem scheint die Schwere der Symptome damit zusammenzuhängen, wie lange D-MER andauert: Leichtere Formen können nach wenigen Monaten verschwinden, während schwere Formen jahrelang anhalten können – so lange, bis die Frau mit dem Stillen aufhört.
Woher es kommt
»Wir kennen die Ursache von D-MER nicht. Es gibt zwei zentrale Theorien, aber bis direkte physiologische Forschung betrieben wird, sind sie bloß Spekulation«, sagt Charlie Middleton. Eine Theorie ist: Das Hormon Oxytocin löst im Körper der Mutter eine fight-or-flight-Reaktion aus, also eine Verteidigungs- oder Abwehrreaktion – möglicherweise als Überreaktion auf Stress oder ein früher erfahrenes Trauma. Was dagegen spricht: Es gibt viele Mütter, die kein Trauma erlebt haben.
Wie etwa Alia Heise. Von Forscher:innen, die nach der Ursache von D-MER suchten, hörte sie immer wieder Vermutungen über mögliche Auslöser für ihre negativen Gefühle. Doch nichts davon traf bei ihr zu.
Da war die Vermutung: »Du musst ein unterdrücktes sexuelles Trauma haben.«
Darauf Heise: »Wenn ich das gehabt hätte, dann hätte ich das ja auch bei meinen anderen beiden Kindern erlebt.«
Dann die Vermutung: »Vielleicht liegt es an einer Trennung von Mutter und Baby.«
Darauf Heise: »Nein, ich hatte eine Hausgeburt und war nie weg von meinem Baby.«
Die nächste Vermutung: »Liegt es an den Interventionen bei der Geburt?«
Darauf Heise: »Es gab keine Interventionen.«
Ihr wurde bald klar: »Es geht um Laktation und um den Milchspendereflex.« Und, so ihre Theorie, es geht um Dopamin. In ihrem Paper schreiben Alia Heise und Diane Wiessinger, dass ein überaus starker Abfall des Botenstoffs Dopamin ein Gefühl der Dysphorie auslösen könnte. Dopamin leitet Signale zwischen Nervenzellen weiter, steuert emotionale und motorische Reaktionen und wird häufig als Glücksbotenstoff bezeichnet, da wir dank ihm Glücksgefühle empfinden können. Außerdem hemmt Dopamin die Freisetzung von Prolaktin und umgekehrt: Dopamin und Prolaktin beeinflussen sich so ähnlich wie eine Wippe: Steigt das eine, sinkt das andere ab.
Heise und Wiessinger sind keine Wissenschaftlerinnen, sie arbeiten an keiner Universität oder medizinischen Einrichtung. Heise sagt: »Wir sind begrenzt in dem, was wir tun können.« Doch in den vergangenen Jahren hat Heise über 6.000 Müttern mit D-MER zugehört, als sie miteinander darüber sprachen, was hilft und was die Gefühle verschlechtert. Aus all diesen Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben und ist gerade dabei, ein zweites Paper zu veröffentlichen. Ein paar Erkenntnisse stammen auch aus Heises eigener Erfahrung. Immer wieder probierte sie an sich selbst aus, was ihren D-MER lindern könnte und schrieb es auf: Kaffee verschlechtert die Symptome, Schokoladeneis verbessert ihr Wohlbefinden.
Die Idee, dass ein plötzlicher Dopaminabfall D-MER auslösen könnte, kam Heise und Wiessinger wegen einer Erkältung. Alia Heise erzählt: »Eine der überraschendsten Entdeckungen machten wir, als ich einen Schnupfen hatte und Pseudoephedrin nahm. Dieses Medikament ist für stillende Frauen nicht empfohlen, weil es den Dopaminspiegel beeinflusst. Dieser wiederum wirkt sich auf den Prolaktinspiegel aus. Wenn Prolaktin sinkt, kann das die Milchmenge mindern. Aber ich hatte immer sehr viel Milch, also habe ich mir keine Sorgen gemacht. Ich nahm Pseudoephedrin und habe mich hingesetzt, um mein Baby zu stillen. Und zum ersten Mal hatte ich keinen D-MER.«
Vor Kurzem haben die beiden eine weitere Entdeckung gemacht, die ihre Theorie stützt. Heise sagt: »Wenn Mütter mit D-MER miteinander sprechen, ist das erste, das sie sich raten: kaltes Wasser trinken, wenn der Milchspendereflex einsetzt. Wir wollten herausfinden: Warum hilft das?«
In Studien aus der Sportmedizin fanden sie eine mögliche Erklärung: Sportmediziner:innen wollten die Dopaminspiegel von Athlet:innen erhöhen, um so deren Leistung zu verbessern. »Sie wussten, wenn sie die Prolaktinlevel senken, dann müsste der Dopaminspiegel steigen. Dazu nutzten sie Mundkühlung mit Eiswasser und Eisgel«, sagt Heise. Und tatsächlich: Die Leistung der Athlet:innen verbesserte sich. Wahrscheinlich hängt das mit einem Anstieg von Dopamin zusammen, sagt Heise. Und: »Was wir aus der Sportmedizin gelernt haben, können wir nun auf die Wissenschaft rund um die Laktation anwenden.«
Seit 2010 sind immer wieder Studien zu D-MER erschienen: Es geht um die Häufigkeit des Phänomens, um das Beschreiben der Symptome, um mögliche Ursachen. In einigen Studien heißt es: Weitere Forschung ist nötig. »Viele Wissenschaftler:innen hören Müttern nicht zu, sondern nutzen sie als Datenpunkte und publizieren Paper, die uns nichts Neues sagen«, so Alia Heise. Sie würden Symptome beschreiben, die die Mütter ohnehin kennen, und Ratschläge geben, die mehr in die psychologische Richtung gehen als in die physiologische: »Achte darauf, dass du Unterstützung bekommst.« »Achte darauf, dass du mit jemandem sprichst.«
Und vielleicht liegt auch hier ein Grund, warum D-MER erst vor knapp 20 Jahren aufgetaucht ist. Wenn Frauen über gesundheitliche Probleme sprechen, dann kommt schnell der Verdacht: Vielleicht ist die Ursache dafür psychisch, eine postnatale Depression etwa oder ein verdrängtes Trauma. Möglicherweise ist das ein Grund, warum viele Frauen lieber schweigen. Als Stillberaterin hat Alia Heise darum eine wichtige Sache gelernt: wirklich auf die Mutter zu hören.
Warum wir erst jetzt davon erfahren
Vor ein paar Monaten sprach Charlie Middleton mit einer Frau über D-MER, sie sagte: »Oh ja, ich hatte das auch mit meinen Kindern in den 1970ern.« Damals konnte sie sich nicht erklären, was es war, doch bis heute hat sie es nicht vergessen. Und nun, 50 Jahre später, hat sie eine Antwort. Middleton sagt: »Wenn es ein physiologisches Phänomen ist – was es zu sein scheint – dann könnten Frauen es schon immer erlebt haben, richtig? Warum also ist dieses Phänomen erst 2007 aufgetaucht? Ich habe einige Ideen, aber ich habe noch viel mehr Fragen.«
Ein Grund: Medizin ist Männersache. Erkrankungen von Männern werden eher erforscht, Medikamente vor allem an Männern getestet, in medizinischen Studien werden vor allem Männer untersucht – und die Ergebnisse dann einfach auf Frauen übertragen. Gesundheitsprobleme, die nur Frauen betreffen, darüber wissen Mediziner:innen häufig so wenig, dass es mehrere Jahre dauern kann, bis Frauen eine Diagnose bekommen. Oder sie bekommen direkt eine Fehldiagnose – entweder weil das Fachpersonal zu schnell zu einem voreiligen Schluss kommt oder weil die Fragebögen, die sie für eine Diagnose nutzen, zu breit angelegt sind, sagt Middleton. »Sie fragen zum Beispiel: ›Haben Sie sich depressiv gefühlt?‹ ›Haben Sie weniger Interesse als normalerweise an etwas?‹ Eine Person, die D-MER hat, könnte sagen: ›Ja.‹ Aber eigentlich fühlt sie das nur in dem Moment, in dem die Milch fließt. Denn normalerweise ist ihre Stimmung gut oder geht auf und ab wie bei allen Menschen. Und jemand, der depressiv ist, würde die Frage auch mit Ja beantworten.«
»Es ist frustrierend für Mütter, zu sehen, dass dies ein Zustand ist, den Forscher:innen seit mehr als 15 Jahren kennen und trotzdem kann einem niemand sagen, was man dagegen tun kann.« Alia Heise
Einen weiteren möglichen Grund nennt der Arzt Michael Abou-Dakn: »Es ist nicht leicht, Kausalitäten zu verstehen.« Wenn zwei Sachverhalte gemeinsam auftreten – so wie der Milchspendereflex und die negativen Gefühle – dann muss das noch nicht heißen, dass der Milchspendereflex die negativen Gefühle verursacht. Zumal die wenigsten Frauen den Stillbeginn als euphorisch erleben, sagt Abou-Dakn: »Es gibt lange schon die Beobachtung, dass einige Frauen den Milchspendereflex als sehr unangenehm empfinden. Ob tatsächlich ein eventueller Abfall der Glückshormone die Ursache dafür ist oder ob Schmerzen und Unsicherheit diese Empfindungen bedingen, muss noch erforscht werden.«
Und Alia Heise sagt: »Wissenschaftler:innen sollten ihren Fokus ändern und versuchen, den Müttern zu helfen. Ich weiß, das ist keine einfache Aufgabe. Doch es ist frustrierend für Mütter, zu sehen, dass dies ein Zustand ist, den Forscher:innen seit mehr als 15 Jahren kennen und trotzdem kann einem niemand sagen, was man dagegen tun kann. Das ist nicht fair. Viele Mütter versuchen auf eigene Faust herauszufinden, was ihnen helfen könnte, und sind ihre eigenen Versuchskaninchen. Das ist ermüdend. Dabei wollen diese Mütter eigentlich nur eines: sich besser fühlen.«
Dafür braucht es systematische, groß angelegte Forschung. Und vielleicht braucht es auch den Willen, richtig zuzuhören.
Erschienen am 19. Dezember 2024
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