Von der Brust zur Leinwand
Im Christentum zeichneten Künstler:innen das Bild der perfekten Mutter. Dazu gehörte auch, dass sie ihr Baby stillte. Abgesehen davon blieb das Stillen wenig sichtbar in der Kunst. Eine Reise durch die Kunstgeschichte der Muttermilch.
Muttermilch spritzte aus den Brüsten der Göttin Hera in den Himmel. Dort verwandelten sich die Tropfen zu Sternen, Sternenstaub, zu einer ganzen Galaxie, der Milchstraße. Noch heute trägt das Wort Galaxie diesen Mythos in sich: Gala ist griechisch und bedeutet Milch.
Nicht nur im Mythos lässt Muttermilch Welten und damit Leben entstehen. Muttermilch ist die erste Nahrung für uns Menschen und all die anderen unfertig geborenen Tiere – und sie definiert uns: Wir gehören zur Klasse der Mammalia, der Säugetiere. Trotz, beziehungsweise gerade wegen dieser zentralen Bedeutung, ist Muttermilch stark symbolisch aufgeladen. Sie gilt häufig als das beste, gesündeste und natürlichste Lebensmittel für Neugeborene. In modernen Gesellschaften ist sie allgegenwärtig und gleichzeitig unsichtbar. Ebenso in der männerdominierten Kunstgeschichte: Dort ist die stillende Mutter über viele Epochen und Länder hinweg ein Topos, in dem der Akt des Stillens direkt verknüpft ist mit mütterlicher Liebe und Fürsorge. In der Kunst ist Muttermilch also weniger Symbol für ein Lebensmittel, sondern steht vielmehr für die aufopfernde Mutter selbst. Erst zeitgenössische Künstlerinnen stellen dieses Bild in Frage und nutzen das Thema Stillen, um selbstbestimmt über Körper und Körperbild zu sprechen und auch die anstrengenden und tabuisierten Seiten des Stillens zu thematisieren. Wie genau hat sich das Bild der stillenden Mutter im Lauf der Zeit gewandelt? Eine kleine Reise durch die Kunstgeschichte der Muttermilch.
In den folgenden Werken treffen wir unterschiedliche Frauen, die alle einer bestimmten Tätigkeit nachgehen: Sie ernähren ein Kind mit ihrer Milch. Da ist eine Bronzestatuette aus dem frühen 12. Jahrhundert, sie zeigt Yashoda, Ziehmutter des Gottes Krishna, wie sie ihm die Brust gibt. Und da ist eine stillende Gottesmutter Maria. Im Christentum verbreitete sich diese Darstellung stark und bekam ihre eigene Genrebezeichnung: Maria lactans. Sie ist die Verkörperung der christlichen mütterlichen Fürsorge, Liebe und Aufopferung. Es hängt auch mit diesem überlieferten Bild der milde dreinblickenden Stillenden zusammen, dass die emotionale und körperliche Belastung der Stillenden lange unsichtbar blieb.
Durch die gewaltvolle Kolonialgeschichte verbreitete sich das Christentum über die Erde. Damit trat auch die Darstellung der stillenden Maria ihre Reise über den Globus an. Wenn die Maria lactans auch schwerlich zur feministischen Ikone reicht, so ist sie doch eine seltene kanonisierte Darstellung einer stillenden Frau. Darum kommt ihr eine besondere Bedeutung im bildlichen Gedächtnis zu.
Ein Blick in die lange Tradition der chinesischen Kunstgeschichte etwa zeigt, dass es hier so gut wie keine Darstellung des Stillens gibt. Zwar gibt es zahlreiche Bilder von Hausarbeit und von spielenden Kindern, aber selten zeigen die Werke mütterliche Zuneigung oder direkte Interaktion zwischen Mutter und Kind. Bilder, in denen die familiäre Beziehung im Mittelpunkt steht, sind rar. Im patriarchalen Konfuzianismus unterstand die Mutter dem Vater in der Familienhierarchie und Kinder sollten für ihre Eltern sorgen und ihnen gehorchen.
In der westlichen Kunstgeschichte lässt sich in den vormodernen Bildern von stillenden Müttern stets ein Fokus auf dem Mutter-Kind-Paar erkennen: Die Bindung zwischen Mutter und Kind steht im Vordergrund. Die meist männlichen Künstler sahen die Mutter-Kind-Beziehung von außen und diese auf die Außenwahrnehmung reduzierten Darstellungen der Frau als Mutter prägten das gesellschaftliche Bild. Sie engten Frauen in einer Rolle ein und boten sehr lange frauenfeindliche Projektionsflächen.
Ein Beispiel, in dem die Milch gebende weibliche Brust als Sinnbild der Fruchtbarkeit ausformuliert wurde, sind die »Milchbrunnen«, die in einigen europäischen Städten stehen. Es sind weibliche Figuren, denen das Wasser aus den Brüsten quillt. Im Garten der Villa Este in Tivoli bei Rom etwa thront der monumentale Brunnen der Diana von Ephesos, der die Göttin mit zahlreichen Brüsten zeigt. Trotz dieser starken und eigensinnigen Formensprache sind diese Frauenfiguren eher Stein und Wasser gewordenes Sinnbild der Schaffenskraft und Fruchtbarkeit als selbstbestimmtes Abbild einer Frau.
Die amerikanische Künstlerin Kara Walker hat in ihrer Skulptur Fons Americanus (2019) das Motiv der Milchbrunnen aufgenommen und neu besetzt. Der ganz in weiß gehaltene Brunnen zeigt einen komplexen und vielfigurigen Bildzyklus, der sich verschiedenen Aspekten der Kolonialgeschichte und des Sklavenhandels widmet. Auf der höchsten Spitze des Brunnens thront eine Venus, die Tochter des Wassers. Aus ihren unbedeckten Brüsten spritzt das Wasser in hohen Bögen hinunter auf die anderen Figuren. Kara Walker setzt so das Bild der fruchtbaren Mutterfigur in Verbindung zu kolonialer und patriarchaler Unterdrückung von Schwarzen Frauen.
Schon dieses Werk zeigt: In der Kunstgeschichte vollzog sich ein bildlicher und symbolischer Umschwung. Er wird vor allem dort deutlich, wo sich der Fokus verschiebt: von der Funktion der Milch als Nahrung für das Kind hin zur Frau als Person, als autonomes und handelndes Subjekt. Hier bricht das Bild der unumstößlichen, Liebe gebenden und willenlosen Mutter auf. Besonders deutlich wird diese Neuausrichtung in der zeitgenössischen Kunst. So zeigen Künstlerinnen heute etwa, wie viel Zeit hinter unbezahlter Care-Arbeit steckt und machen sichtbar, worüber vorher kaum jemand sprach.
In der westlichen Kunst widmeten sich spätestens seit den 1960er-Jahren Künstler:innen allen möglichen ausgefallenen Materialen, um zu experimentieren, zu provozieren, und die Grenzen des Möglichen und Darstellungswürdigen zu verschieben und auszuloten. Monika Wagners Band Das Material der Kunst legt dazu umfassend Kenntnis ab. Was in ihrer Auflistung von A wie Abfall bis Z wie Zement fehlt, ist die Muttermilch, menschliche Milch. Unter K findet sich Körper und darunter nicht weiter differenzierte Körperausscheidungen und Körperflüssigkeiten. Im Text finden sich Kunstwerke, die in ihrer Textur an Exkremente erinnern oder anderweitig mit Toilette und Stuhlgang assoziiert werden. Menschliche Milch ist eine Fehlstelle.
Wer nach Kunstwerken sucht, in denen Muttermilch verwendet wird, findet wenige Beispiele. Das hat zweierlei Gründe: Zum einen ist das Stillen als Teil der verstärkt geführten Debatten um unbezahlte Care-Arbeit erst kürzlich in den Fokus von Künstlerinnen geraten. Zum anderen ist menschliche Milch mit starken Gefühlen verbunden: Ekel, Scheu, Schmerz. Das lässt sich sowohl in Besucher:innenreaktionen ablesen, als auch ganz konkret in den Bestimmungen, die das Konsumieren und Verarbeiten von (fremder) Muttermilch in Deutschland wie auch in anderen Ländern sanktionieren. So ist es in Deutschland beispielsweise nur unter strikten Voraussetzungen erlaubt, Muttermilch zu spenden, und die sogenannten Muttermilchbanken sind nur einem sehr speziellen Kreis von Patientinnen zugänglich.
Als Jess Dobkin zu ihrer Performance Lactation Station (2006/2012/2016) einlud, war das Event skandalös. Dobkin saß hinter einer Bar und bereitete aus ihrer eigenen Milch Getränke zu. Auch lud sie andere Frauen ein, ihre Milch zur Verköstigung an der Bar zur Verfügung zu stellen. Ist menschliche Milch nur für das Ernähren von Säuglingen oder gar nur dem eigenen Baby gestattet? Die deutsche Künstlerin Clara Alisch verzichtete in ihrer Arbeit Lactoland (2021) darauf, tatsächlich menschliche Milch in ihre Bonbons zu mischen, um sich rechtlich abzusichern. Zu einem kleinen Skandal kam es dennoch, als das Gerücht die Runde machte, es sei eben doch echte menschliche Milch in den Bonbons enthalten.
In den sozialen Medien gibt es nicht viele Feeds mit Kunstwerken rund ums Stillen. Doch wer auf Instagram nach @breastfeedingart sucht, findet im Dezember 2024 2.565 Beiträge plus zahllose Stories und Reels. Die gesammelten Bilder reichen von historischen Gemälden, über Fotografie, Comicstrips, zeitgenössischer Performance, bis hin zu weniger professionellen Zeichnungen und Dokumenten verschiedener Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern. Das gefällt 65.800 Follower:innen. Beim Scrollen zeigt sich, dass es immer schon Kunst über das Stillen gegeben hat, dass diese jedoch wenig sichtbar blieb. Nun aber ändert sich das endlich.
Kunstwerke
1. Unbekannter Künstler: Yashoda und Krishna (frühes 12. Jh.)
Im traditionellen indischen Hinduismus gibt es kaum Bilder des Stillens. Eine der wenigen Darstellungen ist eine seltene Bronzefigur aus dem frühen 12. Jahrhundert: Der Gott Krishna sitzt auf dem Schoß seiner Pflegemutter Yashoda. Yashodas Brüste sind unbekleidet, das Kind trinkt an ihrer linken Brust und greift mit der einen Hand nach der anderen Brustwarze. Diese kleine Geste des Kindes macht die Figur zu einem lebhaften und auf intime Weise realem Bild. Zugleich bringt die Geschichte von Yashoda und Krishna einen Aspekt ein, der lange Zeit in der menschlichen Historie eine Rolle spielte, wenn es ums Stillen und die Pflege von Kindern ging: So war es zu vielen Zeiten und in verschiedenen Kulturen durchaus üblich, das Stillen der Kinder einer Amme zu überantworten.
2. Artemisia Gentileschi: Madonna mit Kind (1609-1610)
Die stillende Maria mit dem Jesuskind an der Brust oder auf dem Schoß ist in der visuellen Geschichte des Westens die geläufigste und darüber hinaus die einzige kanonisierte Darstellung des Stillens.
Artemisia Gentileschi, eine Malerin des italienischen Barocks, schuf das Gemälde Madonna mit Kind in Öl auf Leinwand. Maria sitzt auf einem Stuhl, der blaue Mantel ist ihr von den Schultern gerutscht, ihr rotes Kleid bauscht sich zu ihren Füßen, die nackt aus den roten Falten hervorschauen. Es ist der Moment gezeigt, kurz bevor das Kind trinken wird. Das Jesuskind sitzt auf ihrem Schoß und blickt zur nackten Brust vor ihm. Maria hat ihre linke Brust entblößt und nur wenige Zentimeter trennen den Mund des Kindes von der Brustwarze. Die Szene ist in warmes Licht getaucht und strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Gentileschis Version der Maria lactans ist trotz des üblichen Sujets eine Besonderheit, wie auch in ihren anderen Werken hat die Malerin ihren Frauengestalten Würde, Kraft und Selbstbestimmtheit eingeschrieben, die auch die stillende Maria ausstrahlt.
Die prominente Darstellung der Maria lactans ist für viele Frauen heute ein zweischneidiges Schwert: Zum einen ist es erfreulich, dass der kunsthistorische Kanon überhaupt eine stillende Frau zeigt. Zum anderen ist es gerade dieses einseitige, durchweg positive und mit einem stark gender-normativen Bild der stillenden Mutter verknüpfte Stereotyp, das viele Künstlerinnen heute hinterfragen und mit Gegenentwürfen destabilisieren.
3. Kitagawa Utamaro: Woman Nursing an Infant (1753-1806)
Ukiyo-e-Farbholzschnitte (japanisch: 浮世絵) sind berühmt für detailreiche Szenen aus dem Alltagsleben: Ein Straßenfest, eine Marktszene, Opernschauspieler:innen, Teehausszenen – jede Facette des Lebens war es wert, abgebildet zu werden. Die Verbreitung der kostengünstigen Drucke war hoch und das Ansehen der Künstler ebenso. In ihren Werken zeigen sie auch das häusliche Leben und es finden sich zahlreiche Beispiele von stillenden Frauen. Nicht in jedem Fall ist es die leibliche Mutter, die stillt, da es in Japan, wie auch in China und Europa für die wohlhabenderen Gesellschaftsschichten üblich war, die Kinder in die Obhut von Ammen zu geben. Dieser Holzschnitt von Kitagawa Utamaro zeigt eine auf dem Boden kniende Frau, die ein Kind auf ihrem Schoß hält und ihm die Brust gibt.
Heute ist es in der japanischen Gesellschaft üblich zu stillen. Doch in Japan sowie in vielen anderen Ländern stehen Frauen unter Druck: Mutterschutzzeiten sind kurz, es gibt kaum Infrastrukturen für ungestörtes Abpumpen und Frauen sollen so schnell wie möglich wieder zur Arbeit zurückkehren.
4. Jiang Yan: kaokao mama (1953)
Eine seltene Darstellung einer stillenden Frau ist das Poster »Ich teste meine Mutter« der Künstlerin Jiang Yan aus dem Jahr 1953. Im Original heißt das Werk: 考考妈妈 kaokao mama. Das Poster ist Teil einer der zahlreichen Kampagnen gegen den in der Bevölkerung weit verbreiteten Analphabetismus. Kinder, die in der Schule das Schreiben und Lesen lernten, sollten das Erlernte dann zuhause ihren Eltern beibringen. Hier auf diesem Bild ist eine etwa neunjährige Tochter dabei, ihre Mutter abzufragen. Das ländliche Interieur ist sparsam eingerichtet und soll so für viele Menschen Identifikationsmöglichkeiten schaffen. Die Mutter sitzt auf einem erhöhten Tagesbett, den Pinsel in der Hand, das Papier vor sich. Wie nebenbei stillt sie ein Baby, ganz natürlich, als sei es gar nicht der Rede wert: Doch in der chinesischen Kunstgeschichte ist diese Darstellung eine absolute Ausnahme, als hätte die Künstlerin das Stillen in das Bild geschmuggelt, unter dem Deckmantel der Anti-Analphabetismus-Kampagne.
5. Louise Bourgeois: The Good Mother (2003)
Mutterschaft ist ein großes Thema in dem vielschichtigen Werk von Louise Bourgeois. Sie thematisiert sowohl das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter als auch ihre eigene Mutterschaft in Bildern und textilen Skulpturen.
Wir sehen uns eine kleine textile Figur an, die den Titel The Good Mother trägt. Sie zeigt eine kniende, unbekleidete Frau, den Kopf hat sie leicht zur Seite geneigt, mit leeren Augenhöhlen schaut sie schräg nach unten. Ebenso fehlen der Figur die Arme. Aus den beiden nackten Brüsten ziehen sich weiße Fäden, die zu fünf Spindeln laufen. Diese Fäden sind Symbol dafür, etwas Neues zu erschaffen, etwas zusammenzubinden, zu reparieren. Gleichzeitig sind sie ordentlich und maschinell aufgerollt auf den Spindeln, bereit für eine große Produktion, und verweisen so auf die nie endende Arbeit der Pflege von Familie und Kindern.
Die Frau und Mutter wird hier in ihrer unauflöslichen Mehrdeutigkeit gezeigt: die Gebende, die Nährende, diejenige, die in Gesellschaft und Familie die Arbeit leistet. Die fehlenden Arme verweisen darauf, dass sie handlungsunfähig ist, ohne Bewegungsfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit.
6. Cao Yu: Fountain (2015)
Weiße Milch spritzt mit voller Kraft aus den Brüsten der Künstlerin. Die Milch leuchtet hell vor dem schwarzen Hintergrund, die Hände pressen die Milch aus den Brüsten, so lange, bis die Fontänen versiegen. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes drehte die chinesische Künstlerin Cao Yu das Video Fountain und zeigte es als Teil ihrer Abschlussausstellung an der renommierten Central Academy of Fine Arts in Peking. Es wurde zum Skandal: Es sei pornografisch, hieß es, und sollte aus der Ausstellung verbannt werden. Das Werk durfte bleiben und Cao Yu hat damit ein ikonisches Bild geschaffen, das für Selbstbestimmung, für Schaffenskraft und Mut steht. Es ist eines der wenigen Kunstwerke, das tatsächlich Muttermilch als Material verwendet und sichtbar macht.
7. Cao Yu: Artist Manufacturing (2015)
Die Auseinandersetzung mit Mutterschaft und dem Körper, der das Kind »gemacht« hat, war für Cao Yu mit ihrem Werk Fountain noch nicht vorbei. Im gleichen Jahr schuf sie mit Artist Manufacturing ein weiteres Werk, das Muttermilch als Material nutzt. Diesmal verwendete Cao Yu 18 Liter ihrer eigenen Milch und knetete diese so lange, bis ein Teig entstand. Daraus formte sie weiche, handgroße Objekte, die die deutlichen Spuren ihrer Finger und Hände tragen: Der Körper ist der verhärteten Körperflüssigkeit eingeschrieben. Mit dem Titel Artist Manufacturing regt die Künstlerin zum Nachdenken über Arbeit, Produkt und auf ausschließlich Output-orientierte Schaffensprozesse an.
8. Clara Alisch: Lactoland (2021)
Wie schmeckt ein Bonbon aus menschlicher Milch? Clara Alisch lädt in ihrer mehrteiligen Arbeit Lactoland dazu ein, den Geschmack, zumindest theoretisch, kennenzulernen. Und dabei über Wert und Wertigkeit dieser als »umsonst und immer verfügbaren« Substanz nachzudenken. Im Video ist eine Frau zu sehen, die Milch mit einer elektrischen Pumpe abpumpt. Das Rohmaterial, die abgepumpte Milch, verarbeitet sie dann – so scheint es – zu einer geschmeidigen goldenen Creme. Daraus wiederum formt sie Bonbons. In der Ausstellung können sich Besucher:innen auf Stillkissen zurücklehnen, ein Bonbon nehmen und den Produktionsprozess dieser besonderen Süßigkeit mitverfolgen.
Der Tabubruch in Lactoland findet dort statt, wo die Künstlerin menschliche Milch aus ihrem »reinen« Naturzustand der Säuglingsnahrung herauslöst und in die Form eines produzier- und konsumierbaren Produktes überführt.
9. Jenna Sutela: Stellar Nursery (2022)
Die finnische Künstlerin Jenna Sutela ist besonders an der wissenschaftlichen und weitestgehend noch unerforschten Seite von menschlicher Milch interessiert und widmete ihr eine ganze Ausstellung: Stellar Nursery. Mitten im Raum stand eine hohe weiße Glassäule, das Werk HMO Fountain, in der künstliche Milch waberte. Im Video Milky Ways spannte Sutela den Bogen von der mythologischen Entstehung der Milchstraße hin zu den Mikroorganismen, die sich in der menschlichen Milch befinden. Das Video verfolgt die Reise der Muttermilch durch den menschlichen Verdauungstrakt. Für diese Arbeit hat die Künstlerin mit Wissenschaftler:innen am Center for Basic Metabolic Research der Universität Kopenhagen zusammengearbeitet. Und sie verwendete unter anderem den sogenannten Simulator of Human Internal Microbial Ecosystem (SHIME), der das menschliche Verdauungssystem nachbildet.
10. Ani Liu: Ecologies of Care (2022)
Allein das Geräusch einer Milchpumpe soll bei vielen Frauen, die stillen und abpumpen, bereits den Milchfluss anregen. Die Pumpe symbolisiert einen Zwiespalt, in dem sich viele Mütter heute befinden: Zum einen ermöglicht sie den schnellen Wiedereintritt ins Berufsleben, zum anderen kann sie ihn auch erzwingen, da ja »die absolute Notwendigkeit« der Anwesenheit des Körpers der Mutter für das Baby nicht mehr gegeben ist.
Die Künstlerin Ani Liu geht von ihrer eigenen Erfahrung als Mutter aus. In ihrer Ausstellung Ecologies of Care verbildlicht sie die in patriarchalen Gesellschaften entwertete und unsichtbar gemachte Care-Arbeit, die das Stillen und das Sich-Kümmern um ein Neugeborenes mit sich bringen. In Untitled (Feeding through Space and Time) zirkulieren 22,14 Liter künstliche Milch durch Schläuche auf dem Boden des Ausstellungsraumes. Genau so viel Milch, wie der Körper der Künstlerin durchschnittlich in einem Monat produzierte. Das Geräusch der angeschlossenen Pumpe, die die Flüssigkeit in Bewegung hält, kehrt in rhythmischen Intervallen wieder. Auf einem Podest steht eine weitere Pumpe mit angeschlossenem Schlauch, das Werk heißt Untitled (Pumping). Hier zirkuliert die Menge an Milch, die die Künstlerin in einer Woche während ihrer Arbeitszeit, also in der Zeit ohne Baby, abpumpte.
Labor of Love ist eine Installation, die die Zeit, die mit Care-Arbeit verbracht wird, visualisiert. Dabei ist die Darstellungsform vollkommen klinisch, sauber und durchschaubar, im wahrsten Sinne des Wortes. Jeder Hohlraum ist gefüllt mit einem Stückchen Windel, einer Probe Milch, etc. Und es zeigt sich, dass neben dem Stillen und Umsorgen des Babys nicht viel Zeit für anderes bleibt.
Erschienen am 19. Dezember 2024
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