Der Preis der Muttermilch
Am Center for Economics of Breastfeeding erforschen Wirtschaftswissenschaftler:innen das Stillen. Sie untersuchen, wie gut Stillen wirtschaftlich gesehen ist – für das Baby, die Eltern, ja sogar die Gesellschaft.
Ein Labor, weiß und steril. So stellen sich die meisten von uns wohl ein Zentrum vor, das die Muttermilch und das Stillen erforscht. Mit Forscher:innen in langen Kitteln, die mit Pipetten und Mikroskopen danach suchen, was für unsere Babys das Beste ist.
Doch nichts von alledem gibt es an der Schönberggasse 1 in Zürich. Kein Labor, nur Büros. Denn hier wird die Muttermilch nicht in ihre Inhaltsstoffe auseinandergenommen, sondern in Kosten und Nutzen. Das emotionale Thema Stillen beschrieben mit Begriffen aus der effizienten Wirtschaft – kein Widerspruch, findet Anne Ardila Brenøe.
Brenøe trägt keinen weißen Kittel. Sie ist weder Medizinerin noch Biologin. Sie ist promovierte Ökonomin, Wirtschaftswissenschaftlerin. Seit 2018 ist sie Assistenzprofessorin am Departement für Wirtschaftswissenschaften der Universität Zürich und Forschungsleiterin des Larsson-Rosenquist Foundation Center for Economics of Breastfeeding, LRF CEB – dem Zentrum der Wirtschaftlichkeit des Stillens.
»Natürlich ist die Ernährung im Babyalter eine Schlüsselinvestition im frühen Leben.« Anne Ardila Brenøe
»Wir erforschen, welche Effekte das Stillen auf die Entwicklung des Kindes hat«, sagt Anne Ardila Brenøe auf Englisch mit dänischem Akzent: »Aber nicht nur auf die gesundheitliche Entwicklung. Man weiß, dass das Umfeld, die Beziehungen, die Lebensbedingungen eines Säuglings großen Einfluss darauf haben, wie es dem Menschen im späteren Leben ergeht; wie viel Geld er verdient, ob er körperlich gesund und psychisch stabil ist. Und natürlich ist die Ernährung im Babyalter eine Schlüsselinvestition im frühen Leben.«
Es sind Begriffe wie diese, die die Ökonomin von einer Medizinerin unterscheiden: »key early life investment«, »the accumulation of human capital« – die Anhäufung von Humankapital – und »cost and benefit« – Kosten und Nutzen. Wie passen diese Begriffe zum Stillen, zur Muttermilch, zur Mutterschaft?
Mit ihren Kolleginnen und Kollegen erforscht Anne Ardila Brenøe das Stillen in einem größeren Kontext, wie sie sagt, ihre Vision ist, »ein ganzheitliches Verständnis der Entscheidungsfindung, der Marktkräfte und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses des Stillens aufzubauen« – so steht es auf der Webseite des Zentrums. Brenøe und ihr Team wollen Eltern mehr Wissen zur Verfügung stellen, damit sie für ihr Kind und für ihr Umfeld die beste Entscheidung über das Stillen fällen können. Und sie wollen Fakten für die Entscheidungsträger:innen in der Politik schaffen.
Mit Forschungsfragen wie etwa:
- Wer entscheidet sich für das Stillen? Wer entscheidet sich dagegen? Und was sind die Gründe?
- Welche Macht hat die Babynahrungsindustrie? Und wie unterscheidet sie sich in den verschiedenen Regionen der Welt?
- Verunmöglicht eine stillende Mutter dem Vater, einen engen Kontakt zum Kind aufzubauen? Hat der weniger enge Vater-Kind-Kontakt zur Folge, dass er das Kind in der weiteren Entwicklung weniger unterstützt?
- Lohnt es sich für eine Arbeitgeberin, in Still- und Abpumpräume zu investieren, damit die Mutter früher aus der Mutterschaft zurückkehrt?
- Welche Auswirkungen hat es für die schulische und finanzielle Zukunft des Kindes, ob die Mutter stillt oder nicht?
Im Moment betreut Brenøes Forschungszentrum unter anderem eine Studie in China mit 3.000 Elternpaaren. Dabei untersuchen die Forscher:innen, wie stark sich die Väter im frühen Säuglingsalter am Leben des Kindes beteiligen. Und wie diese Beteiligung die Art der Ernährung und die Entwicklung des Kindes beeinflusst.
Wer sich nun vom Muttermilch-Zentrum in Zürich eine schwarz-weiße Kosten-Nutzen-Antwort auf die Frage »Stillen oder nicht?« erhofft, wird allerdings enttäuscht. Nicht nur, weil alle Eltern in unterschiedlichen Situationen stecken. Auch weil die Forschung noch am Anfang steht.
»Uns überrascht immer wieder, wie wenig wir über das Stillen wissen«, sagt Anne Ardila Brenøe. »Alles, was wir aus wissenschaftlicher Sicht sagen können, basiert auf einer schwachen Faktenlage. Es basiert auf Theorie und Intuition, auf Korrelationsstudien, die wenig über die Kausalität aussagen. Und ein Grund dafür ist, dass Ökonom:innen wie wir bisher kaum in die Forschung involviert waren.«
Bisher wurde in der Forschung wenig Fokus auf die Kosten des Stillens gelegt, sondern fast ausschließlich auf den Nutzen, genauer gesagt auf den gesundheitlichen Nutzen für das Kind. Für die meisten Menschen gilt: »Breast is best« – Muttermilch ist für Kinder das Beste. Was das Stillen aber für die Beziehung zwischen Mutter und Vater bedeutet, welchem Druck Mütter häufig ausgesetzt sind, weil sie das Gefühl haben, stillen zu müssen, darüber machen sich Brenøe und ihre Kolleg:innen Gedanken. Zum einen mit einem langfristigen Blick in die Zukunft. Zum anderen, indem sie alle involvierten Personen einbeziehen – die Mutter, den Vater, die Geschwister, das Kind im Erwachsenenalter, die Familie, die Beziehungen innerhalb der Familie und die ganze Gesellschaft.
»Die Mütter müssen nichts bezahlen, wenn sie eine Viertelstunde lang stillen – aber sie werden dafür auch nicht bezahlt.« Anne Ardila Brenøe
Während die Weltgesundheitsorganisation WHO Müttern empfiehlt, ihre Kinder in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen, hütet sich die Ökonomin Anne Ardila Brenøe vor allgemeinen Ratschlägen. Das Feld, das am Zentrum der Wirtschaftlichkeit des Stillens der Universität Zürich erforscht wird, ist eines mit vielen »ifs and buts« – wenns und abers. Wenn eine Mutter stillt, kann es sein, dass sie dem Vater die Nähe zum Kind nimmt. Wenn eine Mutter nicht stillen kann, kann das eine emotionale Belastung für die ganze Familie sein. Stillt eine Mutter während der Arbeit, muss ihre Firma in einen geeigneten Raum investieren. Gestaltet sie diesen Stillraum schön, hat sie vielleicht bessere Mitarbeiterinnen.
Kosten und Nutzen zeigen sich also – und das heben Brenøe und ihr Team hervor – auch anders als mit einem Betrag, der auf einem Preisschild steht. Eine gute Beziehung zwischen der Mutter und dem Vater kann von emotionalem Nutzen sein für das Kind. Eine schlechte Bindung des Vaters zum Kind kann schaden, also auf der Kosten-Seite der Kosten-Nutzen-Analyse stehen, weil er später vielleicht weniger bei den Hausaufgaben hilft. Ein längerer Mutterschutz kann gut sein für die Gesundheit des Kindes, aber schlecht für das Arbeitsklima. Auch bei Ökonom:innen dreht sich nicht alles ums Geld.
»Täglich entscheiden sich weltweit Millionen Menschen für oder gegen das Stillen. Und interessant daran ist: Die Entscheidung zum Stillen hat normalerweise keinen expliziten Preis«, sagt Anne Ardila Brenøe. »Die Mütter müssen nichts bezahlen, wenn sie eine Viertelstunde lang stillen – aber sie werden dafür auch nicht bezahlt.« Die Marktwirtschaft kommt ins Spiel, wenn es um Milchpumpen oder Säuglingsnahrung geht – und mit ihr all ihre Akteure, die Preiskonkurrenz, das Marketing. In afrikanischen Ländern ist es beispielsweise ein Zeichen des Wohlstandes, nicht zu stillen. Dort haben die Hersteller von Babynahrung viel mehr Macht als hier. Aber wie beeinflusst das die Entwicklung der Kinder?
All diese offenen Fragen meint die Ökonomin Anne Ardila Brenøe, wenn sie von der Ernährung im Babyalter als Schlüsselinvestition im frühen Leben spricht, dem Stillen als »key early life investment«. Und obwohl die Muttermilch das natürlichste Lebensmittel der Welt ist, wissen wir noch sehr wenig darüber.
Erschienen am 19. Dezember 2024
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